Antwort auf: Spex

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alberto

Registriert seit: 04.12.2007

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herr-rossi

alberto Die ganzen Online-Informationsmöglichkeiten über Musik helfen vielleicht dem, der mit dem Musikhören ein persönliches Wellness-Erlebnis anstrebt.

Etwas verspätete Nachfrage: Wieso „Wellness“? Es geht um die Möglichkeit einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit Musik und dem aktiven Entdecken von aktueller Musik, die einem nicht hinterher getragen wird. Genau das war ja der Grund, warum man früher Musikzeitschriften brauchte. Wieso stehen die für Ernsthaftigkeit schlechthin und alles, was online stattfindet, ist per se oberflächlich?

Wem es um die Zugehörigkeit zu Clique oder Schulklasse oder auch nur um den „Kanon“ an aktueller Musik geht, den man als junger Mensch kennen muss, um nicht als von gestern dazustehen, dem helfen diese Nischenkanäle nicht. Er braucht ein kompaktes und übergreifendes Medium, das ihm (nur) sagt, was er wissen möchte. Früher haben die „Formel Eins“ im Fernsehen und die BRAVO (die Musikseiten, nicht die Aufklärungsseiten) diese Funktion erfüllt. Ich sehe heute kein entsprechendes Medium.

Natürlich gibt es auch heute noch Hits und Stars, die jeder in der Schulklasse kennt, nur unsereins halt meist nicht. Und die kennt man über Youtube, Spotify & Co. – Und ehrlich, „Bravo“ und „Formel Eins“ waren seinerzeit spätestens nach der achten Klasse kein Thema mehr, danach hatte man auch Mitte der 80er Jahre die dort gefeierten Charts und Stars gefälligst zu verachten und die Jahrgangsstufe zerfiel in Stämme – die Metall-Typen, die rückwartsgewandten Americana-Exegeten (Dylan, The Band, Neil Young usw., Bruce bis „Nebraska“ …), die aufrechten U2-Kämpen, die Grufties usw. usw. – Und auch hier im Forum erzählt jeder eine herzergreifende Geschichte, wie er (oder sie) die bösen, bösen Achtziger Jahre musikalisch überlebt hat.

So unterschiedlich können musikalische Sozialisationen in der Schule sein!
Bei uns gab es, vereinfacht gesagt, die Einser-Schüler mit ihrer sehr einfachen Disko-Musik (Italo Disco; Stock, Atitken, Waterman, …), die Zweier-Schüler, die vom Jazz-Pop (Sade, Matt Bianco, …) begeistert waren, die schlechteren Schüler, die sich zum Classic Rock hingezogen fühlten sowie eine schulnotenübergreifende Fraktion, zu der ich auch gehört habe, die – ich nenne das jetzt mal unfachmännisch so – „Postprog“ (Alan Parsons Project, Pink Floyd, Peter Gabriel, Kate Bush, Supertramp, Mike Oldfield …) gehört hat. Mainstreamtotalverachter gab es bei uns kaum. In jedem Grüppchen ging es um die kollektive Suche nach passender Musik. Im nachschulischen Leben ging es mangels musikinteressiertem Umfeld nur noch um ein persönliches Muiskerlebnis. Da die Konsenssuche keine Rolle mehr spielte, war das Ziel ab jetzt (introspektive) Wellness. Hier haben Musikzeitschriften dann die Funktion, Musik, die einem nicht hinterher getragen wird, aktiv zu entdecken. Vorher wollte man nicht als Schlafmütze gelten.
Im Ergebnis war die Formel Eins in der Schulzeit bei uns noch fast bis zum Schluss relevant, weil jeder das, was dort lief, kennen (nicht notwendig gut finden) musste. Ich wüsste heute nicht, wer mir den Weg durch Youtube oder Streaming-Playlisten bahnen sollte, wenn ich wissen wollte, was in den verschiedenen Genres in meinem Jahrgang im jeweiligen Grüppchen gerade angesagt ist und was ein Kandidat für Konsensmusik ist. Eine Zentralinstanz, die das leistet, fehlt.

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