Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Ein verspäteter Kurzbericht über ein paar feine Konzerte der letzten Wochen …

Basel, Martinskirche – 29.10.2018

Kammerorchester Basel
Heinz Holliger
, Leitung
Patricia Kopatchinskaja, Violine

Franz Schubert (1797–1828)
Sinfonie Nr. 4 c-Moll D 417 („Tragische“)

Sofia Gubaidulina (*1931)
«Die Leier des Orpheus» für Violine, Schlagzeug und Streichorchester

Zugaben:
Heinz Holliger: Das kleine Irgendwas (Text: Alice Fierz), Tröpfli-Musig (aus: Duöli für 2 Geigen)

Franz Schubert (1797–1828)
Sinfonie Nr. 6 C-Dur D 589 («kleine C-Dur Sinfonie»)

Ist es wirklich schon einen Monat her? Sehr lebendig ist der Abend noch, in meiner Erinnerung. Nach der Arbeit in den Pendlerzug nach Basel, dort in eine zum Glück halbwegs beheizte Kirche, die, so hörte ich später, für ihre Akustik vielgelobt sei. Ich sass wie so oft ganz vorn, konnte davon daher wohl nur begrenzt profitieren. Es gab vor dem Konzert eine erhellende Einführung von Roman Brotbeck, der zu den frühen sechs Schubert-Symphonien meinte: Stammten sie aus weniger bekannter Hand, würden sie heute als Wunderwerke eines genialen Komponisten gefeiert.

Was Holliger und das KOB dann im Konzert lieferten, begeisterte mich sehr. Die vierte klang enorm frisch und wurde schwungvoll gespielt. Wie Holliger gerade die feine Instrumentierung Schuberts betonte und hervorhob, die Schichtungen, die stets changierenden Klänge hörbar machte: klasse! Dann betrat Patricia Kopatchinskaja die Bühne, um Sofia Gubaidulinas „Die Leier des Orpheus“ zu spielen, 2006 ebenfalls in Basel zum ersten Mal aufgeführt und wie schon das Violinkonzert „Offertorium“ (1980) Gidon Kremer gewidmet, der es noch 2006 mit seiner Kremerata Baltica eingespielt hat. Ich hörte das Stück im Konzert zum ersten Mal, es handelt sich eher um eine Art Dialogkonzert, in dem ein solistisches Cello, die Primgeige (Daniel Bard vom KOB) und stellenweise auch ein Kontrabass in den Dialog mit der Solostimme treten. Weitere Streicher und Schlagzeug sind ansonsten dabei, die ersteren spielen stellenweise alle ihre eigenen Stimmen, was ein chaotisch-dichtes Klanggeflecht erzeugt, das jedoch nie beliebig wirkt. Erstaunlich ist dann, wie das Schlagzeug, das recht heftig zur Sache geht, ebenfalls völlig in das Gewebe eingebunden ist, gar nicht als Gegenpol zu den Streichern wirkt sondern mit ihnen verschmilzt. Grosser Applaus für die tolle Darbietung Kopatchinskajas und des Orchesters, dann zwei kleine Zugaben, zuerst das „Kleine Irgendwas“, das auch auf dem Album „Take Two“ zu hören ist: ein Text von Kopatchinskajas Tochter, von Holliger zu einer Art Dada-Poem verdichtet (Stimme und Geige solo), dann eine Miniatur von Holliger, bei der wieder Bard zum Zug kam, und ganz zum Schluss auch noch der Kontrabass-Solist. Nach der Pause folgte dann die sechste Symphonie von Schubert, eine Art Oper im Gewand einer Symphonie, ungeheuer vergnüglich und vermutlich in der Tat besser als alles, was Rossini, der Platzhirsch, damals so an Instrumentalem (und an Instrumentierungen) zustande brachte. Hochdramatisch, verdichtend, zuspitzend, entspannend, eine Kette von Einfällen und Ideen, die sich wie ein Faden fortspinnt, mit starker Einbindung wieder der Bläser – und voll mit den unglaublichen Melodien, die es bei Schubert ja sowieso in überraschender Zahl gibt. Ein phantastisches Konzert, für das die etwas weite Anreise (und die baustellenbedingt sehr mühsame Rückreise) sich zweifellos gelohnt hat.

Die Woche darauf verbrachte ich in Bern, Weiterbildung. Neben einem Kinobesuch („Wolkenbruch“, ziemlich witzig, für Zürcher natürlich auch wegen der Schauplätze) ging es am 7.11. ans Festival „Tanz in Bern“, an die zweite (von zwei) Aufführungen einer beeindruckenden Performance (ohne Live-Musik) von Julie Cunningham, zunächst mit einem Solo, in dem der weibliche Körper aus anderem Blick gezeigt, ein anderer Blick als der männliche auf ihn evoziert werden soll (Musik: ein Song von Fever Ray und Stücke von Neil Catchpole), danach mit ihrer Company in „To Be Me“, in dem zwei mal zwei Tänzerinnen die gesellschaftlich eingeübten und sanktionierten Verhaltensweisen der Geschlechter, aufs Korn nehmen, in Frage und bloss stellen und daraus ein starkes Plädoyer abgeben: diese Grenzen sind fluide, das Eingeübte und Eingetrichterte muss hinterfragt werden. Als Tonspur gab es hier verschiedene Texte von Kate Tempest, die sich zu einem Komplex über den blinden Propheten Teireisias, der für sieben Jahre in eine Frau verwandelt wurde.

Zürich, Tonhalle-Maag – 11.11.2018

Lisa Batiashvili, Violine
Renaud Capuçon, Violoncello
Jean-Yves Thibaudet, Klavier

Dmitri Shostakovich Klaviertrio Nr. 1 c-Moll Op. 8
Maurice Ravel Klaviertrio a-Moll

Felix Mendelssohn Klaviertrio Nr. 2 c-Moll Op. 66

„Kammermusik mit absoluter Hingabe“ lautet die Überschrift, des Berichtes in der NZZ (Link unten) – und das trifft ins Schwarze. Wie die drei ohne Allüren auf die Bühne kamen und es den ganzen Abend nur um die Musik ging und um nichts anderes, das war bemerkenswert – da haben sich offensichtlich drei gefunden. Die Eröffnung mit dem kurzen Shostakovich-Trio (das davor anscheinend noch nie in der Tonhalle aufgeführt worden war) funktionierte gut, dass darauf Ravel folgte und nicht wie im Programm angegeben Mendelssohn, war ein sehr guter Entscheid, denn so baute die erste Konzerthälfte eine grosse Intensität auf, mit Passagen, die stellenweise fast schon ruppig wirkten. Capuçon liess seinen Ton immer wieder schneidend scharf werden – dünn, aber mit grosser Projektionskraft. Nach der Pause dann das Mendelssohn-Trio, das für sich gleich noch einmal einen Steigerungslauf bedeutet und wieder mit viel Feuer gespielt wurde. Die drei schienen über weite Strecken gemeinsam zu atmen – auch wenn das ein „All Star“-Projekt ist: eine Fortsetzung wäre grossartig!

Bericht in der NZZ:
https://www.nzz.ch/feuilleton/mit-absoluter-hingabe-ld.1436644

Zürich, Tonhalle-Maag – 12.11.2018

Il Giardino Armonico
Giovanni Antonini, Leitung & Blockflöte

Patricia Kopatchinskaja, Violine

Antonio Vivaldi Concerto für Streicher und Basso continuo g-Moll RV 157
Luca Francesconi „Spiccato il Volo“ für Streicher (EA)
Antonio Vivaldi Concerto für Violine, Streicher und Basso continuo C-Dur RV 191
Simone Movio „Incanto XIX“ für Blockflöte und Barockorchester (EA)
Giacinto Scelsi L’Âme ouverte für Violine solo
Antonio Vivaldi Concerto für Violine, Streicher und Basso continuo Es-Dur Op. 8/5 RV 253 „La Tempesta di Mare“

Aureliano Cattaneo „Estroso“ für Violine solo, Blockflöte und Barockorchester (EA)
Antonio Vivaldi Concerto für vier Violinen, Streicher und Basso continuo e-Moll Op. 3/4 RV 550
Salvatore Sciarrino Capriccio Nr. 2, aus 6 Capricci per violino (solo)
Giovanni Sollima „Moghul“ für Violine, Streicher und Basso continuo (EA)
Antonio Vivaldi Concerto für Violine, Streicher und Basso Continuo D-Dur RV 208 „Grosso Mogul“

Einen Tag später und exakt zwei Wochen nach dem Konzert in Basel, wieder am Montagabend, spielte Kopatchinskaja dann in Zürich Konzerte von Vivaldi – mit dem Mailänder Giardino Armonico und seinem Leiter, Giovanni Antonini, der in den kurzen Auftragswerken, die zwischen den Konzerten erklangen, auch zur Blockflöte griff. Ein fulminantes Konzert, zu dem Kopatchinskaja ihre eigenen Kadenzen mitbrachte, die gerade in „La Tempesta di Mare“ Vivaldi gegen den Strich bürstete – aber mit einer so verblüffenden Präsenz und Überzeugungskraft gespielt, dass sich keine Fragen mehr stellten. Die Spielfreude des harmonischen Gartens ist ja sowieso legendär, mit ihnen Vivaldi zu hören ein pures Glück – das wurde schon beim ersten Konzert klar, das noch ohne die Starsolistin dargeboten wurde.

Die neuen Werke bezogen sich jeweils auf die direkt danach gespielten Konzerte oder auf Vivaldis Musik im allgemeinen. Eines, Marco Stroppas „Dilanio avvinto“ (ein Anagram von Antonio Vivaldi), wurde nicht rechtzeitig fertig, so spielte Kopatchinskaja nach dem endlos faszinierenden Solo-Stück von Scelsi auch noch eine Solo-Preziose von Sciarrino, was mich natürlich sehr freute. Ein weiteres sehr tolles Konzert – und die Hoffnung, dass daraus mal eine CD entstehen könnte … immerhin ist Antonini wohl inzwischen auch bei alpha gelandet (aber ich nehme an, er ist die Tage nirgendwo exklusiv).

Bericht der NZZ:
https://www.nzz.ch/feuilleton/inspiration-vivaldi-ld.1436258


Danach ging es vom 14. bis zum 18. November nach Mailand, um dort die Premiere und die zweite Aufführung der Oper von György Kurtág, „Fin de partie“ (nach Samuel Beckett, das Photo stammt von der Scala-Website und ist von Ruth Walz) zu sehen – grossartig! Ich wage mich wohl nicht, dazu Weiteres zu schreiben, weil fast alle Rezensenten zu scheitern scheinen (auch der Professor, der vor der Aufführung am 17. eine Einführung machte, laberte ziemlich viel Stuss. Die schönste, weil ohne grosse Gesten und Superlative auskommende und vom eigenen Hören ausgehende Besprechung hat zweifellos Thomas Bächli für die Republik geschrieben:
https://www.republik.ch/2018/11/22/das-erste-mal
Die Diskussionen vor und nach der Aufführung mit @clasjaz, der sich mit Beckett so viel besser auskennt als ich, die teilweise Relektüre von „Fin de partie“, die demnächst vollständig wiederholt werden soll, waren ebenfalls sehr bereichernd.

Samuel Beckett: Fin de partie
scènes et monologues, opéra en un acte

Commissioned by Teatro alla Scala
Versione drammaturgica di György Kurtág dal dramma di Samuel Beckett

Editore Editio Musica Budapest
Rappresentante per l’Italia Casa Ricordi, Milano
World Premiere

Teatro alla Scala Orchestra
New Production of Teatro alla Scala in co-production with Dutch National Opera, Amsterdam

Conductor Markus Stenz
Staging Pierre Audi
Sets and costumes Christof Hetzer
Light designer Urs Schönebaum
Playwright Klaus Bertisch

CAST
Hamm Frode Olsen
Clov Leigh Melrose
Nell Hilary Summers
Nagg Leonardo Cortellazzi

Zürich, Tonhalle-Maag – 19.11.2018

Schwedisches Radio-Sinfonieorchester
Daniel Harding
, Leitung
Veronika Eberle, Violine

Zuletzt hörte ich dann, wieder am Montagabend und in der Tonhalle-Maag, das Schwedische Radiosinfonieorchester mit seinem Leiter Daniel Harding und der Solistin Veronika Eberle, die für die erkrankte Janine Jansen einsprang. Jansen ist heuer Artist in Residence, ich werde sie wohl noch mehrmals hören können (den Saison-Auftakt mit Bergs Konzert liess ich aus, weil mir die Aufführung mit Kopatchinskaja/Currentzis letzte Saison noch so lebending in Erinnerung ist, dass ich davon ausgehen musste, dass Jansen nicht wird mithalten können, spie spielt in drei Wochen Eliassons Violinkonzert „Einsame Fahrt“ und später auch noch KV 219 und Brahms sowie einen Kammermusikabend mit Schumann, Brahms und Franck, wenigstens für Eliasson und den Kammermusikabend habe ich Karten). Eberle spielte denn nicht wie bei Jansen geplant das Violinkonzert von Jean Sibelius, stattdessen stand Schumann auf dem Programm – ein Gewinn, natürlich, aber ich hätte nach der schlechten Sibelius-Aufführung, die Viktoria Mullova letzte Saison bot, doch gerne eine Korrektur davon gekriegt. Das muss jetzt halt noch etwas warten.

Los ging es mit dem Trümmer von Allan Pettersson, seinem „Sinfonischen Satz“, eine knappe Viertelstunde lang und ein ziemlich heftiger Einstieg in das Konzert. Gefiel mir allerdings sehr gut – und die in Mailand geholte Erkältung schlug nicht in Gehuste um – überhaupt war das Publikum bei dem Konzert mal wieder erstaunlich still (im Direktvergleich mit Italien – silenzio! – ist Zürich aber fast immer super). Dann kam Eberle auf die Bühne, hübsch im tief ausgeschnittenen schimmernden Kleid … hmm. Doch die Zweifel verflogen bald: zusammen mit Harding und dem hellwachen Orchester spielte sie eine grosse, romantische (man(n) ist durchaus versucht, noch das Adjektiv „vollbusig“ einzuschmuggeln) Version des Schumann-Konzertes, wie ich sie noch nicht gehört habe (im Konzert bisher nur Isabelle Faust, einmal super mit dem viel schlankeren Zürcher Kammerorchester unter Roger Norrington, das andere mal deutlich weniger gut, wegen des hilflosen Jakob Hrusa am Pult des Tonhalle-Orchesters, das Faust nichts davon gab, was sie gebraucht hätte). Eberle überzeugte sehr, und sie spielte dann noch ein wenig Bach als Zugabe. Nach der Pause ging es mit Beethoven weiter, die „Eroica“. Hätte ich eigentlich gar nicht mehr gebraucht, oder ich hätte mich über etwas ein wenig abgelegeneres gefreut – aber so ist das eben mit Orchestern auf Tour, der Pettersson war ja schon eine tolle Überraschung. Und auch mit Beethoven enttäuschte das Orchester überhaupt nicht. Die Sitzordnung übrigens mit den Violinen am Bühnenrand, Celli neben den ersten Violinen und dahinter die Bässe – das gibt einen so viel besser Klang als die moderne Aufstellung – auch wenn ich die tollen Celli des Tonhalle-Orchesters gerne vorn habe, weil man sie dann halt schlicht etwas besser hört … aber die waren ja nicht dabei und der Gesamtklang gefällt mir in der Stereo-Geigen-Aufstellung fast immer besser. Harding brummte und sang manchmal etwas gar laut mit, da das Konzert aufgezeichnet wurde, würde es mich wundernehmen, ob man das überhaupt noch rausschneiden kann … es ist aber auch Zeugnis für das Feuer, mit dem der Dirigent und sein auf der Stuhlkante sitzendes Orchester zur Sache gehen. Und bei Beethoven kam das natürlich perfekt. Eine sehr überzeugende Darbietung mit einer überraschenden Solistin, die mir sehr gefiel.

Weiter geht es die nächsten Tage (bis und mit Sonntag in einer Woche) mit dem Unerhört (heute Abend zum Auftakt u.a. Kaja Draksler, die Tage darauf dann u.a. Sylvie Courvoisier, Teju Cole, Marc Ribot und vielleicht wieder einmal Elina Duni), mit Così fan tutte in der Regie von Kirill Serebrennikov (grosse Vorfreude – meine möglicherweise Lieblingsoper erstmals in Echt … NZZ-Rezension der Aufführung), sowie Lisa Larsson und Lalav Shani in der Tonhalle mit Berwald-Liedern und Mahlers Vierter, die ich noch überhaupt nicht kenne.

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