Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Heinz Holliger, Zoltán Fejérvári, András Schiff, Miklós Perényi, Chamber Orchestra of Europe, Lucerne Festival Alumni
Lucerne Festival, KKL, Luzern – 20.08.2018

Chamber Orchestra of Europe
Lucerne Festival Alumni
Heinz Holliger
Dirigent
Zoltán Fejérvári Klavier (Kurtág)
Sir András Schiff Klavier (Beethoven)
Miklós Perényi Violoncello

Arnold Schönberg (1874–1951)
Kammersinfonie Nr. 1 E-Dur für fünfzehn Soloinstrumente op. 9
Ludwig van Beethoven (1770–1827)
Klaviersonate Es-Dur op. 27 Nr. 1 Sonata quasi una fantasia
György Kurtág (*1926)
… quasi una fantasia … für Klavier und im Raum verteilte Instrumentalgruppen op. 27 Nr. 1

Ludwig van Beethoven (1770–1827)
Klaviersonate cis-Moll op. 27 Nr. 2 Sonata quasi una fantasia
György Kurtág (*1926)
Doppelkonzert für Klavier, Violoncello und zwei im Raum verteilte Kammerensembles op. 27 Nr. 2
Heinz Holliger (*1939)
COncErto? Certo! cOn soli pEr tutti (… perduti? …)! für Orchester

Ich versäumte es, direkt nach diesem tollen Konzert ein paar Zeilen zu schreiben – doch es war eindrücklich! Der Auftakt mit Schönberg, in der kleinen Originalbesetzung aufgeführt (d.h. die Streicher nur einfach besetzt) war grossartig und liess mich einmal mehr denken, dass ich die Musik Schönbergs endlich tiefer erkunden sollte. Beethoven und Kurtág wurden jeweils ohne Unterbrechung aufgeführt. Schiff schien in den Sonaten fast schon zu baden, manchmal war das vielleicht ein wenig eitel, doch auch stringent und überzeugend – und mit einem tollen Ton, den er seinem Bösendorfer entlockte.

Am schönsten fand ich aber, Gelegenheit zu haben, die beiden Kurtág-Werke zu hören. Mit von Schönberg geschärften Ohren und nach den Fantasien Beethovens konnte man sich darauf in der Tat bestens einlassen. Auf der Bühne standen diverse grosse Tasten- und Schlaginstrumente sowie Harfen, Streicher und Bläser waren an vier bzw. fünf Stellen in der ersten Galerie verteilt, teils wohl in gleicher Besetzung auf jeder Seite des Raumes (auf deren einen ich selbst sass und deshalb nicht alle Gruppen sehen konnte). Sehr eindringlich war das, in der grossen Unaufdringlichkeit, der es aber an Dringlichkeit gerade nicht mangelt. Solche Konzerte würde man gerne öfter hören, auch wenn man den Beethoven auch hätte weglassen und stattdessen, wie auch die NZZ meinte, einfach den Kurtág jeweils hätte doppelt spielen können.

Holligers eigenes abschliessendes Orchesterkonzert, für das Chamber Orchestra of Europe geschrieben (das bei Schönberg minimal, bei Kurtág aber deutlich durch die Alumni des Festivalorchester verstärkt worden war, hier nun in konventioneller Besetzung auftrat), besteht aus ziemlich vielen Teilen, die jeweils unterschiedlich kombiniert werden können. Vor dem Konzert werden wohl die zu spielenden Teile bestimmt (sie standen auch im Programmheft – aber ob genau diese Teile gespielt wurden, weiss ich nicht), Holliger bestimmt aber die genaue Reihenfolge erst im Konzert. Das liess das Orchester natürlich auf der Stuhlkante sitzen und brachte auch in der unterschiedlichen Kombination mit Solos für verschiedenste Instrumente sehr abwechslungsreiche Resultate hervor. Zugleich aber wirkte das Stück auch etwas beliebig und nicht auf der Höhe der so präzisen Werke Kurtágs, in denen alles Überflüssige weggelassen ist – dass auf dem Weg raus manche Konzertbesucherinnen ganz begeistert von allerlei Vögeln sprachen, die sie gehört hätten, wertete ich denn für mich auch nicht gerade als positives Urteil. Dennoch: mehr davon!

Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko, Yuja Wang – Lucerne Festival, KKL, Luzern – 30.8.

Berliner Philharmoniker
Kirill Petrenko
Dirigent
Yuja Wang Klavier

Paul Dukas (1865–1935)
La Péri, ou La Fleur d’immortalité
Sergej Prokofjew (1891–1953)
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 C-Dur op. 26
Zugabe: Toccata d-Moll Op. 11

Franz Schmidt (1874–1939)
Sinfonie Nr. 4 C-Dur

Diese Woche ging es zum zweiten Mal nach Luzern – ganz so erfreulich war es leider am Ende nicht noch einmal, aber damit hätte ich ja rechnen können, wenn die Berliner mit ihrem künftigen (ab 2019/20) Chefdirigenten und der Pianistin Yuja Wang aufspielen. Die konzentrierte, ungestörte Ruhe vom Konzert des COE unter Holliger fehlte gänzlich, das KKL war praktisch voll (das heisst glaube ich nahezu 2000 Leute), ich sass ganz oben, was manchmal ja gute Voraussetzungen sind, um unter den Leuten zu sein, die wirklich der Musik wegen kamen – aber auch das war diesmal nur teilweise der Fall.

Die Berliner waren jedoch schon bei Dukas beeindruckend – das Zusammenspiel, die Farben … Petrenko scheint zu wissen, was er will und das Orchester bereit zu sein, mit ihm zu gehen. Ein feiner Auftakt, etwas exotisch aber auch impressionistisch. Dann wurde der Flügel in die Mitte geschoben, das Ungetüm, das Wang zu zähmen suchte. So richtig gefiel mir überraschenderweise der zweite, langsame Satz, in dem die Bläser das Thema vortragen und das Klavier dann erst einsetzt – Wang setzte hier behutsame Akzente, liess sich Zeit, gestaltete. Die beiden Ecksätze schienen mir dagegen an mancher Stelle etwas hektisch und konfus. Das liegt aber, ich habe es inzwischen zuhause nachgeprüft, wohl auch am Werk selbst, mit dem ich nicht wahnsinnig viel anfangen kann. Als Zugabe spielte sie, und das war dann wiederum sehr eindrücklich – auch weil ich besten Blick auf die Hände hatte, und das schien wirklich fingerbrecherisch – die Toccata von Prokofiev. Riesiger Applaus – und dann Ruhe in der Pause.

Nach der Pause folgte das am wenigsten moderne bzw. zu seiner Entstehungszeit zeitgenössische aber zugleich das gewichtigste Werk, Franz Schmidts vierte Symphonie, eine Art instrumentales Requiem auf seine im Kindbett verstorbene Tochter, deren Tod der in der Brahms/Bruckner-Linie stehende Spätestromantiker nur schwer verkraften konnte. Ich kannte das Werk noch nicht und freue mich darauf, bei Zeiten auch die Einspielung anzuhören, die schon länger da ist (Symphonien 1-4 mit dem MDR Orchester unter Fabio Luisi, von Nr. 4 auch noch die Wiener unter Mehta). Schmidt scheint nur in Österreich einigermassen regelmässig gespielt zu werden, z.B. von Welser-Möst oder einst auch von Harnoncourt. Das ist schade, denn das Ding ist tatsächlich so gut, dass man verstehen kann, dass auch Neutöner wie Berg den aus der Zeit gefallenen Komponisten (der zudem, so liest man, am Klavier aus dem Gedächtnis praktisch das komplette symphonischer Repertoire spielen konnte) überaus schätzten.

Ich war ja letztes Jahr zum ersten Mal beim Lucerne Festival und positiv überrascht – besonders elitär kam es mir (von den Kartenpreisen mal abgesehen) auch dieses Mal nicht vor, aber ein Konzert mit Holliger (den ich schon letztes Jahr hörte) zieht wohl ein wesentlich interessierteres Publikum an als eines mit glanzvollen Namen wie Petrenko und Wang … das ist ja auch hier in der Tonhalle nicht anders, aber aus dem Alltag heraus dünkt mich hat das Publikum nicht so lange Anlaufzeit, um richtig ins Husten, Rascheln, Tuscheln, Schuheschleifen usw. hineinzufinden – und die klingelnden Armreifen anzuziehen vergisst es zum Glück meistens auch. Muss man alles nicht haben, zumal wenn es ein typisch überaltertes Publikum ist … die Jungen sind ja in der Regel wirklich nur der Musik wegen da und dann auch ruhig (die hören aber auch all die Störgeräusche noch …), aber das galt eben in Luzern bei diesem Konzert für meine Sitznachbarn leider auch nicht … und dass dann auch noch von diversen Kameras, die sich am Bühnenrand dauernd bewegen, gefilmt wird, macht die Sache nicht besser.

Ein dritter Besuch steht nächsten Sonntag an, Musik von Stockhausen mit Aimard (die ganzen Klavierstücke in der Matinee – zweieinhalb Stunden … bin ja gespannt, wieviel ich davon mitkriege, zumal ich am Abend davor kaum früh ins Bett kommen werde) und danach ab dem späteren Nachmittag mit Pintscher und Rattle zweimal Stockhausens „Gruppen“, dazwischen mit denselben Werke von Messiaen und Nono.

Die NZZ-Rezension zum Konzert mit Holliger und dem COE:
https://www.nzz.ch/feuilleton/so-betreibt-das-lucerne-festival-die-wieder-verraetselung-des-alls-ld.1413510

Eine Rezension des Programmes der Berliner, aufgeführt im April in Berlin, findet man hier:
https://bachtrack.com/de_DE/review-schmidt-peri-kirill-petrenko-wang-berlin-philharmonic-april-2018

John Rhodes war am Vortag in Luzern, als die Berliner unter Petrenko Beethoven und Strauss spielten – mich nahm Schmidt (und der Rest mehr wunder):
http://seenandheard-international.com/2018/08/the-berlin-phil-and-kirill-petrenko-simply-in-a-class-of-their-own/

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