Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Lucerne Festival – Stockhausen? Stockhausen! … Messiaen, Nono etc. – 08.09.2018

Es ging ordentlich früh raus am Sonntag und ich hatte Bedenken, dass ich beim einen oder anderen Konzert wegdösen könnte … doch das erwies sich zum Glück als unbegründet. Den Auftakt machte ein Rezital in der Betonkirche MaiHof, etwas ausserhalb des Stadtzentrums.

Pierre-Laurent Aimard, Klavier

Karlheinz Stockhausen (1928–2007)
Klavierstücke I-XI

Aimards Reihenfolge war: II, IV, II, I (alle vier 1952), V (1954/55), VIII, VII, VI (alle drei 1954/55), dann gönnte er sich und uns eine sehr kurze Pause (rausgehen lohnte nicht) und weiter ging es mit XI (1956), IX und X (beide 1954/55, 1961). Das ganze dauerte fast zwei Stunden und war enorm eindrücklich. Der Weg liess ich nachvollziehen von den durchaus eleganten etwas früheren Stücken, die teils nur Miniaturen sind, bis hin zu den sehr langen, sehr komplexen späteren Stücken. Für X am Schluss zog Aimard fingerlose Handschuhe an, was für Irritation sorgte, doch sich bald erklärte: er legte nicht nur die ganzen Hände oder Hände und Arme auf die Tasten, um Cluster zu spielen sondern schlitterte auch immer wieder mit der Handkante über mehrere Oktaven der Kante der (weissen) Tasten entlang (ob er auch die schwarzen „mitnahm“ konnte ich nicht erkennen). Eindrücklich auf jeden Fall, mit der ruhigen Ausstrahlung des Meisters gespielt, der auch die (Festival-)Photographin verjagte, als sie plötzlich im Hintergrund seines Blickfeldes auftauchte (zum Glück hatte er gerade erst ein paar Töne eines neuen Stückes gespielt und fing denn einfach noch einmal von vorn an). Die grosse Frage, die sich stellte, bei aller Faszination: Was unterscheidet diese Musik von Improvisationen eines Pianisten wie Cecil Taylor (der zugegeben 1952 noch nicht dokumentiert ist und auch danach als Solist noch nicht so bald)? Wird nicht auch gerade der spirituelle – im weitesten Sinne, nicht im stockhausen’schen recht eng/unironisch-religiösen – Aspekt möglicherweise aus dem Moment heraus ebenfalls intensiver, eben gerade weil es keine letztgültige Erklärung gibt, wie sie bei Stockhausen ja im Notentext vorhanden ist, hinter den der Interpret weder kann noch will? Ganz trivial aber auch: was bzw. wen hat Stockhausen denn gehört damals? Woher kommt diese Musik? Es gab ja einerseits die ganzen Russen, andererseits Bartók, und natürlich die etwas älteren französischen Impressionisten … aber das alles reicht keineswegs, um Stockhausens Klaviermusik zu erklären. Stockhausen spielte jedenfalls auch Klavier einer Bar (ein Brotjob?) las ich irgendwo …

Danach Spaziergang in der Gegenrichtung zu ziemlich vielen Touristen entlang dem enthaltenen Teilstück der Stadtmauer von Luzern, ein kleiner Imbiss, eine Stunde im Kunstmuseum Luzern, wo es vor allem einen Raum mit ein paar hundert Skizzen und Zeichnungen von Erwin Wurm zu sehen gibt, der ziemlich toll ist (die Sammlung ist eher bescheiden, viel Schweizerisches aus dem 19., die andere aktuelle Wechselausstellung war mir etwas zu bunt, mit den Sachen von Claude Sandoz konnte ich eher wenig anfangen, besser fand ich ein paar der beigegebenen Sachen, v.a. den Raum mit Werken von Rinus van de Welde, aber auch den Raum von Samuel Herzog zu einer fiktiven Insel (es geht in der ganzen Schau um Bezüge zur Karibik, Aufenthalte, Mitgebrachtes, Angeregtes etc.)

Um 16 Uhr gab es in der Box des Luzerner Theaters die erste Impro-Box (Eintritt frei, dauerte knapp 40 Minuten) des Festivals zu hören, mit Joke Lanz & Gilles Grimaître an den Plattentellern bzw. an Synthesizer/Laptop. Das kam ziemlich gut und war auch der Moment, um etwas neuen Schwung zu tanken für den Rest des Tages, der noch einiges zu bieten hatte. Das Elektro-Set war ziemlich gut, fand ich – aber ich missbrauchte es als Ambient für eine Art halbwachen Power-Nap im Halbdunkel des Raumes, in dem ein paar verstreute Zuhörerinnen rund um die beiden Musiker sassen.

London Symphony Orchestra
Orchester der Lucerne Festival Academy
Simon Rattle
, Dirigent
Jaehyuck Choi, Dirigent
Duncan Ward, Dirigent

Karlheinz Stockhausen (1928–2007)
Gruppen, für drei Orchester

Weiter ging es dann um halb sieben mit der ersten von zwei Aufführungen von Stockhausens „Gruppen“, komponiert für 109 Musiker in drei Orchestergruppen. Die mittlere wurden von Rattle dirigiert, die rechte von Ward, die linke von Choi, einem der drei Einspringer für Matthias Pintscher, der sich Anfang Woche wohl wegen künstlerischer oder sonstiger Differenzen per sofort von der Lucerne Festival Academy verabschiedete. Ich sass ungefähr vor dem Mischpult in der Mitte des Raumes, Blick ziemlich direkt auf Rattle, konnte auch recht gut nach links und rechts zu den anderen beiden Dirigenten sehen. Sie standen alle mit dem Rücken zur Wand, die Orchester wandten dem Publikum also auch den Rücken zu, wobei das mit dem wichtigen Schlagwerk an den Rändern und anderen Anpassungen der Sitzordnung etwas durchbrochen wurde. Vor Rattle stand der grosse Flügel und ungefähr dort, wo das Pult des Stimmführers der Celli (oder der 2. Geigen) stehen würde, sass der E-Gitarrist (Irritation … hätte man damals schon ein besseres – dynamischeres, natürlicheres, weniger nach Plastic klingendes, atmendes – Instrument verwenden können, etwas japanisches oder chinesisches z.B., eine Koto? Oder wenigstens eine verstärkte akustische Gitarre?). Dass die drei Orchestergruppen einen je eigenen Zeit-Raum bespielten oder bewohnten – das konnte ich so nicht unbedingt erkennen, aber das koordinierte, manchmal sich fast schon chaotisch verdichtende Mit-, Gegen-, Nebeneinander war schon sehr faszinierend und die Musik über weite Strecken frisch – und auch durchaus nicht allzu sperrig. Die Gitarre mittendrin fand ich rein vom Klang her etwas flach, ich schrieb es ja schon, andere Soli gefielen, der eine oder andere Echo- oder Stereo-Effekt, das durch den Raum gehetzte Motiv war schon gut, aber ein paar Momente, die fast schon nach Lachern zu lechzen schienen, fand ich wiederum etwas nervig. Aufgeführt wurde das Werk übrigens nicht im grossen Konzertsaal des KKL sondern im kleineren Luzerner Saal, der die Aufstellung der drei Ochestergruppen im Hufeisen um das Publikum herum problemlos möglich macht, aber den Charm einer schwarz gestrichenen Fabrikhalle, der man die Fabrik schon ausgetrieben hat, verströmt.

London Symphony Orchestra
Sir Simon Rattle
, Dirigent (Messiaen)

Orchester der Lucerne Festival Academy
Ruth Reinhardt
, Dirigentin (Nono)

Olivier Messiaen (1908–1992)
Et exspecto resurrectionem mortuorum, für Bläser und Schlagzeug

Luigi Nono (1924–1990)
No hay caminos, hay que caminar … Andrej Tarkowskij, für sieben Orchestergruppen

Weiter ging es wenig später im grossen Konzertsaal. Ich hatte einen Platz auf der Orgelempore hinter dem Orchester, was nicht optimal aber auch nicht weiter tragisch war – trotz Schlagwerk und Hörnern vor der Nase (bei Messiaen). Rattle hatte ebensowenig Zeit, um sich auf das grosse Ding von Messiaen umzustimmen, das er nun dirigierte – ich hatte wiederum besten Blick auf ihn und auf die grosse Schlagzeuggruppe, die ihre Arbeit sehr gut machte. Dass Messiaen Klängen Farben zuordnen konnte, passt perfekt zu seiner Musik, die für mein Empfinden fast immer aussergewöhnlich klingt, gerade was Klangfarben betrifft. Das ist auch bei seinem grossen instrumentalen Requiem für die Toten der beiden Weltkriege der Fall, vielleicht mehr als bei manch anderem Werk, das ich von ihm kenne (allzu viele sind es noch nicht, ich finde die Klangwelt Messiaens bisher nicht gerade leicht penetrierbar, aber ich bleibe dran). Die Aufführung war aber beeindruckend, auch wenn sich mir das Werk nach wie vor nicht wirklich erschliesst. Rattle agierte mit Leidenschaft und bildet mit dem LSO in der Tat eine Gemeinschaft, der man eine lange und ergiebige gemeinsame Reise wünscht (derselbe sehr positive Eindruck stellte sich ja schon ein, als ich sie im April in Zürich mit Mahler 9 hörte).

Dann kurze Umbaupause, Ruth Reinhardt (eine weitere Einspringerin für Pintscher, sie wirkt diesen Sommer sowieso als Assistenzdirigentin der Lucerne Festival Academy) betritt die Bühne, sagt ein paar Sätze zum Werk von Nono, erläutert dessen sieben Töne, die sieben Orchestergruppen. Diese richten sich dann ein, zwei auf der Bühne (Streicher und ganz hinten Schlagwerk und Posaunen), eine im hinteresten Teil des Parketts, der leer gelassen wurde, je zwei auf den ebenfalls leeren ersten Galerien. Dann beginnt diese seltsame, stille Musik allmählich den Raum zu füllen – behutsam, tastend, mit viel Zeit und viel Luft. Es gibt keine Wege, es gibt nur das Gehen – Nono interessierte damals, in den Achtzigerjahren, wie er schrieb, „der Prozess der Erkenntnis viel mehr als das Resultat eines Prozesses“. Zur Uraufführung des Stückes, das zum 60. Jubiläum der Whisky-Produktion von Suntory in Japan als Auftrag entstand, reiste Nono denn auch mit der Transsibirischen Eisenbahn an. Den Effekt mit den verschiedenen Klangfarben der sieben Instrumentengruppen konnte ich nur punktuell nachvollziehen (was auch am Platz gelegen haben mag, aber sicher nicht nur, denn der grosse Saal des KKL ist von einer beeindruckenden Transparenz und ich sass schon öfter am Rand, meist auf den Galerien, wo es halbwegs erschwingliche Plätze nah am Geschehen gibt). Leider fiel das Publikum mit Gehuste negativ auf, was die Stille Rätselhaftigkeit des erklingenden Werkes immer wieder empfindlich störte – aber die meisten waren wohl nicht wegen Nono da (sondern wegen … Rattle, Sehen und Gesehenwerden, Gewohnheit, keine Ahnung warum es so viele Raschler und Huster in klassische Konzerte treibt, wo sie offensichtlich weder Willen noch Geduld und zuletzt aufrichtiges Interesse mitzubringen scheinen – ich dachte jedenfalls unwillkürlich ein paar Male an den guten Gustl). Egal, Nonos Werk war für mich das Geheimnisvollste des ganzen Tages, gerade weil es so rätselhaft schimmerte und schillerte, sich entziehend und ändernd in jedem noch so zerdehnten Augenblick.

London Symphony Orchestra
Orchester der Lucerne Festival Academy
Simon Rattle
, Dirigent
Jaehyuck Choi, Dirigent
Duncan Ward, Dirigent

Karlheinz Stockhausen (1928–2007)
Gruppen, für drei Orchester

Den Ausklang machte dann um 21 Uhr eine zweite Aufführung von „Gruppen“ in etwas anderer Orchesterbesetzung (keine Schlüsselpositionen – solistisch exponierte – soweit ich sehen konnte). Es war wunderbar, das Ding gleich nochmal zu hören. Ich setzte mich noch zentraler in eine Reihe etwas weiter vorn, weil mir die Distanz beim ersten Mal eine Spur zu weit war. So konnte ich das Interagieren der drei Dirigenten zwar nicht mehr verfolgen, sass aber förmlich mittendrin … und fand das Ding beim zweiten Mal noch zugänglicher aber auch noch eindrücklicher in seiner Vielfalt, seinem Reichtum. Es ist in vielem wohl eine Art Antithese zur Kunst Nonos, die mir – die Prognose wage ich bedenkenlos – immer sehr viel näher sein wird. Aber der ganze Tag mit seinem Stockhausen-Schwerpunkt war beeindruckend und bereichernd, sowohl was die Klavierstücke wie auch was „Gruppen“ betraf. Ein anspruchsvolles Programm, wie ich es gerne auch im regulären Konzertbetrieb auf so ansprechendem Niveau hören würde (hallo Tonhalle! :bye: ).

Luzern scheint obendrein mit kostenlosen 40minütigen Konzerten, die wohl eine Art öffentlicher Generalproben sind, bei denen Werke aufgeführt und erläutert und dann allenfalls auch nochmal wiederholt werden, einen Weg zu finden, wie Musik vermittelt werden und ein neues Publikum angezogen werden kann (die Schwelle, zum „richtigen“ Konzert zu gehen, ist aber auch wegen der Kartenpreise nach wie vor hoch … beim sehr feinen Konzert, das @vorgarten heute – mit Matthias Pintscher und dem derzeit von ihm geleiteten Ensemble Intercontemporain – in Berlin hört(e) ist die teuerste Karte weniger teuer als die zweitbilligste in Luzern, wo es von da aber noch bis Faktor 4 hochgeht mit vier weiteren Kategorien … und so viel höher ist das Einkommensniveau hier nun auch wieder nicht). Pintscher werde ich im Verlauf der nächsten Saison hoffentlich dann auch noch zu hören kriegen, er wirkt in der Tonhalle als Creative Chair und ich habe eine Karte für ein Konzert mit dem Ensemble Intercontemporain, bei dem das Klavier- und das Cellokonzert von Ligeti sowie Pintschers „Bereshit“ auf dem Programm stehen – doch das ist erst im Mai:
https://www.tonhalle-orchester.ch/konzerte/kalender/neue-tne-in-der-tonhalle-maag-1220796/
EDIT: Und auch hierfür habe ich eine Karte – ist ja auch nichts, was alltäglich aufgeführt wird, aber man merkt schon den Unterschied:
https://www.tonhalle-orchester.ch/konzerte/kalender/josefowicz-pintscher-und-martina-gedeck-1219272/

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