Antwort auf: jaimie branch

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gypsy-tail-wind
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wahr
Aber von mir wirst du eben auch nicht hören: „Soli als Pluspunkt“. Ich höre den individuellen Ausdruck nicht nur in Soli, so nehme ich Musik einfach nicht wahr. Ich höre den individuellen Ausdruck im Spiel als Ganzes. Keith Richards ist ein außergewöhnlicher Gitarrist nicht nur wegen seiner Soli, sondern in seiner ganzen Spielweise, in seiner Beziehung zu seinen Mitspielern, in dem was er spielt und in dem was er weglässt. Das ergibt für mich in der Summe seinen ganz individuellen Ausdruck. Er hat auch tolle Soli gespielt, die ungefähr so lang oder kurz sind, wie die Soli, die ich auch bei Jamie Branch höre. Ich würde mir einbilden, ihr Trompetenspiel nach dem, was ich bisher von ihr kenne, aus jedem Track herauszuhören. Und deswegen kann ich auch die Trompetenspielerin Branch ohne Probleme mit der Bandleaderin/Komponistin/Konzeptkünstlerin Branch zusammenbringen. Auch mit der Punkmusikerin und der Elektronikmusikerin.

Da möchte ich nochmal rasch ansetzen, denn die Passage versinnbildlicht fast schon exemplarisch die unterschiedlichen Herkünfte. Im ersten Moment mag ich beleidigt reagieren, wenn mir – indirekt, klar – unterstellt wird, ich würde „den individuellen Ausdruck … nur in Soli“ zu hören vermögen. Aber gut, nehmen wir die Big Band von Duke Ellington die grossen Aufnahmen der Dreissigerjahre: da gibt es wohl tatsächlich Passagen, in denen individueller Ausdruck von einzelnen Musikern auch in Ensembles zu hören ist – aber das liegt an der Kompositionsweise Ellingtons, der quasi nicht für Instrumente schrieb sondern „seine“ Musiker als Instrumente einsetzte – das ist allerdings wiederum ein (damals: total / später: ziemlich) einzigartiges Vorgehen … dennoch bleibt am Ende der Ausdruck derjenige von Duke Ellington. Nehmen wir Count Basie: da muss mir keiner kommen und sagen, er höre im Satz die individuelle Ausdrucksweise von Dan Minor oder Ed Lewis (who?) hören. Und nein, das ist nicht albern, das ist bloss ein Hinweis darauf, dass eine solche Diskussion vorsichtig geführt werden muss (oder sonst aus dem Kontext des Jazz-Diskurses enthoben – wie mit Kamasi Washington grossteils geschehen, aber dann kriegen die Jazzheads auch wieder Haue, weil sie die grossartige Entdeckung ignorieren, macht die Chose auch nicht angenehmer oder für alle Seiten zufriedenstellender). Dass sich das im Combo-Jazz ändert, dass ein Coleman Hawkins oder ein Roy Eldridge in den Vierzigern (oder auch ein Satchmo in den 20ern!) auch bei der Präsentation thematischen Materials Charakter zeigen konnten – gekauft (eben: da kommt dann potentiell das beleidigt sein ins Spiel … muss aber nicht!), dass das auch im Bebop und Hard Bop und erst recht im Free Jazz der Fall ist – wer könnte daran Zweifeln? Dass aber aus der Geschichte des Jazz heraus das Solo, die Improvisation (sei es die eines einzelnen Akteurs oder die gemeinsame mehrerer Akteure) eine zentrale Rolle einnimmt – das sollte wiederum so klar sein, dass ich beleidigt sein könnte, wenn jemand hier mit tut und vorgibt, das zu ignorieren.

Mir ist klar, dass er hier um persönliche Hörgewohnheiten geht, dass dabei solche Feststellungen, Gewachsenheiten, Traditionen, Diskurse manchmal schlicht keine Relevanz haben. Aber gerade im Sinne der Diskussion, die wir ja führen, und angesichts dessen, dass hier Welt- oder Musik(an)sichten aufeinander prallen, möchte ich wie gesagt für etwas mehr Vorsicht plädieren. Nicht im Sinne davon, dass alles bitte mit Watte gebauscht werden soll, überhaupt nicht, aber im Sinne einer klaren Argumentation ist das halt nicht zu unterschätzen.

Anyway, das Wochenende ist schon fast wieder vorbei, ich kriege das mit dem Wiederhören nicht hin, aber ich habe die beiden Fly or Die-Alben sowie das (bessere ;-) ) „An Unruly Manifesto“ von James Brandon Lewis mit branch griffbereit. Was ich auch gerne empfehlen würde – aber das wird eben wieder auf Desinteresse stossen (zu jazz?) – bzw. wozu ich auch gerne andere Ansichten hören würde, ist die Delmark-Scheibe „Just Like This“ von Keefe Jackson. Die hat schon ein paar Jahre auf dem Buckel (rec. 2007, als Branch noch in Chicago war und der Name noch mit Grossbuchstaben anfing) und da hört man jaimie branch neben Josh Berman. Der ist nun auch kein Virtuose der Brillanz oder so (also nicht Nate Wooley oder gar Peter Evans), sondern im Gegenteil eher einer, denen man vom Eindruck her beschränkte Technik aber umso mehr Charme attestieren würde (meine Gedanken dazu stehen oben, das schmälert den Charme aber keineswegs) … und da, im Direktvergleich von zwei Trompetenstimmen im Rahmen einer etwas grösseren Band (Line-Up: Josh Berman, Jaimie Branch, Jeb Bishop, Nick Broste, Marc Unternährer, James Falzone, Guillermo Gregorio, Dave Rempis, Jason Stein, Anton Hatwich, Frank Rosaly) ist halt für mich auch ein eklatanter Unterschied zu hören (ist aber aus meiner Warte ein sehr hörenswertes Album, das eine Menge der jüngeren Chicagoer Leute versammelt, denen da und dort nachzusteigen auf jeden Fall lohnt, auch wenn ich das längst nicht bei allen von ihnen getan habe).

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