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herr-rossi
Deswegen hatte ich ja den Beitrag von Holistic Songwriting verlinkt. Seine These kurzgefasst: Der klassische Pop war musikalisches „overacting“ mit großen Melodiebögen und Arrangements, das dem Hörer wenig Raum für eigene Gedanken und Emotionen ließ. Analog zu Kino-Produktionen gilt im Pop seiner Einschätzung nach seit etwa 10 Jahre das Prinzip des Understatements und der Reduktion, das dem Hörer Raum lässt, die Leerstellen selbst zu füllen. Er zitiert die Aussage eines Filmmachers, dass man dem Publikum nicht „4“ geben solle, sondern „2+2“. Allerdings funktioniere das nur, wenn man wie Taylor Swift das Prinzip wirklich verstanden hat. Die These enthält sicher mindestens ein Körnchen Wahrheit und führt auch weiter als das Klagelied darüber, dass es den klassischen Pop-Song nicht mehr gibt. Es gibt ihn durchaus noch, aber er findet nur noch selten den Weg ins öffentliche Bewusstsein.
Der letzte Punkt ist unstrittig: Es gibt alles noch (in irgendwelchen Nischen); nichts, was in der Popmusik einmal erfolgreich war, verschwindet je wieder ganz. Aber zum ersten Punkt muss ich sagen: Die Worte habe ich wohl gehört (ich hatte mir das verlinkte Video ja angeschaut), allein mir fehlt der Glaube. Ich halte das für eine schlaue Rechtfertigung von seelenlosem Plastik-Pop, wenn ich mal polemisch werden darf: Ausdruckslos heißt jetzt „Understatement“ und nichtssagend heißt „reduziert“. Schon die These, klassischer Pop hätte dem Hörer wenig Raum für eigene Gedanken und Emotionen gelassen, ist schräg. Selbst wenn die Künstler genau wissen, welche Wirkung sie erzielen wollen, erzeugen die Hörer ihre Gefühle und Assoziationen selbst – das war immer so und geht gar nicht anders. Ein George Jones kann noch so ausdrucksstark singen, der Hörer muss die Gefühle schon selbst nachempfinden, sonst bleibt es bei einer Manier oder einer Technik. Und noch die simpelsten lyrics versteht jeder vor dem Hintergrund seiner eigenen Lebenserfahrung (oder überhaupt nicht). Musik kann immer nur das zum Schwingen bringen, was man in sich hat, auch wenn es im eigenen Alltag sonst nicht zum Vorschein kommt. Dass man bei Taylor Swift jetzt mehr Raum hätte, „die Leerstellen selbst zu füllen“ als bei älterer Popmusik – das heißt meines Erachtens nur, dass weniger geboten oder gestaltet wird. Aber da kann ich nicht wirklich mitreden, weil ich von „Taytay“ nur einzelne Singles kenne („Shake It Off“ und dergleichen). Die halte ich jedoch nicht gerade für Musterbeispiele von „Understatement“ und „Reduktion“ – eher schon von Ausdruckslosigkeit („Shake It Off“ scheint mir weitgehend ausdrucksfrei gesungen).
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To Hell with Poverty