Antwort auf: 2018: Jazzgigs, -konzerte & -festivals

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vorgarten

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jazzfest berlin, tag drei.

man hätte zum gender-diversity-panel gehen oder sich den harlem-hellfighters-film von françois reinhardt anschauen können. aber es verdichten sich über social media traurige nachrichten, die einen an endgeräten festhalten. mittags steht in einem facebook-post von jason moran nur ein name, in großbuchstaben: ROY HARGROVE. der, wie es bald darauf an vielen stellen heißt, „talentierteste jazztrompeter seiner generation“ ist mit 49 jahren an einem herzinfarkt gestorben.

von roy hargrove haben wahrscheinlich alle, die auf dem jazzfest herumlaufen, schon gehört. der schon genervte dussmann-cd-verkäufer hat nichts von ihm dabei, im laden aber ein eigenes regal. ist es denkbar, dass roy hargrove von zukünftigen jazzgeschichtsschreibungen ausgelassen wird? jason moran, auf einem panel zu james reese europa, sagt: ja, ist ja teilweise schon passiert. vor glasper, washington, mccraven war hargrove als teil des soulquarian-kollektivs einer der ersten, der jazz, neo-soul und alternativen hiphop fusioniert hat, wird aber in diesem zusammenhang heute nicht mehr erwähnt. die trauer um hargrove schärft die tragische geschichte von james reese europe, über den moran später ein von kulturinstitutionen in london, new york und berlin in auftrag gegebenes multimedia-werk präsentieren wird, vier tage nach der londoner uraufführung.

von james reese europe haben wahrscheinlich die wenigsten, die auf dem jazzfest herumlaufen, schon mal gehört. auf dem panel zählen moran und drei musikwissenschaftler*innen schnell auf: erstes jazz-orchester avant la lettre (als jazz noch eine zuschreibung, aber keine kategorie war), erste booking-agentur für afroamerikanischer musiker, organisator einer bis zu 125 mann großen band, erstes carnegie-hall-konzert von afroamerikanern, 1913 aufnahmen für victor records, also erster major-plattenvertrag einer schwarzen band in den usa. für einen auftritt in puerto rico werden dortige musiker rekrutiert, damit erster panamerikanischer austausch im kontext einer musik, die gerade erst entsteht. schließlich europes kriegsteilnahme beim 369. infantrieregiment, die militärband harlem hellfighters, auftritte in europa vor bis zu 50.000 menschen, kurz danach tauchen ragtime-motive in der musik von satie und debussy auf. zurück in den usa geht der kampf um anerkennung weiter. dann wird europe 1919 von einem musiker seines orchesters erstochen. und vergessen.

moran sagt, es seien randy weston und jaki byard gewesen, die ihm james reese europes aufnahmen vorgespielt haben. für die er ein vorbild war, auch im sinne von: wie man ein musikerkollektiv organisiert, auf das keiner wirklich gewartet hat. während der veranstaltung sitzen junge musiker des londoner „tomorrow’s warriors“-programms neben mir, die an jedem wort von moran kleben. sie sind gerade die basis des englischen jazzwunders, die älteren mitglieder, shabaka hutchins, nubya garcia, denys baptiste sind schon stars, garcia wird nachts mit makaya mccraven im club prince charles auftreten.

auch ein kollektiv: big band. weder die wdr big band noch die junge sängerin jazzmeia horn haben 2018 einen grammy bekommen. vor ort entstand aber der plan zu einer zusammenarbeit. bob mintzer hat also die songs von horns erstem album für big band arrangiert, win-win. gemeinsam wird das, nach verständlicher festivallogik, auf dem jazzfest berlin präsentiert. horn glitzert golden und selbstbewusst auf der bühne, die big band treibt sie mit lauten, aber feinen spitzen an, plötzlich gala in der wilmersdorfer weißweinextase, medleys aus lift every voice und moanin‘, betty carter zwinkert sister rosetta tharpe zu, nina simone ist im outfit gespiegelt, eine überraschung gibt es allerdings: norma winstones lyrics zu jimmy rowles „the peacocks“ auf fein gesetzte klangwolken. alle auf der bühne haben sich demontrativ lieb, und trotzdem sind sie – als kollektiv – ein felsklotz im programm. bob mintzer, der big-band-leiter, lässt es sich nicht nehmen, das erste solo zu spielen. hat er gestern roscoe mitchell gesehen? in der gesamten big band: eine frau (karolina strassmayer, altsax). für jedes solo, jedes arrangement, jede nummer wird applaus eingefordert. alles ganz normal und üblich, nur bisher nicht auf diesem festival, das fällt auf. am ende singt jazzmeia horn noch drei stücke mit kleiner besetzung, damit es mehr so klingt wie auf ihrem album, das sie noch zu signieren anbietet. sie kündigt „tenderly“ und „eine kleine überraschung“ für uns an. jetzt denkt man gespannt, was wird passieren, wird plötzlich moor mother auftauchen und „we are on the edge“ skandieren, wird jaimie branch sich zum mikrofon durchboxen und das brave arrangement mit einer cowboy-weise zerfetzen? nein. aus „tenderly“ wird „the nearness of you“. als medley. wow. man wischt sich den schweiß von der stirn.

auch ein kollektiv: militärkapelle. die gemeinsame sache. die gemeinsamen ängste. james reese europes regiment bestand natürlich auch aus lauter 18-20-jährigen, die nicht sicher sein konnten, ob sie noch älter werden. in jeder stadt, in der jason moran seine harlem-hellfighters-hommage aufführt, hat er musiker*innen in diesem alter rekrutiert, die vorab ein paar europe-stücke spielen. man sah gestern also sehr junge, etwas ängstlich mit der musik und der aufführungssituation umgehenden menschen, die sich mithilfe von musik aus den zehner jahren zu einer einheit formten, und stellte sich unpassende fragen. berliner jugendliche im kriegsdiensttauglichen alter? wenn man sich jüngste politische entwicklungen so ansieht, kann man auch denken: sie werden wahrscheinlich noch ihre kriege zu kämpfen haben, wenn auch nicht unbedingt mit gewehren. aber die, die da stehen, spielen ja einfach nur musik. weswegen einen das berührt, hat damit nichts zu tun.

die musiker*innen vom tomorrow’s warrior programm sind nicht viel älter. sie stehen unter einer leinwand, auf dem john akomfrah und bradford young visualisierungen von leere, auslassungen, vom warten und zuhören in sparsamen bildern zwischen sehr viel schwarz gesetzt haben. „the absence of ruin“ heißt der untertitel, in anspielung an die kriegsbeteiligung von schwarzen menschen an us-amerikanischen und europäischen kriegen. wo von anfang an nichts steht, wird es am ende noch nicht mal ruinen geben. die bühne ist fast dunkel, mit geheimnisvollen blauen, manchmal roten reflexen. bandwagon hat sich im raum verteilt, mateen links, waits rechts, morans klavier steht vom publikum abgewandt und den jungen musikern zugewandt in der mitte und hat zwei schwarze regimentswimpel angehängt. moran tritt in einem armee-mantel auf. die alte musik, der proto-jazz, wird aus allen denkbaren perspektiven beleuchtet, als unauffällig verschütteter gegenstand von allen seiten freigegraben. es gibt ansatzlos explodierende ragtime-free-eskapaden, popsensibel aufgefächerte akkorde, ins schwarze gespielte soli, sehr viel verdichtung im zusammenspiel, kriegsgeräusche wie verfremdungen, glitches auf zuspielbändern (selbst resse europe hatte den krieg schon in seine arrangements integriert). der verlauf der suite ist überfordernd, immer wieder wird neu angesetzt, abgeschnitten, dann manches lange ausgehalten, dann passiert gar nichts und die leinwand bleibt schwarz. am anfang widmet moran, in erste zuspielbandstörungen hinein, die aufführung roy hargrove. am ende federt die musik in sanften akkorden aus, aus denen nach und nach alle musiker aussteigen, um zu morans klavier zu gehen. sie bilden einen kreis und fassen sich an den händen. moran beendet das spiel mit der linken hand und ergreift mit ihr die der jungen tubaistin. dann verklingen auch die letzten töne seiner linken hand, die sich um die hand von nasheet waits schließt. aus dem klavier leuchtet ein sanftes rotes licht.

trauer und wut haben in kybernetischen bewegungen den raum erfasst und hängen dann da. man weiß erstmal nicht, wie man antworten soll. der halbe saal steht ergriffen auf, als das licht angeht, die musiker scheinen überrascht. auf der kleinen bühne an der bar spielen kurz danach zwei polnische jungs ragtime wie auf springenden schellackplatten. der pianist bleibt als echo auf die harlem hellfighters an einzelnen motiven hängen, dengelt sie in immer der gleichen dynamik in ein altes hammerklavier, sieht aus wie aus einer boyband (obwohl: boybands sind in polen bestimmt gerade verboten), der drummer verstolpert sich kunstvoll. das erste stück heißt „morphin“. das ist alles kein gag, dafür ist es zu beunruhigend. einige menschen fangen an zu tanzen und hören sehr schnell wieder damit auf.

auf der seitenbühne endlich ecm: maciej obara, dominik wania, ole morten vagan, gard nilssen. ihr album heißt „unloved“. sie schließen die augen beim spielen. sie produzieren schönheit. sie steigen aus der leistungsgesellschaft aus. sie sind ganz sanft. vagan spielt das bisher schönste bass-solo des festivals. und irgendwie kann sich hier die ganze aufgestaute emotion aus dem hellfighter-programm lösen. ich werde sentimental. heteropaare kuscheln. die schönen jungen leute sind jetzt alle bei makaya und nubya. ich fahre nach hause und würde jetzt gerne das duett von roy hargrove und norma winstone hören, das es nicht gibt.

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