Antwort auf: jaimie branch

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wahr

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gypsy-tail-windThere we go again … vielleicht sind ein paar Zeilen zum anderen Diskurs gestattet, aus dem @soulpope und ich kommen (ich denke neben redbeansandrice als einzige hier im Forum)? Jazz war immer schon ein Haifischbecken: 95% der Kenner (wer immer dieses äh, Gütesiegel, erteilt) verabscheuen Oscar Peterson, manche Leute halten Miles Davis bis heute für einen schlechten Trompeter (und Monk für einen Dilettanten) oder können nur seine Sachen bis 1967 ertragen … Coltrane bis 1964. Jackie McLean konnte keine Intonation, Dexter Gordon ist todlangweilig, Red Garland: ein Barpianist, … favorisierte Musiker werden verteidigt und gelobt, andere ignoriert oder gedisst (irgendwoher musste der Scheiss der Hip-Hop-Kultur ja herkommen, oder?). Das ist jetzt arg überzeichnet, aber es zieht sich immer noch weiter, unter den Hardcore-Jazzfans zumindest, und mit Variationen …

Dass sich diese Diskussionen durch die Jazz-Welt ziehen, ist wahrscheinlich auch so normal wie in anderen Genres. Dafür ist man doch unter anderem auch hier, um sich darüber auszutauschen, zuzustimmen, zu kritisieren und zu differenzieren. Schlimmer wäre es, wenn jemand schreiben würde, Jackie McLean konnte keine Intonation, und dann wird diese Aussage nicht aufgenommen, weil’s eh niemanden interessiert. Daher kann ich deinen Frust auch verstehen, wenn du dir hier wieder einen substaiellen Wolf schreibst und niemand reagiert.

Die Wohlfühlideologie heutiger Zeiten (und mit Verlaub, wer mich als arrogant oder überheblich tituliert, von dem verlange ich, dass er mein Wirken hier im Forum, meine vertretenen Ansichten kennt, sonst reicht auch mal eine Nummer kleiner!) ist da jedenfalls eine völlige Gegenthese dazu – und ich habe mich in den letzten Jahren, auch z.B. bei dem Hype um Kamasi Washington (der mir absolut nichts gibt, ich merke der Musik zwar die Geschultheit an den rhythmischen Finessen des – instrumentalen – Hip-Hop an und finde das auch toll, aber obendrauf Gepose und Leere, aufgebläht mit viel warmer Luft … falls sich jemand wundert, warum ich mich nicht ausführlicher zu Kamasi W. geäussert habe, there you go, es wäre das gleiche passiert wie hier gerade), immer mal wieder gewundert, wie entkoppelt diese Hype-Phänomene von dem sind, was ich oben als den „Jazz-Diskurs“ zu umreissen versuche. Ich befürchte, es gibt da praktisch keine Schnittmenge (entsprechend auch keinen Spillover, weil wer auf Kamasis Album oder auf Shabaka abfährt, fängt er/sie nicht plötzlich damit an, anderen Jazz zu hören bzw. kommt ev. bis zu Marshall Allens Sun Ra Arkestra, aber das ist dann auch wieder so ein Ding, anders gelagert aber total Hype-anfällig). Das wiederum mag bei Leuten wie mir auch zu einer gewissen Bitterkeit führen: warum wird sowas mittelprächtiges plötzlich überall abgefeiert als sei der Messias zurück (da ist jetzt Kamasi selbst dran schuld bei dem Covermotiv – das finde ich ja abgesehen davon wieder gut, der Afro-Messias geht über Wasser … aber das hilft beim Genuss der Musik auch nicht weiter). Vermutlich ist das jetzt auch nur ein hoffnungslos versandender Gruss aus einer anderen Blase, aber was soll’s – seit ein paar Jahren treibt mich das immer um: JazzmusikerInnen (Matana Roberts, Kamasi Washington, Makaya McCraven*, Yazz Ahmed, jaimie branch, Shabaka Hutchings) feiern Crossover-Erfolge, wie das seit vielen Jahren, ja Jahrzehnten kaum mehr der Fall war … aber es gibt wie erwähnt keinen spürbaren Spillover dieser neuen HörerInnen in andere Gefilde des Jazz.

Ich kann zwar mit Kamasi Washington auch nichts mehr anfangen, zumindest mit der letzten 3CD nichts, finde es auch sehr aufgesetzt und einzig die Coverversion aus dem BruceLee-Score gefällt mir, aber ansonsten bin ich das lebendige Gegenbeispiel: Ich mag die Shabaka-Hutchings-Projekte und Yazz Ahmed, ließ mich davon und von Washinton näher einsaugen in den Jazz-Kosmos, bin dann unter anderem zum späteren Coltrane gekommen (und hangel mich weiter zu seinen früheren Sachen, gehe also den umgekehrten Weg, habe (auch durch dich) das Art Ensemble Of Chicago entdeckt, bin bei Albert Ayler und Marion Brown gelandet, mache Stopps bei Wayne Shorter, finde mit Freude bei Bandcamp Living By Lanterns und James Brandon Lewis, und so weiter. Das spillt aber sowas von over bei mir. :)

Aber wie soulpope oben richtig sagt, das mit der messianischen Mission führt – auch innerhalb der Jazz-Community – oft nirgendwohin

Also ich bin der letzte, der euch alte Jazz-Hasen missionieren will. Dafür habe ich aber den zahlreichen Anregungen von euch hier im Forum viel zu verdanken.

(auch bei mir nicht, es gibt wohl ein halbes Dutzend Namen, von denen ich seit 20 Jahren weiss, dass ich sie mal anhören müsste, aber wenn mein eigener verschlungener Pfad, der natürlich allerlei Anregungen, Einflüsse, Meinungen, Lobeshyhmnen und Disse mitnimmt, mich nicht dahin führt, dann passiert es eben nicht, auch wenn mir vielleicht drei Leute, deren Ansichten ich durchaus schätze, in der Zwischenzeit drauf hingewiesen haben … manchmal passt das eben, aber meistens passt es halt nicht, soulpope kann z.B. drüber klagen, dass ich mit Kip Hanrahan noch nirgends bin und Jerry Gonzalez mit seiner Fort Apache Band eine pure Leerstelle darstellt). — *) dessen „Universal Beings“ habe ich übrigens gerade mit „Fly or Die II“ aus Neugierde doch mal noch gekauft – ich hoffe, meine Neugierde, die dann zu Überheblichkeit führt, ist nicht auch etwas, was wir im Sitzkreis diskutieren müssen.

Die „Universal Beings“ ist mir mittlerweile eigentlich etwas zu leblos zusammeneditiert. Gekonnt, aber leblos, wie ein Kaminfeuer auf DVD. Ein ähnliches Problem habe ich mit vielem aus dem Flying Lotus-Umfeld. Anderes holt mich aus der Ecke dann aber wieder ab.

(Jetzt ist es wiederum unpassend, diese Konversation im Jaime-Branch-Thread zu führen).