Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Wochenend-Festival 7.–10. November 2019
 
Zürich, Opernhaus, Studiobühne – 08.11.2019

Helmut Lachenmann – Gesprächskonzert

Ensemble Opera Nova
Hans-Peter Achberger
Leitung
Helmut Lachenmann Klavier
Lev Sivkov Violoncello
Yuko Kakuta Sopran
Yukiko Sugawara Klavier

Claus Spahn Gesprächsleitung

ANTON WEBERN/JOHANN SEBASTIAN BACH „Ricercar a 6“ aus dem „Musikalischen Opfer“ BWV 1079
HELMUT LACHENMANN „Kinderspiel“ für Klavier
LUIGI NONO „Polifonica – Monodia – Ritmica“
HELMUT LACHENMANN „Pression“ für einen Cellisten

ANTON WEBERN Fünf Stücke für Orchester Op. 10
HELMUT LACHENMANN „Got Lost“ für Sopran und Klavier
ANTON WEBERN Fünf Stücke für Orchester Op. 10

Hinter mir liegt ein Samstag voller Musik, doch los ging es schon am Freitagabend, 19 Uhr. Dann war ein Gesprächskonzert mit Helmut Lachenmann angesagt, dessen „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ hier gerade mit grossem Erfolg aufgeführt wird (ich schrieb hier schon ein paar Zeilen). Das Konzert begann früh, es gab eine Pause, geplant war das Ende für 21:15, doch es wurde fast 22 Uhr – ohne dass mir dabei je die Zeit lang geworden wäre, im Gegenteil: gerne hätte ich Lachenmann länger zugehört und auch mehr Musik gehört! Ich ergatterte dabei eher zufällig einen Platz in der ersten Reihe direkt vor den zwei Stühlen, auf die Lachenmann und sein Gesprächspartner Claus Spahn (Chefdramaturg am Opernhaus) sich für ihr Gespräch jeweils setzten.

Los ging es mit dem Ensemble Opera Nova – es besteht aus MusikerInnen des Orchesters des Opernhauses, das sich seit einigen Jahren Philharmonia Zürich nennt – unter der Leitung von Hans-Peter Achberger (er ist auch Schlagzeuger des Orchesters) und Weberns Zerlegung von Bachs Ricercar a 6 aus dem Musikalischen Opfer. Das ist ein Stück, in dem Lachenmanns Unterscheidung zwischen „hinhören“ und „zuhören“ virulent wird, denn wie Webern damit umspringt, wird die Materialität des Werks hörbar, die Instrumente in ihren Kombinationen, das Material, aus dem das Werk erst konkret entsteht. Ein faszinierender und sehr stimmiger Auftakt.

Nach einem ersten Gesprächsblock setzte Lachenmann sich selbst an den Flügel und spielte sein „Kinderspiel“, sieben Stücke, die teils auf vertrautem Material beruhen, vor allem aber die Arbeit fortsetzen, die Webern begann: das „philharmonische“ Instrument wird dabei in ein Gerät verwandelt (er erwähnte in diesem Kontext, auch in Bezug auf „Pression“ noch einmal, Morton Feldmans „The Viola in My Life“, das ich leider noch immer nicht kenne). Es wird quasi nicht ein Werk auf dem Klavier gespielt sondern Klavier auf dem Werk. Dabei wird das Möbel abgeklopft, es wird gewissermassen untersucht auf seine klanglichen Möglichkeiten hin. Ich glaube es ist das fünfte Stück mit dem Titel „Filterschaukel“, in dem dabei Cluster so intensiv gehämmert werden, bis sich Klänge einzustellen beginnen, die gar nicht gespielt werden – sondern aus den Schwingungen, den Obertönen usw. erst entstehen. Es gibt „Hänschen klein“, es gibt aber auch einen Tarantella-Rhythmus – Versatzstücke, Trümmer, die zu etwas Neuem werden (und dabei das Prinzip von Weberns Bach-Bearbeitung fortsetzen – der Abend war wirklich enorm stimmig programmiert).

Als nächstes folgte dann Nonos Klassiker, einst von Hermann Scherchen uraufgeführt, der damals in Winterthur tätig war – und der das Werk seines Schülers kürzte (was er auch in anderen ähnlichen gelagerten Fällen tat). Wie es scheint wird dabei bis heute meist diese gekürzte Fassung gespielt, doch für einmal erklang hier die komplette – und ich wunderte mich, wie man da auf die Idee kommen konnte, etwas wegzustreichen. Ein faszinierendes Stück, das natürlich im Gespräch das Feld öffnete, was Lachenmanns Beziehung zu seinem Lehrer anbelangte, eben Nono. Diesen beschreibt Lachenmann als einen Desperado, einer, der eigentlich gar kein Musiker war, der darum von Boulez und anderen auch geringgeschätzt wurde. Doch der Respekt – der dann nach ein paar Jahren der Funkstille auch ein gegenseitiger auf Augenhöhe wurde – ist Lachenmann anzumerken. Er selbst musste, im Gegensatz zum „Dilettanten“ Nono erst die bürgerlichen Trümmer wegräumen, bevor er etwas schaffen konnte – und diese ungleiche Ausgangslage ist wohl ein zentraler Punkt, wenn es um die beiden geht. Man müsse seinen Lehrer umbringen, um ihm (nach)folgen zu können, um nicht bloss ein Satellit in seinem Orbit zu werden. (Passend dazu ein anderes Bild in der Diskussion über Webern – ich bin nicht sicher, ob es von Lachenmann stammt oder ob er es bloss referiert hat: Webern, der Adler, sei in die allerhöchsten Höhen aufgestiegen – und da habe sich plötzlich ein kleiner Vogel unter seinem Flügel gelöst, Schönberg, und sei in noch grössere Höhen vorgestossen.)

Den Abschluss des ersten Teiles machte Lachenmanns wohl ziemlich zentrales Werk „Pression“, in dem das Cello noch radikaler auf seine Materialität hin „abgeklopft“ wird (ein einziges Mal haut denn der Cellist auch mit voller Wucht auf den Steg – zum Glück da, wo er beginnt und ordentlich verstärkt ist). Holz, Stahl, Pferdehaar und was da noch so alles ist, alle Arten von Kollisionen und eben: Pressionen. Dass Lev Sivkov, einer der Solocellisten der Philharmonia, dabei einen Frack trug und die eine oder andere grosse Geste einstreute, verstärkte den Effekt – nichts in Komische, würde Lachenmann sagen, sondern ins Heitere, das er wiederum – gerade wie das Lächerliche, das ja auch phonetisch mit ihm verwandt ist – sehr ernst nehme. Sivkov zog aber auch den einen Schuh aus, um ohne störende Geräusche das Fusspedal zum Blättern der Noten auf dem Tablett betätigen zu können – oder bloss, um noch eine weitere Brechung einzubauen? Lachenmann erzählte davor von seiner Faszination für die Werke von Pierre Schaeffer und Pierre Henry – doch wollte er nicht die Membran eines Lautsprechers hören, aus der die Klangcollagen der beiden berühmten Vertrerter der Musique concrète erklangen: er wollte eine „musique concrète instrumental“ schaffen, in der Instrumente gespielt, der Klang vor den Augen des Publikums produziert wurde. Dabei kommt in „Pression“ die ganze Skala zwischen Gewalt und Zartheit zum Vorschein – eine sehr emotionale Haltung, die auch der seriellen, für Lachenmanns Verständnis viel zu mathematischen und toten Musik entgegengesetzt wird. Lachenmann erwähnte auch – „there’s method in my madness“ meinte er schmunzelnd, als ob wir daran jemals gezweifelt hätten–, das Mahler-Lied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ („ein Lied, das alle kennen sollten!“), sein Vorgehen beim Komponieren, quasi einen Raum einzurichten im Finsteren, diesen Raum abzutasten wie ein Blinder. Dass „Pression“ in der Struktur auf das Mahler-Lied Bezug nimmt bzw. diese abbildet, erwähnte am nächsten Tag dann Jörn Peter Hiekel in seinem Referat im Rahmen des Symposiums über Lachenmann.

Nach der Pause bildeten zwei Aufführung von Weberns fünf Stücken für Orchester Op. 10 eine Klammer um Lachenmanns „Got Lost“. Die Idee war dabei, das Werk von Webern nach dem Gespräch und nach dem Werk Lachenmanns mit anderen Ohren noch einmal zu hören – eine gute Sache natürlich (wäre es meines Erachtens auch ohne Gespräch, gerade bei so kurzen Werken könnte das auch öfter mal so gehalten werden). Weberns Stück nun wurde gemäss Achberger (so erzählte es Spahn) 1926 in Zürich unter der Leitung des Komponisten uraufgeführt (scheint korrekt: klick) – aller Wahrscheinlichkeit nach mit Mitgliedern des damaligen Theaterorchesters (also vor der Trennung des Tonhalle- und des Opernorchesters, die 1985 erfolgte), das auch an diesem Abend aufspielte.

In „Got Lost“ wiederum stellt Lachenmann sich einem seiner Traumata („alle diese Stücke sind eigentlich die Beschäftigung mit einem Trauma“), nämlich dem vor der menschlichen Stimme. Willi Baumeister, der Stuttgarter Mahler, Grafiker, Bühnenbildner, Leher (etc.) sagte, so Lachenmann, einst, er sei „Leerer“. Alle seien schon so voll, dass sie erst mal geleert werden müssen. Und so hat Lachenmann quasi in „Pression“ das Cello, im „Kinderspiel“ das Klavier geleert. In „Got Lost“ (Spahn kalauerte natürlich auch gleich etwas von „Gott“, es erfolgte selbstredend kein Widerspruch) schafft aus Texten von Nietzsche (ein paar höchst pathetische Zeilen aus der „Fröhlichen Wissenschaft“), einem Gedicht von Pessoa („Todas as cartas de amor são / Ridículas“ – da ist die Lächerlichkeit) und einem Zettel über den abhanden gekommenen Wäschekorb („Today my laundry basket got lost“) ein faszinierendes Werk, in dem alles noch einmal abgerufen wird, dann neu zusammengesetzt und dabei natürlich eine ganz eigene Beleuchtung erhält. Phonetische Landschaften öffnen sich und da kommt eben die Heiterkeit zum Vorschein, von der Lachenmann so gerne spricht: Er nimmt das Lächerliche („Since it is pretty difficult to carry the laundry without it I’d be most happy to get it back“) ernst, dekonstruiert das Pathos, stellt ihm eine heiter-ironische Welt entgegen. Die Aufführung des Stückes durch Kakuta und Sugawara war überwältigend – und sie macht, wie auch die Aufführung des „Mädchens“, deutlich, wie eng der Komponist mit seinen Werken und deren InterpretInnen verbandelt ist. Ein Privileg, das hautnah – der Mensch hört ja über die Haut, wie ich gestern beim Symposium erfahren konnte (und da ist, die Erfahrung, das Erfahren, schon der nächste Schlüsselbegriff – der Hörsinn entwickelt sich beim Fötus erst allmählich aus dem Tastsinn heraus, und bekanntlich steht unser Gleichgewichtssinn im Ohr) – erleben zu dürfen.
 

 
Zum Symposium „Resonanzen…“, das ich gestern besuchte, gibt es hier mehr zu lesen:
http://forum.rollingstone.de/foren/topic/neue-musik/#post-10923981
 

 

 
Zürich, Zürcher Hochschule der Künste/ZHdK – 08.11.2019

arc en ciel
Vokalensemble der ZHdK

Ensemble für zeitgenössische Musik der ZHdK
Markus Utz
(Feldman)/Michael Wendeberg (Lachenmann) Leitung

MORTON FELDMAN „Rothko Chapel“ für Sopran, Alt, gemischten Chor und Instrumente (1971)

HELMUT LACHENMANN „Mouvement (– vor der Erstarrung)“ für Kammerensemble (1983/84)

Zum Ausklang des gestrigen Symposiums folgte nach zwei Stunden Pause um 19:30 an der ZHdK noch ein Konzert – ich wollte danach direkt weiter in den Jazzclub, ganz in der Nähe, wo es jeweils um 20:30 losgeht, doch weil Feldman zuerst aufgeführt wurde und danach eine 20minütige Umbaupause nötig war, dauerte das alles etwas länger als gedacht. Aber es war klar, dass ich Lachenmanns Stück hören wollte. Er war denn auch wieder anwesend und der grosse Schlussapplaus mag nicht nur den Aufführenden gegolten haben (deren Angehörige und Freunde zahlreich im Publikum vertreten waren) sondern, so bilde ich es mir ein, auch als Dank an Helmut Lachenmann, der so viel über sich und sein Schaffen preiszugeben bereit war an diesem langen Tag. Ich verdrückte mich dann aber schnell, um nicht zuviel vom Maria Grand Trio zu verpassen.

In der ersten Hälfte wurde also Morton Feldmans „Rothko Chapel“ aufgeführt, ein Stück, das ich ab CD kenne, aber schon eine Weile nicht mehr angehört habe (zuletzt wohl 2015, als bei ECM die Aufnahme mit Kim Kashkashian an der Viola erschien, mir liegt zudem eine etwas ältere Einspielung vor – muss die beiden hervorkramen). Gesungen war das super, was Chor und Solistinnen des Chors angeht, schwer irritiert hat mich aber die voller Vibrato im Gestus geradezu romantisch gespielte Bratsche. Vielleicht war das Programm? Mich hinterliess es eher ratlos (und auch diesbezüglich möchte ich die Aufnahmen wieder einmal anhören).

Nach der Pause erschien dann in grösserer Besetzung – zwei Flöten, drei Klarinetten, zwei Trompeten, zwei Bratschen, ein Cello, ein Kontrabass, eine Musikerin an Klingelspielen, drei Schlagzeuger – das Ensemble arc en ciel auf der Bühne, das Hausensemble für neue Musik der ZHdK. Im Werk geht Lachenmann einmal mehr mit der Herausforderung um, die Tradition fortzuspinnen – was ja nur mit durch den Bruch mit ihr möglich ist, wie im Rahmen des Gesprächskonzertes und noch mehr des Symposiums deutlich wurde. Im ersten Teil erklingen Phrasen, sinnentleerte Kürzel, über rhythmischen Impulsen, im zweiten taucht das Lied „O du lieber Augustin“ auf, verklausuliert natürlich, das schon Schönberg in sein zweites Streichquartett eingearbeitet hatte. Gerade daran wird das Dilemma im Umgang mit der Tradition verdeutlicht. Das Stück verdichtet sich zum Ende hin mit fortlaufenden Rhythmen und Repetitionen zu einem unerbittlichen Ganzen – mit Bezug auf Lachenmanns eigene Worte ist im Kommentar zum Konzert nachzulesen, dass das Werk den Versuch darstelle, „Tabula rasa zu machen und von Grund auf einen musikalischen Organismus zu entwickeln“. Jedenfalls einmal mehr ein Werk, das zu ganz neuem Hören, Zuhören, führt.
 
Die Nachbereitung der ganzen Wissensfragmente, die gestern über mir zusammengebrochen sind, wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Auf jeden Fall werde ich einige Aufnahmen (neu) anhören und wohl noch ein paar weitere Anschaffen.
 

 
PS: Das „Wochenend-Festival“ ging am 7.11. mit einem Konzert los, in dem auch in der ZHdK und von Studierenden Kammermusikwerke von Lachenmann gespielt wurden – da ging ich leider nicht hin, es war schon so an der Grenze des Machbaren. Abgerundet wird es heute nachmittag mit dem Besuch der bereits zweitletzten von neun ausverkauften Aufführungen vom „Mädchen“ (zu der ich nicht gehe – ich hätte es mir wohl rechtzeitig, also vor über einem Monat schon, bevor ich die Aufführung sah, anders überlegen sollen, denn sehr gerne hätte ich die Aufführung ein zweites Mal erfahren). Auf eine Wiederaufnahme ist zu hoffen, auch wenn sie – ebenso wie bei Holligers „Lunea“, das ich wohl noch lieber (auch angesichts der Abwesenheit einer Aufnahme) wieder sehen würde – unwahrscheinlich ist … aber gut, das „Mädchen“ wurde hier ja zum Ballett, dass Ballett hat nordkoreanische Zustimmungsraten (Auslastung von deutlich über 90% Prozent) – vielleicht kommt es ja doch noch zu einer Wiederaufnahme (doch auch: Lachenmann wird in einigen Tagen 84 – und er ist eigentlich der einzige denkbare Sprecher für den Leonardo-Part).

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