Antwort auf: Nick Cave

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Manichäer

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Gerne. Im Prinzip ist das eine konsequente Fortsetzung des „The Red Hand Files“ Blog, den Cave seit eingier Zeit im Internet führt und wo man alles (jedenfalls fast alles) fragen kann. Ich habe im Mai einen Artikel für das Magazin „Empire Music“ geschrieben:

„Conversations with Nick Cave / An evening of Talk and Music“ – so lautet der Titel der aktuellen Europatour des Australiers. Beinahe hätte ich dieses Ereignis komplett verschlafen. Die Philharmonie in Luxemburg war, wie alle anderen Termine, eigentlich schon lange restlos ausverkauft und nur durch einen glücklichen Zufall bin ich noch an ein Ticket gekommen. „Talk and Music“ ist ein originelles Konzept, jedenfalls habe ich noch nicht davon gehört, dass ein anderer Künstler sich schon einmal daran gewagt hat. Schon das Setting ist ungewöhnlich. Cave steht ohne Band auf der Bühne, aber neben dem Flügel stehen ein halbes dutzend Tische, an denen einige Zuschauer Platz nehmen dürfen. Ordner mit roten Lampen und Mikrophonen laufen durch die Philharmonie und machen auf die Zuschauer aufmerksam, die ihre Fragen stellen möchten. Entstanden ist die Idee aus dem Internet Blog „The Red Hand Files“, den Nick Cave seit vergangenem Jahr führt. Dort beantwortet er buchstäblich jede Frage, egal wie traurig, lustig, provokativ oder sonst abseitig sie auch sein mag, zumindest sofern sie ihm beantwortenswert erscheint. Auch zu Beginn des Abends in Luxemburg sagte er, dass er abgesehen von den Themen „Europawahl“ und „Theresa May“ (die am gleichen Nachmittag ihren Rücktritt bekannt gegeben hatte) gerne über alles sprechen werde. Viele Beiträge drehen sich natürlich um Caves Werk, seinen Werdegang, spezielle Songs oder Lyrics, seine eigenen Vorlieben. Luxemburg ist eine internationale Stadt, die Fragenden kommen aus halb Europa, von Italien bis Finnland, wobei es sich zum Running Gag des Abends entwickelt, dass etwa drei Viertel der Zuschauer aus Belgien zu kommen scheinen und beinahe niemand aus Luxemburg selbst. Zwischendrin setzt sich Cave immer wieder an den Flügel, spielt einige seiner bekannten Songs, in der Mehrzahl aber eher Stücke, die man wahrscheinlich auf einem der Konzerte mit den Bad Seeds nicht hören wird, wie „Shoot me down“ von „B-Sides and Rarities“ oder „Man in the Moon“ vom ersten Grinderman Album. Auch vertraute Songs wie „The Mercy Seet“, „Higgs Bosom Blues“ oder „Papa Won’t Leave You, Henry“ klingen solo am Piano anders als mit Band, sind aber nicht nicht weniger eindrücklich und die Klasse dieser Kompositionen zeigt sich eben gerade darin, dass sie auch in diesem reduzierten Rahmen wirken. Exakt drei Stunden, von 20:00 Uhr bis 23:00 Uhr und völlig ohne Pause steht Cave auf der Bühne und wirkt dabei nicht nur gleichbleibend freundlich und konzentriert. Er nimmt wirklich alle Fragen an und gibt den Zuschauern das Gefühl, dass er sie ernst nimmt, selbst wenn die Anliegen manchmal merkwürdig sind, beinahe peinlich, wie die Bitte einer Mutter, dass ihre Tochter mit ihm zusammen auf der Bühne singen darf. Er lehnt das ab, durchaus bestimmt, aber doch so souverän, dass erst gar keine Peinlichkeit aufkommt. Man möchte sich am liebsten alle seiner Repliken merken oder gar mitschreiben, aber das ist einfach nicht möglich aufgrund der vielen Fragen an diesem Abend. Dazu wechseln die Themen natürlich ständig. Erst auf der Rückfahrt und am nächsten Tag fallen einem nach und nach immer wieder Einzelheiten ein. Puzzleteile, die am Ende kein komplettes Bild ergeben, aber die persönlichen Höhepunkte erkennen lassen: Caves künstlerische Beziehung, aber vor allem auch private Freundschaft zu Warren Ellis, der den Mut besessen habe, ihm emotionslos Halt zu geben nach dem Tod seines Sohnes, sich nicht zurückgezogen habe aus Angst, wie andere (Caves Sohn Arthur verstarb bei einem Unfall 2015). Der künstlerische Verlust für die Bad Seeds durch den Abgang von Blixa Bargeld, den Cave ironisch als „cuddly fascist“ bezeichnet, jemandem der der Band durch sein rigoroses „schwarz / weiß“ und „ja / nein“ oft geholfen habe, Entscheidungen zu treffen, während er als Australier eine eher zögerlich Mentalität besitze. Er spricht über Ed Sheeran und Anne-Marie, die an Weihnachten in der BBC eine familienfreundliche Version von „Fairytale of New York“ performen und darüber, dass Rocklyrics eben Rocklyrics sind und keine politisch korrekten Texte und über den Luxus der kompletten Unabhängigkeit: er gibt seit Jahren keine Interviews mehr, veröffentlicht die Platten ohne Plattenfirma. Immerhin lehne er Awards nicht mehr wie früher von vorn herein ab. Er habe vor Jahrzehnten nur keinesfalls einen MTV Award gegen George Michael verlieren wollen und außerdem seien diese Veranstaltungen unglaublich langweilig. Cave preist Leonard Cohen und spielt dessen Song „Avalanche“ (es ist gleichzeitig der erste Song auf dem ersten Album der Bad Seeds) und er preist Johnny Cash für den er ursprünglich den Song „Nobody‘s Baby now“ geschrieben, der ihm dann aber so gut gefallen habe („fuck Johnny Cash“), dass er ihn doch selbst aufnahm. Er sei aber stolz auf die Version von „The Mercy Seat“ von Cash. Andere Coverversionen, wie die von „Shivers“ durch Eleanor Friedberger, kannte er nicht einmal. Das schöne an dem Abend ist, dass man nie das Gefühl hat, an einem Seminar zur Selbstoptimierung teilzunehmen. Cave teilt seine Ansichten, aber er zwingt sie nicht auf. Er glaubt nicht an einen Himmel im christlichen Sinne, auch wenn seine Texte voll sind von biblischen Metaphern, von Gott und Jesus. Er stelle sich seinen verstorbenen Sohn oft vor, wie er neben ihm stehe und er rede auch mit ihm, auch wenn er nicht daran glaube, dass dieser ihn hören könne. Unsere Endlichkeit, das ist das Thema, das den Abend wohl am stärksten prägt. Unsere Zeit läuft ab, sagt Cave und zitiert den englischen Lyriker Philip Larkin: „The first day after a death, the new absence / Is always the same; we should be careful / Of each other, we should be kind / While there is still time.“ So wird jeder Auftritt einzigartigen. Die Aufzeichnung zur späteren Veröffentlichung scheint sinnlos. Ich hoffe aber, dass vielleicht einige der Songs in ihren schlichten Versionen einmal ihren Weg auf Platte finden werden. Der Abend beginnt mit dem Gedicht „Steve McQueen“ aus dem Film „One more time with Feeling“, während sich Cave an den Flügel setzt: „But mostly I curl up inside my typewriter with my housefly and cry / I tell my housefly not to cry / My housefly tells me not to die“. Cave endet mit „Skeleton Tree“, dem wundervollen Titelsong seines letzten Albums, und hinterlässt ein tief beeindrucktes Publikum in die Nacht.

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