Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Länger nichts mehr berichtet, es ist wieder mal an der Zeit …
 
Enrico Onofri/Zürcher Kammerorchester – Zürich, Kirche St. Peter – 19.03.2019
 
Enrico Onofri, Violine und Leitung
Zürcher Kammerorchester

GEORG FRIEDRICH HÄNDEL: Ouvertüre zu „Theodora“ HWV 68
FRANCESCO SAVERIO GEMINIANI: Concerto grosso F-Dur Op. 5 Nr. 10 nach Arcangelo Corelli
GIUSEPPE SAMMARTINI: Concerto g-Moll Op. 3 Nr. 4 für 2 Violinen, Streicher und B.c.
GIOVANNI BATTISTA SAMMARTINI: Concerto A-Dur für Streicher und B.c.
BALDASSARE GALUPPI: Concerto Nr. 3 D-Dur für zwei Violinen, Streicher und B.c.
FRANCESCO BARSANTI: Concerto grosso Nr. 1 G-Dur nach G.B. Sammartini Op. 6
FRANCESO SAVERIO GAMINIANI: Concerto grosso d-Moll Op. 12 Nr. 12 „La Follia“ nach Arcangelo Corelli

Es ist schon drei Wochen her, Einzelheiten (welche Stücke – von Geminiani abgesehen, die alpha-CD von Café Zimmermann mit den Concerti grossi, op. 7 von 2018 sei an der Stelle wärmstens empfohlen!) mir besonders gefielen, kann ich nicht mehr sagen, aber insgesamt ist das Konzert noch in bester Erinnerung. Zwar spielt das ZKO nicht auf alten bzw. rekonstruierten Instrumenten, aber der frische Wind, den Onofri, ein Vertreter der HIP-Schule, mitbrachte, wehte durch das kleine Orchester (4-4-3-2, dazu Kontrabaass, Fagott, Cembalo und Laute). Die Akustik der Kirche war nicht optimal, aber die Streicher klangen toll und der Gesamtklang gefiel mir ausserordentlich. Etwas untergegangen sind leider das Cembalo (Naoki Kitaya) und die Laute (Emanuele Forni, ich glaube er war letzte Saison mal Teil der Continuo-Gruppe bei einer Aufführung am Opernhaus, auf jeden Fall wirkte er neben Hille Perl vor fünf Jahren bei Koopmans Aufführung der Johannes-Passion in der Tonhalle mit – die Suchfunktion ist gar nicht schlecht, wie immer behauptet wird; zudem bei einem Konzert mit MusikerInnen des Tonhalle-Orchester und Stücken von Couperin, Montéclair und Lully irgendwan 2016). Sehr schön waren die Konzerte für zwei Violinen, bei denen sich die Stimmführerin der zweiten Geigen, Daria Zappa Matesic, zu Onofri gesellte. Auch Nicola Mosca, der erste Cellist, hatte seine Momente im Rampenlicht und wusste sie zu nutzen. Ein tolles Programm jedenfalls, gerne würde ich so etwas öfter angeboten bekommen!

Klavier-Rezital: Béatrice Berrut – Solothurn, Konzertsaal – 24.03.2019
 
Béatrice Berrut Klavier

FRANZ LISZT: Consolation Nr. 3
JOHANN SEBASTIAN BACH: Partita Nr. 2 c-Moll, BWV 826
ROBERT SCHUMANN: Konzert ohne Orchester Op. 14

FRANZ LISZT: Sonate h-Moll

Zugabe: J.S. BACH (transcr. W. Kempff): Siciliano (Satz II aus der Sonate für Flöte und Clavier, BWV 1031)

Sonntag vor zwei Wochen ging es für einen Kurzbesuch nach Solothurn ans Rezital von Béatrice Berrut, deren geplantes Konzert in Zürich letzten April abgesagt wurde. Nachdem ich in der Zwischenzeit auch ihre CD mit den drei Schumann-Sonaten und weitere schone etwas ältere Aufnahmen von ihr kennengelernt habe, war ich wohl noch gespannter auf das Konzert als vor einem Jahr. Auf der CD findet sich von Schumanns dritter Sonate übrigens auch die frühe (publizierte) Fassung, also die dreisätzige Version des „Concert sans orchestre“. Die dritte Consolation war zum Aufwärmen, beim Bach wurde ich nicht recht warm – braucht man heute noch solch romantische Sichtweisen auf Bachs Musik? Ich eher nicht, aber egal, in der Gesamtdramaturgie des Abends passte das am Ende schon ganz gut und gespielt war das Stück sehr gut, keine Frage. Vor sie sich an den Schumann machte, sagte Berrut ein paar Sätze zu ihrem Blick auf das Werk. Das gleiche tat sie nach der Pause auch zur Liszt-Sonate – sehr sympathisch und ohne Allüren, mit umso deutlicher werdender Begeisterung für die Werke. War Schumann schon beeindruckend – und die Herangehensweise Berruts, die bei Bach nicht ganz passten, hier perfekt – so war die gigantische Liszt-Sonate eine kaum zu fassende Erfahrung. Ich hatte sie ja bereits einmal im Konzert gehört, mit Lucas Debargue in Mailand im Januar 2017. Das war für mich keine schlüssige, stimmige Version, sie wirkte nicht organisch und es gab obendrein einige falsche Töne. Bei Berrut war das nun komplett anders, scheinbar mühelos scheint sie noch die schwierigsten Passagen zu spielen, dabei nie den roten Faden zu verlieren, die „Storyline“ der Sonate, wie sie sie versteht (was sie eben davor in einigen Sätzen erläutert hatte). Eine Katharsis auf jeden Fall, eine hochdramatische, schlüssige Interpretation. So etwas im Konzert zu erleben ist natürlich doppelt und dreifach beeindruckend. Das nicht sehr zahlreich erschienene Publikum (Solothurn ist Provinz, umso schöner, dass ein unbeirrbarer Herr sich bemüht und im Rahmen seiner Konzertreihe auch dieses Rezital organisierte, zu der nicht nur ich von etwas weiter her angereist kam) applaudierte lange und laut, doch eine Zugabe spielen nach der Liszt-Sonate? Geht eigentlich nicht, und daher gab es – Bach. Berrut spielte die „Siciliano“ aus der Flötensonate, ein Arrangement von Wilhelm Kempff, womit sich gleich noch ein Bezugsfeld öffnet, das ihre Bach-Interpretation vielleicht auch zu verorten erlaubt? Die kleine Reise hat sich jedenfalls mehr als gelohnt.

Liedrezital: Rachel Harnisch/Jan Philip Schulze – Zürich, Tonhalle-Maag, 25.03.2019
 
Rachel Harnisch Sopran
Jan Philip Schulze Klavier

FRANZ SCHUBERT:
Marie D 658
Nachthymne D 687
Hymne IV D 662
Schwestergruss D 762
Der Geistertanz D 116
Die junge Nonne D 828

GEORGE CRUMB:
Apparition, Elegiac Songs and Vocalises for Soprano and Amplified Piano

GUSTAV MAHLER: aus: Des Knaben Wunderhorn
Rheinlegendchen
Verlor’ne Müh
Das irdische Leben
Das himmlische Leben

RICHARD STRAUSS:
Das Rosenband Op. 36 Nr. 1
All mein‘ Gedanken Op. 21 Nr. 1
Die Verschwiegenen Op. 10 Nr. 6
Hat gesagt – bleibt’s nicht dabei Op. 36 Nr. 3
Ständchen Op. 17 Nr. 2

Zugaben:
R. STRAUSS: Cäcilie Op. 27 Nr. 2
R. FALVO/E. FUSCO: Dicitencello vuje
WALLISER VOLKSLIED: Abschied vom Gantertal

Am Abend drauf ging es gleich wieder in die Tonhalle – ich hatte mir den Tag zum Glück freigenommen … Rachel Harnisch – wie Béatrice Berrut aus dem Wallis stammend – trat im Rahmen der Reihe „Liedrezital Zürich“ in der Tonhalle-Maag auf, zusammen mit dem Pianisten Jan Philip Schulze, der als Partner und nicht etwa als Begleiter wirkt, wie sofort klar wurde. Los ging es mit einer Reihe von eher weniger bekannten Liedern Schuberts, in denen schon das Thema des ganzen Abends deutlich wurde.: Leben und Tod, oder auch eher das Leben, das zum Tod hin strebt? Sofort wurde klar, über für eine betörende Stimme Harnisch verfügt, und mehr noch wie gekonnt sie über ihre Stimme verfügen kann. Aus dem leisesten Pianissimo heraus formt sie ihre Linien und Phrasen, auch in der Posse, wie sie am Ende bei Strauss erklang (wo Harnisch zudem ihr komödiantisches Talent aufblitzen liess), droht stets der Abgrund, noch der oberflächlichste Vers wirkt profund.

Crumbs Zyklus, für den ein Mikrophon über das Klavier gehängt wurde, das leise verstärkte, war für mich wohl das Highlight des Konzertes. Wie Harnisch diese Zeilen und Vokalisen gestaltete, beeindruckte mich schwer: behutsam und doch überzeugend und kräftig. Schulze, der auch ein paar Male ein klein wenig ins innere des Flügels griff (was für die Klassik-Riege wohl immer noch eine halbe Sensation ist, siehe Links unten), erwies sich hier noch mehr als schon bei Schubert als wacher Partner auf Augenhöhe, der eine gerade so aktiv gestaltende Rolle einnahm – ein echter Glücksfall, dieses Duo!

Nach der Pause, in der wohl die aus em Wallis angereisten Fans es schon etwas bunt trieben im Backstage-Bereich, wirkte Harnisch bei Mahler da und dort etwas unkonzentriert, doch auf ihre Stimme kann sie sich auch dann noch verlassen. Los ging es mit einer nur an der Oberfläche harmlosen Interpretation des „Rheinlegendchens“, und spätenstens bei der bitterbösen Gegenüberstellung des schauerlichen irdischen (ein hungerndes Kind wird von seiner Mutter hingehalten, als es schliesslich was bekommen soll, ist es tot) und des biedermeierlich beschaulichen himmlischen Lebens (ein Liedchen über das Schlaraffenland, in dem sich obendrein diverse Heilige herumtreiben – auch ein eingebauter Abgrund?) war Harnisch wieder auf der ganzen Höhe ihrer Kunst.

Die Lieder von Strauss fand ich in diesem Rahmen wohl am wenigsten interessant, doch sie sorgen für einen vergleichsweise unbekümmerten Ausklang, besonders „Hat gesagt – bleibt’s nicht dabei“ auf einen albernen anonymen Text. Doch: Leben, Liebe, Tod – in diesem Liederabend ging es um die ganz grossen Themen und Harnisch/Schulze sorgten dafür, dass daraus ein grossartiges Erlebnis wurde.

Es folgten drei Zugaben, zunächst noch ein Lied von Strauss, dann eins aus Neapel (Giuseppe di Stefano oder Mario del Monaco haben es natürlich auch gesungen), in dem Harnisch ihre Stimme fliessen liess – Italianità, aber nicht ohne Augenzwinkern. Als berührende letzte Zugabe sang Harnisch dann ein Volkslied aus dem Wallis – sein Thema, der Abschied, passte zur Dramaturgie des ganzen Programmes, und doch war auch hier noch eine weitere Facette dieser grossartigen Sängerin zu entdecken.

Peter Hagmann berichtete auf seinem Blog:
http://www.peterhagmann.com/?p=2072

Jörg Huber schrieb für die NZZ:
https://www.nzz.ch/feuilleton/rachel-harnisch-das-lied-trifft-wo-es-will-ld.1470168

Tobias Willi – Zürich, Johanneskirche – 28.03.2019
 
Tobias Willi Orgel

Programm mit Stücken von Hans Buchner, aus der Tabulatur von Clemens Hör, Ludwig Senfl, Antonio de Cabezón, Bernardo Clavijo de Castillo, Francisco Peraza, Francicso Correa de Arauxo, Franz Danksagmüller, Hugh Aston, aus dem Mulliner Book, Thomas Tallis, Girolamo Frescobaldi, Michelangelo Rossi

Die Eltern eines Freundes schenkten ihre Orgel (erbaut 1984 von William Jurgenson aus Lauffen am Neckar) der Zürcher Hochschule der Künste, die wiederum (wie auch der Jazzclub Moods und das Tonhalle-Orchester) regelmässig Konzerte in der Johanniskirche im einstigen Industriequartier Zürichs veranstaltet. Tobias Willi, seit einigen Jahren Professor für Orgel und Improvisation an der ZHdK und Hauptorganist an der Kirche, weihte die Orgel mit einem bunten Programm ein, das mit Stücken aus der Reformationszeit aus Süddeutschland und der Schweiz begann. Der zweite Block ging nach Spanien und bot ein paar hervorragende Stücke, besonders erwähnenswert vielleicht Correa de Arauxos „Tiento XVI de 4o tono a modo de canción“, in dem Rhythmen zu hören sind, die uns heute aus der Bossa Nova allen vertraut klingen (3+3+2 – in der Bossa als Achtel in einem 4/4).

Dann folgte „Estampie“ von Danksagmüller (*1969), ein Stück, das er 2007 für eine Renaissance-Orgel schrieb. Aus diesem neuen Stück für alte Orgeln wurde einer der Höhepunkte des Konzertes, wegen seines harmonisch avancierten Ideenreichtums. Es folgten ein paar englische Stücke, wobei Astons „Hoenepype“ zum Auftakt wie eine Art Dudelsack-Stück für Orgel klingt und Tallis‘ „Felix namque“ am Schluss des Blockes fast schon absurde Züge annimmt. Die Komposition beginnt relativ eintönig, beruht auf einem gregorianischen Cantus firmus für Marienfeste. Ich zitiere aus dem Text des Programmes (vermutlich von Willi, aber das steht leider nicht): das Stück „breitet in fast manisch anmutender Manier eine Palette von Spielfiguren in steigender spieltechnischer und rhythmischer Komplexität aus, für die der in der Oberstimme erklingende cantus firmus nur noch ein Vorwand zu sein scheint.“ Die Wirkung ist verblüffend, denn aus dem zunächst recht eintönigen Motiv wird durch Repetition und Variation ein Karussell, das sich – aber ganz ohne Beschleunigung – immer irrer zu drehen scheint. Und immer, wenn man denkt, dass es das nun gewesen sein, geht es noch weiter, und noch weiter, und noch weiter. Den Ausklang machten dann je eine Toccata von Frescobaldi (Toccata per l’Elevazione) und Rossi. Schade, dass Willi als Zugabe keine eigene Improvisation spielte sondern noch eine Petitesse (ich tippe auf Deutsch, habe aber keine Ahnung). Orgelkonzerte hörte ich bisher fast nur im Urlaub, sei es in Hamburg oder irgendwo in Norditalien – ich sollte wohl das recht zahlreiche Angebot hier auch etwas besser nutzen …

Terpsicore – Opéra-Ballet von G. F. Händel – Zürich, Theater Rigiblick – 03.04.2019
 
Der Sommernachtstraum eines Bildhausers – Ballet pantomime
Johann Christian Schieferdecker (1679–1732)
aus „Musikalische Concerte“ (Hamburg, 1713): Concert Nr. 10 G-Dur, Concert Nr. 1 a-Moll, Concert Nr. 6 D-Dur + Pas de deux (aus: Cesare Bossi/Charles-Louis Didelot: Flore et Zéphire, 1796, Choreographie nach „The history of Russian ballet“, 1964)
(Idee und Choreographie: Mojca Gal)

Terpsicore – Opéra-ballet
Georg Friedrich Händel (1785–1759)
Prolog zur Oper „Il Pastor fido“ (1734)
 
Zürcher Barockorchester
Monika Baer & Renate Steinmann
Leitung und Violine

Tanzkompagnie Chorea Basileae
Mojca Gal
Choreographie und Tanz
Alberto Arcos, Antonin Pinget, Gurdrun Skamletz Tanz

Flavio Ferri-Benedetti Countertenor
Aude Freyburger Sopran

Bühne:
Sharon Weller Regie und Gestik
Gerrit Berenike Heiter Coaching Pantomime und Einführung
Penelope Robinson-Debatin Coaching Tanz (Didelot)
Philipp Grässle Bühnenbild und Requisiten
Mojca Gal Kostüme (nach historischen Vorlagen des Atelies Jean Barain und Louis-René Boquet, mit Anleitung von Marion Uehlinger)
Sebastian Aeschlimann Licht
Mario Gabriel Tontechnik
 
Eine ganz phänomenale Sache gab es diese Woche am Theater Rigiblick zu erleben. Die NZZ hatte zum Glück im Voraus schon berichtet über Mojca Gal, die unter anderem bei Amandine Beyer an der Schola Cantorum Basiliensis Barockvioline studiert hat und von der die Idee wie auch die Choreographien des Abends stammen, an dem sie zudem gleich auch die Hauptrolle tanzte, jene der Terpsicore, der Muse des Tanzes bei den alten Griechen. Gal hat für diesen Abend, der gemeinsam mit dem Zürcher Barockorchester bestritten wurde, Choreographien im Geiste des Barock geschaffen. Mit den einfach gehaltenen Bühnenbildern und den ebenfalls nach Originalen gefertigten Kostümen (auch für das Orchester) gab man sich tatsächlich für zwei Stunden der Illusion hin, sich in einer anderen Zeit zu befinden, ein Spektakel zu erleben, wie es sonst höchstens (und dann natürlich sehr viel üppiger) noch fürs Kino rekonstruiert wird („Vatel“ von Roland Joffé). Ihre Tanzkompanie für barocken Tanz, Chorea Basilieae, gründete Gal 2016. Für ihre Choreographien wertet sie die wenigen existierenden Quellen aus und bemüht sich, eine vergessene Kunstform wiederzubeleben. In dieser Form des Tanzes, das fällt sogar einem Banausen wie mir sofort auf, ist eine unglaublich schnelle Fusstechnik nötig, und entsprechend ein ausgeprägtes Rhythmusgefühl. Dennoch, so macht Gal im Gespräch mit der NZZ klar, geht es nicht um ein „lebendiges Museum auf der Bühne“ sondern es geht ihr letztlich um den Tanz im Jetzt.

In der ersten Hälfte, ohne Gesang/Text, wurde mit der Pantomime der vier Tänzer die Geschichte erzählt, wie der Bildhauer plötzlich eine Statue herstellt, die gar nicht seiner – darob eifersüchtigen – Frau gleicht. In der Nacht steigt Apollo herab und erweckt die Statue – Terpsycore – zum Leben. Der Bildhauer erwacht, verliebt sich in seine plötzlich lebendige Statue, seine Frau folgt ihm und ist nun erst recht eifersüchtig, doch Apollo beschwichtigt und versöhnt sie. Bei Anbruch des Morgens ist die Statue wieder erstarrt und der Gott verschwunden, der Bildhauer und seine Frau wissen nicht mehr, ob sie das alles nur geträumt oder tatsächlich erlebt haben. Die Musik vom mir bisher völlig unbekannten Schieferdecker wurde vom Barockorchester Zürich sehr lebendig dargeboten, einen – gewollten – Bruch gab es auf halbem Weg, wenn der Pas de deux aus Cesare Bossi und Charles-Louis Didelots „Flore et Zéphire“ (1796) erklingt und damit ein Hauch frühester Romantik durch das Barock weht. (Ein Blick in meine Liste zeigt mir aber, dass ich das erste der Konzerte von Schieferdecker, aus dem nur die Entrée und die Chaconne erklangen, direkt vor dem Pas de deux), in einer Aufnahme der Akademie für Alte Musik Berlin unter Kallweit da habe.)

Für den Prolog, den Händel für seine Oper „Il Pastor fido“ schrieb (1734 für die dritte Fassung), stiessen dann die Sopranistin Aude Freyburger und der Countertenor Flavio Ferri-Benedetti dazu (im öffnenden und abschliessenden Chor wurden sie durch zwei tiefere Männerstimmen ergänzt, deren Namen leider in den oben wiedergegebenen ausführlichen Credits im Programmheft fehlen). Perfekt ausgewogen war das nicht immer, Freyburgers Stimme war manchmal etwas aufdringlich, Ferri-Bendedetti mag ein paar wenige Intonationsprobleme gehabt haben, aber gesungen hat er grossartig. Im Wechsel mit instrumentalen Tanzsätzen erklingen Arien, kurze Rezitative und ein paar Duette. Wieder geht es darum, dass Apollo (der Counter) vom Parnass herabsteigt, um seine Muse Erato (die Sopranistin) zu besuchen und ihr seine Liebe zu beweisen. Sie warten zusammen auf Terpsicore, die schliesslich gemeinsam mit den den drei Allegorien der Liebe, der Eifersucht und des Windes erscheint. Auf Apollos Aufforderung hin stellen sie verschiedene Zustände der Liebe dar, und so ergibt sich auch hier eine Verbindung von Pantomime und Musik – bewundert von Apollo und Erato, die mit ihren Arien ihre Zustimmung verkünden.

Ein einzigartiges Erlebnis, das so wohl nur am Rand des finanziell hoch- (und manchmal glatt-) gespritzten Kulturkuchens, eben im Theater Rigiblick und mit dem (mir zuvor, das muss ich auch gestehen, gänzlich unbekannten) Zürcher Barockorchester möglich ist. Aber, so viel wurde nach dem Bericht der NZZ auch in der Einführung zum Abend überdeutlich: ohne Mojca Gal hätte es dieses Programm nicht gegeben. Dafür sage ich ganz herzlich danke und bin tief beeindruckt.

Tonhalle Orchester, Matthias Pintscher – Zürich, Tonhalle-Maag – 05.04.2019
 
Tonhalle-Orchester Zürich
Matthias Pintscher
Leitung (creative chair)
Leila Josefowicz Violine
Sophia Burgos Sopran
Chorsolisten Zürcher Sing-Akademie Alt
Martina Gedeck Sprecherin
Zürcher Sing-Akademie
Florian Helgath
Einstudierung

CLAUDE DEBUSSY: aus „Images“ für Orchester, Nr. 3 „Rondes de printemps“
MATTHIAS PINTSCHER: Mar’eh, für Violine und Orchester

CLAUDE DEBUSSY: aus „Le Martyre de Saint Sébastien“

Gestern ging es wieder in die Tonhalle. Ich war schon um 18 Uhr dort, zur „Prélude“, bei der es ein Künstlergespräch von Pintscher mit dem Musikjournalisten (und Sprecher, Darsteller, Autoren) Andreas Müller-Crepon gab (der gerade auch wieder eine Masterclass an der ZHdK gab) und dazu eine musikalische Umrahmung durch Akvile Sileikaite und Jérémie Conus, die am Flügen die „Six Épigraphes antiques“ von Debussy spielten. Im Gespräch vermischte sich Grundlegendes zur Schaffensweise von Pintscher mit Gedanken über sein Violinkonzert und über die zwei Werke von Debussy, besonders „Le Martyre“. Nach dieser Einführung war die Vorfreude auf das Konzert gross, und sie wurde, soviel vorweg, nicht enttäuscht.

Pintscher äusserte sich übrigens auch sehr positiv zur Freiheit (und Verantwortung), die dem Posten des „creative chair“ innewohnt: er hat das Programm wie es scheint selber so zusammengestellt/vorgeschlagen und es ist tatsächlich keines, das man alle Tage zu hören kriegt. Sein Werk für Cello und Orchester „un despertar“ wurde im November, als ich für Kurtágs Oper in Mailand war, aufgeführt, ansonsten gab es ein Solo-Stück für Trompete in einem Konzert der Tonhalle-Reihe „Série jeunes“ und im November auch eine erste Masterclass an der ZHdK. Im Mai kommt Pintscher mit dem Ensemble Intercontemporain wieder, dann werden sein „Bereshit“ und Konzerte von Ligeti aufgeführt, im Juni dirigiert Kent Nagano ein neues Werk für Bariton und Orchester, das wohl nach wie vor keinen Titel hat (auch dabei: Patricia Petibon mit Ravels „Shéhérazade“, und nach der Pause Ives‘ vierte Symphonie. Dirket vor dem Konzert mit den Ensemble Intecontemporain dirigiert Tomás Netopil überdies das „Idyll“ für Orchester – und ich hole mir wohl auch für dieses Konzert noch eine Karte.

Nach den „Images“ für Klavier (erste Serie 1901–05, zweite Serie 1907) und dem Orchesterwerk „La Mer“ (1905 uraufgeführt) fasste Debussy den Plan zu den „Images“ für Orchester. Drei „Bilder“ entstanden: „Gigues“, „Ibéria“ und die von Pintscher aufs Programm gesetzten „Rondes de printemps“ (Frühlingsreigen). Debussy riet seinem Stiefsohn Raoul Bardac (1881–1850) einst (ich zitiere aus dem Programmheft, wo sich keine weitere Quellenangabe findet, geschrieben hat die Begleittexte fürs gestrige Konzert Lion Gallusser): „Sammeln Sie Eindrücke. – Beeilen Sie sich nicht, diese sofort aufzuzeichnen … Die Musik ist der Malerei insofern überlegen, als sie die verschiedenen Variationen der Farbe und des Lichtes zusammenbringen und in einem Werk vereinen kann. Eine Wahrheit, die trotz ihrer Einfachheit oft übersehen worden ist.“ Wie sein Lehrer Pierre Boulez sieht auch Pintscher in Debussy einen Wegbereiter der Moderne, das Arbeiten mit Farben, das Zusammenfügen von Klängen, die Unterscheidung feinster Nuancen ist zudem etwas, was auch Pintschers eigenes Komponieren prägt, wie er erläuterte. So bietet sich Debussy natürlich an, und der Auftakt ins Konzert gelang hervorragend.

Auftritt Leila Josefowicz, mit „Mar’eh“, dem zweiten Violinkonzert von Pintscher, gewidmet dem Andenken Luigi Nonos und der Geigerin Julia Fischer. Pintscher hörte Fischer mit Mendelssohns Violinkonzert Op. 64 und beschloss, ein Werk für sie zu schreiben. Nach den Einleitungstakten stehen in der Partitur die Begriffe „presenze – memorie – colori – respiri“ – das mag eine Hommage an Nono sein, aber es sind auch Begriffe, die wohl für Pintschers Vorgehensweise prägend sind. Der Atem etwa scheint in „Mar’eh“ oft fast mit den Händen zu greifen zu sein. Aus dem Nichts entwickelt sich das einsätzige, ca. 23 Minuten lange Stück, im Nichts verschwindet es. Wenn es dazwischen ein An- und Abschwellen gibt und eine Solo-Kadenz für die Geige, dann erinnert dabei doch nur wenig an die herkömmliche Dramaturgie klassischer Werke. Die Geige attackiert, tritt ins Gespräch mit dem Orchester, zieht sich zurück. Pintscher malt, aber nicht mit breitem Pinsel; an Kalligraphie erinnert ja bereits der einsätzige Aufbau, ein Strich ohne Unterbrechung, vom Anfang bis zum Ende. Das Werk ist unglaublich nuancenreich, immer wieder verändern sich kleinste Farbtöne, ohne dass sie je aufdringlich werden, gibt es viel zu tun für die Bläser und das Schlagwerk – doch manchmal ist das kein Streichen eines Felles sondern die Tuba, die nur Luft durchs Instrument bläst. Die Solo-Violine scheint dabei eine Art Kern zu bilden, einen Bezugspunkt für das ganze musikalische Geflecht, das sich trotz riesiger Besetzung in schönstem kammermusikalischen Geist entfaltet. Eine Zugabe folgte zum Glück nicht, es hätte nicht gepasst.

Nach der Pause dann erneut ein riesiges Orchester, dazu auf der Tribüne dahinter die Zürcher Sing-Akademie. Als Sprecherin der verschiedenen Rollen (Le Saint, La Mère douloureuse, La Fille malade des fièvres, L’Empereur, Le Préfet) führt Martina Gedeck durch Debussys „Le Martyre de Saint Sébastien“. Die Sopranistin Sophia Burgos schlüpft ihrerseits in diverse Rollen (Vox sola, Vox coelestis, Anima Sebastiani, La Voix de la Vièrge Érigone), während Pintscher dafür sorgt, dass alles seinen Gang nimmt. Bei der oft sehr statischen Musik dieses Mysterienspiels erinnert man sich an einen Vergleich, den Pintscher davor im Gespräch zog: Ravels Musik, so meinte er, sei so toll konstruiert, dass sie für kürzere Strecken auch von selbst fahren würde. Bei Debussy sei das ganz anders, da fahre absolut nichts, wenn nicht jeder Ton, jede Geste durchdacht, mit Bedeutung aufgeladen werde. Und so formte Pintscher erneut vom Pult aus ein Werk, das diesmal nicht sein eigenes war, es aber zu werden schien, so souverän ging er damit um, so nuanciert und eben: durchdacht. Ein paar Striche fügte er ein, die Version ohne den vierten Teil (und ev. mit anderen kleineren Kürzungen?) dauerte um die 50 Minuten. Tanz, als wohl wesentlichster Bedeutungsträger der Uraufführung dieses seltsamen Mysterienspiels auf einen insgesamt etwa vier Stunden füllenden Text des Symbolisten Gabriele d’Annunzio fehlte dieses Mal (im Gegensatz zum „Terpsicore“-Abend vor ein paar Tagen), doch Pintscher sorgte dafür, dass man überhaupt nichts vermisste. Martina Gedeck, die direkt vor mir stand, hing ich buchstäblich an den Lippen, auch wenn ich – die Verstärkung ihrer Stimme mit einem kleinen Mikrophon sorgte wohl dafür, obgleich sie unumgänglich ist, wenn man überhaupt etwas verstehen will – nicht alles verstehen konnte, was sie sprach. Sophia Burgos sang ihre Arien sehr fein, sehr nuanciert. Die erotische Komponente der skandalträchtigen Uraufführung (eine leicht bekleidete Tänzerin stellte den Heiligen dar, der Erzbischof von Paris drohte allen Katholiken, die die Aufführung anschauen würden, mit Exkommunikation) fehlte allerdings nicht, denn sie wird ja auch von der Musik transportiert. Da werden Spannungen generiert, wie man sie von Wagner kennt (im Vorgespräch meinte Pintscher, es fänden sich im „Martyre“ direkte Zitate aus dem „Parsifal“), Spannungen, die zu subtilen aber umso wirksameren Auflösungen finden, das ganze Werk obgleich Stückwerk ein Suggestiver Fluss – den Pintscher aber erst, mit kräftiger Mithilfe der vielen Beteiligten, erschaffen musste. Umwerfend!

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba