Antwort auf: Lee Konitz

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Lee Konitz – In Europe ’56 (Fresh Sound, 2017) | Gestern endlich gekriegt und wenigstens die Session aus Paris schon mal halbwegs aufmerksam angehört … eine 10″-Platte war geplant, ein sehr langes und zwei etwas kürzere lange Stücke, ca. 30 Minuten insgesamt, doch die Platte erschien nie (Label gibt Herr Pujol in seinen ausführlichen und an sich recht guten Liner Notes nicht an, aber Marcel Romano war der Produzent, das kann nicht verschwiegen werden, weil er auf Fotos drauf ist. Auf dem Cover übrigens v.l. Bobby Jaspar (ts), Lars Gullin (bari), Lee Konitz (as) – also die drei Bläser, die in Paris dabei waren. Urtreger-Michelot-Garros wirken als Rhythmusgruppe, auch dabei ist der Gitarrist (und spätere Schlagersänger) Sacha Distel, man hört von ihm zwar nicht allzu viel, aber erfreulich ist ja jedes Auftauchen als Jazzmusiker von ihm.

Konitz war für eine Tour in Deutschland gebucht, das dichte Programm gibt Pujol auszugsweise wieder, als die Musiker zwei Tage Pause hatten, gingen sie nach Frankreich, wo dann diese Session stattfand. Den Rest der CD nehmen v.a. die zwei Singles und die eine EP (alles 7″/45 rpm) ein, die Gigi Campi (noch blutjung, auch er ist auf einem kleinen Foto im Booklet zu sehen) während der Tour in Köln im Studio für sein Label Mod machte – das erste Indie-Label in Europa, wie er es damals in die Promo schrieb. Diese Aufnahmen wurden später an das italienische Label Carisch (der Name kommt aber bestimmt aus Graubünden in der Schweiz?) vertickt … zwei Bonustracks von Live-Sessions runden die Fresh Sound-CD ab.

In den Liner Notes versucht Pujol so halb schlüssig zu erklären, weshalb in Europa – in Deutschland aber auch in ein paar anderen Ländern – der „Cool Jazz“ so beliebt war damals, gibt J-E Berendts Einschätzung wieder (die stammt vermutlich von damals und dürfte später nicht mehr geäussert worden sein, aber darauf geht Pujol nicht ein), dass der Cool das höchste der (Jazz-)Gefühle sei, die Bruchlinien des Bebop geflickt hätte usw. Dass daneben dann ein langes Konitz-Zitat steht (aus den Sechzigern glaube ich), in dem dieser sagt, sie (Konitz, Marsh, die Tristano-ites) hätten damals versucht, „so intensiv wie nur möglich“ zu spielen, beisst sich dann ein wenig … ist aber – auch darauf geht Pujol nicht ein – möglicherweise vor dem Hintergrund zu verstehen, dass Konitz gerade in Sachen Ausdruck von Emotionen mit dem Tristano-Dogma gebrochen hatte. Das hört man ja schon auf der Live-Aufnahme für Atlantic (1956 in Auszügen auf „Lennie Tristano“, Atlantic, erschienen), wo Konitz sich bereits nicht mehr so richtig ins starre Gefüge Tristanos einordnen mag. Dass Cool und Bop gar nicht als so harte Gegensätze angeschaut werden müssen (was der damals vorherrschenden europäischen Blickweise auf die Jazzgeschichte entspricht: ein „heisser“ – schwarzer – Stil wird von einem kühlen – weissen – Stil abgelöst, eine Reihe von These und Antithese quasi, alles schön dialektisch und sortierbar, und natürlich mit der – oft nur niederschwelligen – Tendenz, den weissen Stil für „sublimer“ zu halten und den Anteil der Weissen am Jazz übermässig hervorzuheben), auch dazu verliert Pujol kein Wort.

Dass Pujol dann obendrein die Musik(er) einfach abfeiert, mag man als das übliche Liner-Notes-Promo-Geschwurbel sehen, aber es nervt schon und fällt halt in die Kategorie der Blenderei (tut so als sei mehr dran, als es der Fall ist) … Bobby Jaspar klingt nicht immer souverän, der Rahmen der „blowing session“, wie bei den Pariser Aufnahmen vorherrscht, war für ihn gewiss nicht optimal, seine „Härtung“ in dem Jahr oder so in der Band von J.J. Johnson tat ihm jedenfalls sehr gut, er klingt danach zwar nicht völlig anders, wirkt aber reifer, zupackender. Obendrein gestaltete er seine eigenen Bands gerne nach dem Vorbild der Getz-Band mit Jimmy Raney (Besetzung: ts-g-p-b-d) und da ging es stets auch um gute Stücke und Arrangements. Lars Gullin ist hingegen souverän, der konnte 1956 wohl längst mit jeder Situation umgehen, egal ob Korsett durch ein Euro-Cool-Stücklein oder freier Rahmen einer Blowing Session.

Bei den Sessions in Köln stand Konitz dann die Band von Hans Koller bei, den man aber leider als Solisten fast nicht zu hören kriegt – dafür wird Dr. Roland Kovac nochmal extra gelobt, einer der damals zentralen Komponisten/Arrangeure des Euro-Cool-Jazz, dessen Stücke heute oft eher skurril anmuten (er war in der Band von Koller der Nachfolger von Jutta Hipp, die ja in den USA auch ein paar wesentliche Schritte machte und zu einem reiferen Spiel fand). Neben Koller und Kovac sind Willi Sanner (bari), Johnny Fischer (b) und Rudi Sehring bzw. Karl Sanner (d) dabei, Lars Gullin ist als zweiter Solist aber auch wieder mit von der Partie – und er spielt die meisten Barisax-Soli. Konitz und er liefern sich auf zwei Stücken Bariton-Duelle, Konitz ist auch am Tenor zu hören … auch das eher ein Studio-Gimmick als eine Offenbarung, und das passt denn auch schön in die Zeit des Euro-Cool-Jazz, der ja leider oft eher an Gimmicks als an musikalischer Tiefe interessiert war – oder das eine mit dem anderen zu verwechseln tendierte.

Egal, bei aller Kritik, die CD lohnt natürlich, sie gibt einen Einblick in eine Szene, die durchaus ihre Reize hat, und mit Konitz und Gullin präsentiert sie einen erstklassigen Solisten aus den USA und eine der damals wohl reifsten, eigenständigsten europäischen Stimmen des Jazz. Mit Hans Koller wäre noch so eine dabei, aber er geht wie gesagt leider etwas unter … sein Album Koller Plays Kovac kam in der Reihe Austrian Jazz Art von Universal Österreich auch auf CD heraus – ich mag da keine unbedingte Empfehlung aussprechen, eben weil Korsett voller Gimmicks und ordentlich steif (ein Dr. macht halt noch keinen guten Jazzer), aber es gibt ja einige Alternativen, nur wenige Jahre später z.B. entstanden Aufnahmen mit Oscar Pettiford (Black Lion, Sonorama) und dann bald auch seine eigenen Saba/MPS-Alben (darunter „Exklusiv“ mit Pettiford), die eine der aufregendsten Stimmen des europäischen Jazz präsentieren.

Die Carisch-Cover sahen alle drei gleich aus, jeweils mit einer anderen Farbe – die Zeichnung stammt von Guido Crepax, dem Erotomanen und Comiczeichner aus Mailand:

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