Antwort auf: Die wunderbare Welt der Oper

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Zürich, Opernhaus – 25.09.2018

La verità in cimento
Dramma per musica in drei Akten von Antonio Vivaldi (1678-1741)

Libretto von Giovanni Palazzi

Musikalische Leitung Ottavio Dantone
Inszenierung Jan Philipp Gloger
Bühnenbild Ben Baur
Kostüme Karin Jud
Lichtgestaltung Franck Evin
Dramaturgie Claus Spahn

Rosane Anna Devin
Rustena Liliana Nikiteanu
Melindo Christophe Dumaux
Damira Delphine Galou
Zelim Deniz Uzun
Mamud Richard Croft

Orchestra La Scintilla

 

Mochte gestern spät den Rechner nicht nochmal anwerfen, jetzt bin ich unterwegs und habe kein vernünftiges Schreibgerät mit. Daher nur ein paar Zeilen (äh nein … beim Zugfahren hat man ja Zeit!) zum hocherfreulichen Abend an der Oper Zürich gestern. Es handelte sich um die erste Aufführung der Wiederaufnahme einer Inszenierung von vor ein paar Jahren, zum grösseren Teil mit derselben Besetzung (Julie Fuchs fiel leider aus, aber das war zu erwarten, beim Saisonende im Juli sah es schon danach aus, dass es nicht mehr lange gehen würde mit dem Nachwuchs). Die NZZ berichtete damals über die Premiere:
https://www.nzz.ch/feuilleton/wie-aufregend-eine-vivaldi-oper-sein-kann-1.18549152

Die Verlegung der Handlung in eine beliebige Wohlstands- um nicht zu sagen Abzockerfamilie der heutigen Zeit fand ich vollkommen unerheblich, aber sicher besser als wenn die seltsamen Königreiche eibe Rolle gespielt hätten, um deren Besitz bzw. Erbe es im Libretto wohl geht. Dantone und Gloger erklären im Programmheft schlüssig, dass (fast?) jede Vivaldi-Oper einen Plan braucht, viel konzeptionelle Arbeit, bei der eine Spielfassung erst erstellt wird. Dantone erörtert auch, wie er die Partitur jeweils im Hinblick auf die Stimmen der Sängerinnen und Sänger zubereitet – Verzierungen für die Da Capos und so weiter.

So wurde für die Züricher Aufführung eben der orientalische Rahmen gestrichen, manches gekürzt, das damals gezwungenermassen aufgepfropfte „lieto fine“ (eine Barockoper durfte nicht mit Totschlag und düsterer Stimmung enden) gestrichen. Stattdessen singt der einzige überlebende des Gemetzels, Zelim, eine tieftraurige Arie aus “ L’incoronazione di Dario“.

Das alles macht noch längst keine vernünftige, nachvollziehbare Handlung daraus (was wiederumbei Barockopern eher erfolgversprechend war denn ein Problem), doch die ergsb sich ganz unabhängig vom Plot aus der Musik selbst. Und aus ihrer Darbietung durch das sehr gute und obendrein sehr ausgeglichene Ensemble. Die Feinabstimmung mit dem Graben musste zunächst noch gefunden werden, das Orchester spielte da und dort etwas zu laut und die relativ niedrigen Bühnenräume schluckten wohl auch einiges.

Für Julie Fuchs sprang die Irin Anna Devin ein, die ihre Rolle toll verkörperte und sang. Ihre Schwiegermutter in spe sang Ensemblemitglied Liliana Nikiteanu, eine Sängerin, die ich schon öfter in kleineren Rollen gesehen habe, die gestern aber wie alle ihre grossen Auftritte hatte – das auch eine Qualität der Oper: jede der sechs Figuren hat wenigstens eine grossartige, lange Arie zu singen. Counter Christophe Dumaux sang den falschen Erben, seine Stimme ist etwas spitz, nicht besonders Klangschön, aber er sang seine Rolle ebenfalls sehr gut. Seinen Vater sang Richard Croft, der wie Dumaux schon in der Premiere dabei war. Sein Tenor nun hatte all die Wärme und den weichen Wohlklang, die ganze Ruhe, die man sich nur wünschen konnte – quasi als Gegenmoment zur wankelmütigen Figur, die er zu verkörpern hatte.

Nach der Geburt seiner zwei Söhne – einer von der Mutter, der andere vom Dienstmädchen – vertauscht der Vater (der Abzocker, der seinen Sportwagen besser pflegt als seine Familie) diese, um sein Versprechen ans Dienstmädchen zu erfüllen, ihren Sohn zum Erben zu machen, wo er sie schon nicht heiraten konnte. Die Handlung setzt 25 Jahre später an, als er reinen Tisch machen will und die Dienstmagd, als Intrigantin die eigentliche Spielmacherin, unglücklich über den ihr untergejubelten falschen Sohn, das Glück des leiblichen im Auge ud Sinn, die Eröffnung der Wahrheit mit allen Mitteln zu hintertreiben sucht.

Diese Rolle nun, sie war wirklich zentral für den Erfolg der ganzen Aufführung – und sie wurde, wie schon bei der Premiere – von der grossartigen Delphine Galou (abseits der Bühne Mme Dantone) mit ihrer feinen Altstimme gesungen – und mit vollem Körpereinsatz auf die Bretter geknallt obendrein, inklusive ironischer Wahnsinnsszene gegen Ende, in der sie die Hausherrin zunächst zu dressieren sucht, dann aber selbst dem Irrsinn anheim fällt – worin die Hausherrin gleich folgt (noch so ein unmöglicher Twist des Plots, den man aber wohl der Inszenierung zuschreiben muss – und das macht ihn auf einer Meta-Ebene, als ironischen Kommentar zum Genre, wiederum super). Davor hatte die Herrin des Hauses nur schlechte Pantomime hingekriegt, sie ist ja quasi nur Puppe, die Fäden zieht ihre Kontrahentin, zumal bis hierhin. Das ist dann auch der Moment, nach dem alles aus dem Ruder läuft, niemand mehr den geringsten Plan zu haben scheint.

Ihren Sohn nun sang die schönste Überraschung, nämlich die aus Mannheim stammende, über eine wunderbar dunkel timbrierte und voluminöse Mezzostimme verfügende Denis Uzun. Sie war neben Nikiteanu dass zweite Ensemblemitglied der Wiederaufnahme und erhielt am Ende zu recht den grössten Applaus. Ihre Rolle mag dankbar sein: der missratene und ungeliebte (wir wissen weshalb) Emo-Sohn, der sich ritzt und mit nichts als sich selbst beschäftigt ist, am Ende trotzdem und allen Unglücks zum Trotz recht selbstherrlich als einzigeR davonkommt. Der falsche Erbe läuft Amok, wird dabei von seiner geldgeilen und überhaupt geilen (Devin nennt die Figzr auf Instagram eine „naughty minx“) nichtmehr-dochwieder-dochnichtmehr Verlobten erschossen, die sich danach selbst richtet, die ältere Generation hat sich bis dahin schon selbst in den Irrsinn verabschiedet bzw. geht – der Vater – gefesselt und geknebelt auf dem dicken Bürosessel unter. Da singt Uzun dann die eingefügte Arie, ein letzter musikalisch betörendender Moment, bevor der schwarze Vorhang fällt (und mit ihm die Welt?).

Das war also im Hinblick auf den Gesang wirklich wunderbar – und das auf alten Instrumenten spielende Hausensemble La Scintilla trug unter der fachkundigen Leitung Ottavio Dantones ebenfalls zum Erfolg bei. Laut wird so eine Aufführung nicht, klar. Aber umso eindringlicher war die Wirkung, umso intimer. Der Reichtum an Melodien, die abwechslungsreiche Ausgestaltung, die äusserst lebendige Umsetzung machten die Aufführung für mich zum grossen Erfolg. Der Applaus war lang, obwohl die Ränge nur halb voll waren. Szenenapplaus gab es auch immer wieder, für alle sechs Sängerinnen und Sänger – was ich wohl noch nie erlebt habe. Man kann dem Ensemble für die zwei oder drei noch kommenden Aufführungen jedenfalls nur eine bessere Auslastung wünschen.

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