Antwort auf: Die wunderbare Welt der Oper

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gypsy-tail-wind
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Bin schwerst beeindruckt von der gestrigen Aufführung des „Don Giovanni“ in Luzern … daneben etwas Kierkegaard-Lektüre, die in vielem auch perfekt zur Inszenierung passt, die das „Giovanni-Prinzip“ aufzuführen suchte und damit vieles erlebbar machte und auch in Bilder zu setzten vermochte (eine Kamera, die permanent über Giovannis Rücken filmte und auf eine Membran projizierte, die die Bühne auf ganzer Breite halb verdeckte). Leporello (ein phantastischer Vuyani Mlinde) wird so zur Hauptfigur, zum Stellvertreter seines Herrn, dem auch er sich nicht entziehen kann … sängerisch war neben Mlinde und dem herrischen Giovanni von Jason Cox vor allem die Zerlina von Abigail Lewis toll (die auch auf der Bühne einiges zu tun hatte und die Rolle sehr überzeugend verkörperte. Die Elvira von Solenn Lavanant Linke war etwas grell und schrill, aber ziemlich gut, Rebecca Krynski Cox‘ Anna hingegen hatte ziemlich zu kämpfen – mit der Intonation und überhaupt mit der anspruchsvollen Partie. Nicht wirklich überzeugend – das ist aber auch in der Rolle angelegt (und wie Kierkegaard wohl zu recht meint, die grosse Arien von Anna und jene von ihm könnte man verlustlos streichen) – fand ich auch Emanuel Heitz als Ottavio. Sehr gut dafür wiederum meinen Namensvetter Flurin Caduff, der den Masetto, gerade wie Lewis es mit Zerlina tat, stark aufwertete. Schliesslich ist da noch der Komtur, gesungen von Boris Petronje und in der Tat ziemlich furchterregend beim zweiten Auftritt als Geist.

Clemens Heil ging im Graben sehr behutsam vor, hatte das Geschehen jederzeit im Griff und gestaltete es aktiv. Rechts über dem Graben sass William Kelley am Continuo-Hammerflügel, links gab einen Steg, den vor allem Leporello immer wieder dazu nutzte, die vierte Wand zu durchbrechen (in der ersten Reihe und etwas weiter hinten wurden Plätze für ihn freigehalten). Der Chor tauchte auch in den Rängen auf (als eine Gruppe von vermutlich acht Sängerinnen und Sängern direkt neben mir „Viva la libertá“ schmetterten, war der Tinnitus auch nicht weiter entfernt als bei Brötzmann im kleinen Club), für die Festmusik wurden ebenfalls im ersten Rang seitlich Plätze freigehalten. Die Video-Ästhetik, in kühlem Schwarzweiss und mit extra lichtempfindlichen Filtern, ergab zusammen mit der Wärme von Mozarts Musik (die ja sowieso weit über alles hinausgeht, was sich beim Don Juan als Plot greifen lässt, da bin ich ganz bei Kierkegaard, doch gerade bei Mozarts grossen Opern halte ich das für die Regel – ich sah kürzlich ja die Zürcher Produktion von „Così fan tutte“ und empfand das dort genau so, aber um zu dem Schluss zu gelangen reichen natürlich auch längst bekannte Einspielungen).

Jetzt lese ich wohl noch etwas mehr in Kierkegaards Ziegel von einem Buch („Entweder/Oder“, darin in der ersten Abteilung Teil II und der Absatz „Donna Elvira“ in Teil IV sind die Texte über „Don Giovanni“) und habe ein paar meiner Giovanni-Aufnahmen aus älteren Zeiten hervorgekramt, die ich teils wie jene von Bruno Walter (mit Ezio Pinza) erst einmal, noch kein mal (Moralt, mit George London; Böhm 1957, mit Cesare Siepi) oder schon länger nicht mehr (Krips und Mitropoulos, beide mit Siepi; Giulini, mit Wächter) angehört habe … die jüngeren (Gardiner, Jacobs, Currentzis) kommen dann wohl auch wieder an die Reihe, und auch die mir ebenfalls noch unbekannten von Fritz Busch, Ferenc Fricsay, Otto Klemperer und Colin Davis. Furtwängler kenne ich auch noch nicht (live 1951 und 1954, die live 1953 fehlt mir).

Wenn ich heute gefragt würde, wäre dann wohl „Don Giovanni“ die grösste Oper aller Zeiten, nicht mehr „Così fan tutte“ … mal schauen, wie sich das entwickelt. Zum Glück muss ich nicht wählen!

Hier nochmal die ausführlicheren Rezensionen der Premiere (mit Diana Schürpel als Zerbina, die sicherlich auch toll ist in der Rolle, und einer indisponierten Solenn Lavanant Linke, was gestern fast etwas zu sehr nicht der Fall war):
https://www.nzz.ch/feuilleton/mozart-als-ego-shooter-ld.1451725
http://www.peterhagmann.com/?p=2000

PS: dass es eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der „Doktor“-Arie von Zerlina („Vedrai, carino…“ im 2. Akt) und der Doktor-Arie von „Così fan tutte“ gibt, bilde ich mir nicht bloss ein? (Bei Walter singt übrigens Bidù Sayão die Rolle sehr fein! Sie kriegt im für ihre zwei Arien grossen Szenenapplaus, im Gegensatz zu allen anderen, was durchaus in Ordnung ist.)

PPS: die Gazzaniga-Oper muss ich auch endlich mal anhören … die Orfeo-Einspielung (mit John Aler in der Titelrolle und Stefan Solesz mit dem Münchner Rundfunkorchester) sowie die von Weil (ohne Rezitative, beide sind 1990 aufgenommen worden) sind irgendwo.

EDIT: für ihre grosse Arie gegen Ende des zweiten Aktes kriegt Rose Bampton, die Donna Anna bei Walter, dann auch noch einen Szenenapplaus – verdienterweise. Und die langen Ottavio-Arien sind, gesungen von Charles Kullman, auch so toll, dass es ein Verlust wäre, sie nicht zu hören.

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