Antwort auf: 2018: Jazzgigs, -konzerte & -festivals

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Météo | Mulhouse Music Festival – 21.-25.08.2018

Fünf intensive Tage voller Musik liegen hinter mir – das Météo Festival in Mulhouse war auch dieses Jahr den Besuch wert, auch wenn das Programm insgesamt nicht ganz an jenes beiden Vorjahre heranreichte. Es war mein dritter Besuch und der erste, bei dem ich auch den Eröffnungsabend besuchte, bisher reiste ich jeweils erst am zweiten Tag an. Das, so fand ich schon gestern Nachmittag, ist eigentlich keine so schlechte Idee, denn fünf Tage mit Musik von 11:30 bis nach Mitternacht sind schon etwas viel (nur der Eröffnungsabend beginnt erst um 18 Uhr mit einem Gratiskonzert, das ich ausliess, und danach um 20 Uhr im örtlichen Theater).

Aber gut, von vorne … die schlechten Handy-Photos sind leider alles, was ich habe, ich hoffe in diesem Kleinformat kann man sie halbwegs goutieren.

: : Dienstag 21.08.2018 : :

Pat Thomas Plays Thelonious Monk

Den Auftakt hätte ein Solo-Konzert von Keith Tippett machen sollen. Der scheidende Festival-Leiter Fabien Simon war etwas mehr als eine Woche vor Beginn noch optimistisch, Tippett wolle spielen, seine Genesung gehe gut voran. Leider wurde letzten Sonntag dann verkündet, dass Tippett absagen müsse und Pat Thomas mit einem Monk-Programm einspringen würde. Der englische Pianist war vor zwei Jahren eine meiner Entdeckungen am Météo, er spielte damals im Trio mit William Parker und Hamid Drake ein sehr schönes Set. Das Monk-Programm begann ganz gut. Thomas hatte einen dicken, zerfledderten Band mit Noten dabei, in dem er jeweils etwas blätterte, ob die Setlist geplant war, wurde nicht klar. Er spielte einen Klassiker am anderen, wohl eine gute Stunde – und nach ungefähr drei Stücken hatte man gehört, wie er das machte: die Hände bewegten sich auseinander, die Strukturen, die bei Monk so streng sind, zerfielen – aber nicht ganz, es war eher so, als würde Thomas sie in eine freie Spielweise übertragen, die natürlich an Cecil Taylor geschult ist. Die Hände flogen hin und her, meist landete die Linke früher oder später ganz tief im Bass und die Rechte hämmerte schrille Diskant-Töne heraus. Kleine Riffs, grosse Riffs, feine Riffs, gehämmerte Riffs, wuchtige Riffs, clustrige Riffs, Melodiefetzenriffs, witzige Riffs, wiederholte Riffs, Riffs, Riffs, Riffs. Als kleines Kontrastprogramm gab es ein paar von Monks Balladen und einen Augenblick dachte ich, Ran Blake spiele ein „Monk Noir“-Programm, doch bald wurde wieder munter die Thomas’sche Variante von Free-Stride gegeben. Das hatte Witz, das hatte Schmiss, das machte durchaus Spass – aber am Ende war es eben auch ein wenig frustrierend, weil der malträtierte Flügel kaum längere zusammenhängende Passagen von sich gegeben hatte, weil eigentlich nur zerlegt wurde, ohne dass danach auch wieder etwas zusammengesetzt wurde. Quasi kubistischer Monk, aber die Einzelteile zusammenfügen musste man selbst, daran schien Thomas nicht weiter interessiert. Dennoch war das für meine Ohren durchaus ein Weg, wie man ein solches Monk-Programm machen kann – etwas daran feilen könnte er aber schon noch – und versuchen, nicht immer wieder in dieselben Dekonstruktionsmuster zu fallen … und vielleicht sogar, die Scherben auch wieder zusammenzulesen und mit ihnen etwas Neues zu bauen?
Das gibt wohl knapp * * *1/2 (im Augenblick fand ich das Konzert noch etwas besser)

David Murray „Infinity Quartet“ feat. Saul Williams
David Murray (ts, bcl), Orrin Evans (p), Jaribu Shahid (b), Nasheet Waits (d), Saul Williams (poet)

Nach der Pause betrat David Murray mit seinem Infinity Quartet und dem Poeten Saul Williams die Bühne des Théâtre de la Sinne, in dem wohl auch die Opéra national du Rhin (Strasbourg/Colmar/Mulhouse) manchmal Aufführungen macht. Die Gruppe hatte ich vor einigen Monaten endlich (und damit auch endlich Murray) gehört und das Konzert damals war ziemlich gut – es umfasste zwei Sets und die Musik schien einen stetigen Steigerungslauf zu nehmen. Dasselbe geschah in Mulhouse, aber über kürzere Distanz und mit einem sehr schnellen Aufbau. Murray macht einen etwas steifen Eindruck, sein Ton ist jedoch immer noch grossartig – aber seine Lust auf kohärente Soli wohl etwas geringer als auch schon. Mal umspielte er die gesprochenen Texte von Williams mit spontanen Girlanden, dann folgte ein fertiges Arrangement, in dem Saxophon und Stimme zusammenwirkten … am Ende war das ein sehr gutes Konzert, auch dank der überragend aufspielenden Rhythmusgruppe. Besonders grossartig fand ich einmal mehr Nasheet Waits – sicherlich einer der tollsten Drummer derzeit!
In Sternen: * * * * (mit einem halben Extra für Waits und Williams – Platz 5)

: : Mittwoch 22.08.2018 : :

Am zweiten Tag fing das volle Programm an, das jeweils in etwa so aussieht: Kinderkonzert (20-25 Minuten) in der Bibliothek an der Grand Rue um 11:30, dann Anstehen vor der Chapelle Chapelle Saint-Jean direkt daneben, wo um 12:30 das eigentliche Konzertprogramm beginnt. Dann ist Pause (etwas spät fürs Mittagessen, da viele Restaurants um 14 Uhr schliessen und eine Viertelstunde davor eigentlich keine Kundschaft mehr wollen), bis es um 17:30 an einer der weiteren Spielstätten in der Stadt mit den „kleineren“ Konzerten weitergeht (weitere Solos, Duos, Elektronisches, Zeitgenössisches/frei Improvisiertes …). Abends um 21 Uhr folgen dann, stets im Noumatrouff im Norden der Stadt, wo auch ein paar Food Trucks stehen (in Gelb und direkt dahinter in Braun auf dem Bild ganz oben zu sehen), die drei Hauptkonzerte des Tages.

Am ersten Tag machte Jean-Luc Cappozzo in der Bibliothek den Auftakt. Nach den etwas schwierigen Konzertkonzerten, die ich in den letzten beiden Jahren erlebte (William Parker versucht, mit den Kindern einen 7/4 zu spielen und zu tanzen, spricht aber kein Wort Französisch, immerhin kam er natürlich gut an … andere – s.u. – tun eher so, als wären die Kinder ihnen egal), war es schön, dass ein Franzose da war, der auf die Kleinen einging, ihnen das Instrument erklärte, mit ihnen redete, sie einbezog. Trompete spielte er natürlich nicht so viel, aber er schloss mit einem ordentlichen Solo-Stück (ich glaube, es war – dem Tageszeitpunkt eher unangemessen – „Round Midnight“, das Pat Thomas am Abend zuvor auch schon um halb neun abends gespielt hatte).

Danach ging es rüber zur Kapelle, in der Peter Evans Solo das erste der Solo-Konzerte spielte. Er gab dieses Jahr einen der vier Workshops und wie üblich waren die Workshop-Leiter bei den Solo-Konzerten gut vertreten (nur Xavier Charles spielte keines, seinen Slot übernahm Jean-Luc Guionnet und Robin Hayward). Peter Evans hatte ein Mikrophon vor sich, das er aber nur teilweise nutzte, um mit Delay und Echo-Effekten zu arbeiten. Er spielte mehrere lange Segmente, allesamt so intensiv, wie man es bei ihm erwartet – ich hätte Wetten abschliessen können, ob zuerst sein oder mein Kopf bersten würden, ob des Druckes und des völlig irren Tempos, mit dem er zugange war, ob der Fülle an musikalischen Informationen, die kaum noch zu bewältigen war. Allerdings gab es immer wieder Momente von grosser Schönheit – die tollsten waren jene, wenn er quasi Bach a 3 zu spielen schien, wenn der Eindruck entstand, er spielte mehrere Melodien zugleich und auch gleich noch eine Begleitung dazu. Das war natürlich nicht weniger rasant als die Cluster und Zirkulär-Segmente anderswo im Konzert, eher im Gegenteil – aber es entstand eben auch der paradoxe Eindruck einer grosse Ruhe und Gelassenheit.
* * * *

Am Nachmittag ging es im Industrieareal „Friche DMC“ weiter. „Friche“ heisst soviel wie Brache, wobei der Begriff verwirrlich ist: die ehemalige – teils wohl immer noch – Fabrik von Dollfus-Mieg et Compagnie sieht im Gegenteil zu umliegenden Flächen noch ziemlich intakt aus, in einem ehemaligen Fabrikgebäude gibt es heute Ateliers und Veranstaltungsräume – „Motoco“ heisst diese Institution oder was immer das eigentlich ist. Die Geschichte der DMC liest am besten in der alemannischen Fassung auf Wikipedia (laut lesen mit einem völlig arbiträr klingenden Singsang, der natürlich nicht arbiträr ist, aber auch völlig nicht französisch, und dann kann es was werden mit dem Elsass).

Bisher liess ich die Konzerte im Motoco jeweils aus – auch weil das Areal recht weit aussen liegt und zu Fuss etwas mühselig zu erreichen ist (man braucht aus dem Stadtzentrum etwa eine halbe Stunde, vom Motoco zum Noumatrouff dann noch einmal etwa so lang – vom Noumatrouff zum Zentrum sind es eher zwanzig Minuten – es gäbe einen überfüllten Festivalshuttle, aber den habe ich wohl zweimal für die Fahrt vom Noumatrouff zurück benutzt in den letzten drei Jahren … drei Strassenbahnlinien und einige Buslinien gäbe es auch, klar, aber um Mitternacht ist Betriebsschluss und zu Fuss sieht man eh am meisten).

Es ging nun also raus, durch Viertel, die mit einst ordentlich bürgerlichen Häusern gebaut wurden (teils auch kleinen Reihenhäuschen), die aber ziemlich heruntergekommen sind und verdeutlichen, wie strukturschwach die Gegend ist, auch in Mulhouse, das doch noch einigermassen im Schuss zu sein scheint). Der grosse Raum, in dem die Konzerte stattfinden, war leider idiotisch beleuchtet (kein Licht für die Musiker, viel Licht überm Publikum) und überhaupt nicht belüftet. Dass die Musik der ersten Gruppe, Streifenjunko, auch nicht gerade viel Vergüngen bereitete machte aus dem ganzen eine einschläfernde Sache. Eivind Lonning und Espen Reinertsen spielten an Trompete bzw. Tenorsaxophon mehr oder weniger synchron einzelne Töne, Liegetöne, die da und dort etwas verfremdet wurden, mal ging das seeeeeehr langsam, mal einfach nur langsam. Als man endlich wieder raus konnte, gingen wir auch gleich – und verpassten ein zweites, anscheinend auch nicht besseres Set von Jean-Philippe Gross/Axel Dörner (elec bzw. t/elec). Aber es war klar, dass wir am nächsten Tag den weiten Weg wieder unter die Füsse nehmen würden.
Sterne? Eigentlich nicht. Jedenfalls nicht mehr als: * *

Bis hierhin war der Tag eigentlich ein reiner Trompetentag – eine etwas seltsame Programm-Idee, die auch nicht sonderlich gut funktionierte, mit dem sehr soliden Evans-Set als bisherigem Höhepunkt, der aber im zähen Fluss der Hitze auch schon fast vergessen war. Umso schöner, dass der Auftakt des ersten Abends im Noumatrouff mit Michiyo Yagi Solo das erste grosse Highlight bot – und überhaupt die grosse Entdeckung des Festivals war (obwohl ich schon einzelne Aufnahmen kannte, aber nichts, wo ihre Kotos so richtig zu taxieren sind, wie das bei einem Solokonzert dann eben ging). Sie hatte ihre beiden Instrumente dabei, gemäss den Angaben auf den verschiedenen Neuzugängen der CD-Sammlung eine elektrische mit 21 Saiten sowie eine 17saitige Bass-Koto. Von einfache gezupften Melodien und Riffs ging das hin zu mit Loops und Verzerrung ergänzten, komplexen Klangebilden, in denen der äusserst reiche Klang des Instruments nie vergessen ging. Gekonnt baut Yagi dabei Bögen auf – und findet noch aus jeder schwierigen Situation wieder heraus (wenn sie am Bass-Instrument vorne einen Loop laufen hatte, über den sie an der elektrischen Koto hinten improvisierte, konnte sie den Loop nicht stoppen, ohne wieder nach vorn zu gehen …). Als Zugabe spielte Yagi dann noch „River Man“ von Nick Drake – und klar, das passte ganz wunderbar. Mit diesem Konzert war der Tag jedenfalls fraglos gerettet – genau wegen solcher Entdeckungen ist das Festival mir in den letzten zwei Jahren so lieb geworden.
* * * * oder auch ein halber mehr (Platz 3)

Die nächste Band, Ahmed, bestehend aus Pat Thomas (p), Joel Grip (b), Antonin Gerbal (d) und Seymour Wright (as), war eigentlich diejenige, bei der ich Erwartungen hatte. Das „eigentlich“ verrät schon: eingehalten wurden sie nur sehr bedingt. Im Programmheft, das heuer mit ziemlich blöden Texten glänzte, wurde eine Band angekündigt, die Ahmed Abdul-Malik zum Ausgangspunkt machte, einen in Sufismus bewanderten Musiker, der Ost und West habe verbinden wollen, „[a] kind of transcultural Sun Ra, closer to humans than to the inhabitants of the great beyond.“ Malik hätte die vier Musiker dazu inspiriert, seine Stücke neu zu denken, neue Möglichkeiten ans Licht zu bringen, die sie böten, was Vorstellungskraft und instrumentale Mittel bettreffe. Nunja. Los ging es noch halbwegs vielversprechend mit einem guten Solo von Joel Grip – eben: Ahmed Abdul-Malik, dachte man. Dann setzten die anderen ein und es geschah … nichts? Oder eben doch? Grip und Gerbal verzahnten sind in hypnotischen Grooves, vor allem Grip machte dabei durch das Set hindurch einen super Job, ohne jeglichen Ausrutscher (Gerbal verhaute sich mal ein wenig). Wright spielte nur hässliche Einzeltöne, meist in gleichbleibenden Abständen, manchmal kreischte sein Saxophon, dann kamen einfach wieder schrille, wüst gespielte Töne – quää … quää … quää … quää. Pat Thomas am Klavier hingegen machte ungefähr dasselbe wie mit Monk, einfach nun mit dem imaginierten Abdul-Malik. Das war nicht wenig genug und auch nicht viel genug – eigentlich dasselbe Dilemma wie am Abend davor (wo man wenigstens noch hätte sagen können: gut, Monks Stücke klingen ja auch alle irgendwie gleich). Man dachte bei dem Set unweigerlich an die tollen Sets, die im Vorjahr das milesdavisquintet! und The Necks spielten – doch eben: dazu lief bei Ahmed wiederum zuviel bzw. es gab zuwenig Stringenz. Es folgte nach dem langen Stück noch ein viel kürzeres als Zugabe – eine Zugabe, die eher die Band spielen wollte, als dass das Publikum sie eingefordert hatte. Im kleineren Format funktionierte das für mich dann auch etwas besser, es wurde tatsächlich deutlich, dass die vier jetzt ein anderes Stück spielten. Vielleicht hätten sie das ganze Set auch besser etwas kleinteiliger gestaltet? Jedenfalls Daumen hoch für Joel Grip!
Fazit: * * *

Der Abend wurde nicht mehr besser – aber Yagi war da, nicht bloss, weil man sich an etwas festhalten wollte nach diesem insgesamt ziemlich unbefriedigenden Tag, sondern weil ihr Solo-Set wirklich toll war. Den Ausklang machte die Gruppe Nimmersatt feat. John Rose. Neben Rose an der Violine besteht die Gruppe aus den beiden Veteranen Chris Cutler (d) und John Greaves (elb) sowie zum Glück noch Daan Vandewalle (p, org), der das Trio wohl gegründet hat. Ganz nach dem Credo der beiden alten Halb-Meister ging es zu und her: rejection! Es wurde zwar proggig getrommelt und gebasst, aber in der Regel wurden Grooves und Melodien umschifft. Frei war dabei allerdings auch nichts, eher planlos stattdessen. Man wollte virtuos sein, aber in keine Falle tappen. Der Kitt zwischen den zwei irgendwie doch recht ulkigen Herren und dem etwas abseits sitzenden und in der Band nicht weiter hilfreichen Rose war die Orgel, die Vandewalle häufiger als den Flügel bediente. In den ersten Minuten hatte ich die Befürchtung, das sei eine Art Wiederauflage des grauenvollen Trios Alvin Curran/Frederic Rzewski/Richard Teitelbaum vom letztjährigen Festival, doch irgendwie entwickelte das Set dann doch einen eigenwilligen Reiz. Cutler ist jedenfalls auf seine eigene Art in Ordnung, Greaves war eher etwas nervig (und wurde an seinem hässlichen kopflosen Minibass später auch noch richtig mühsam fusionkitschigmelodisch – wohl als er die rejection mal kurz vergass). Rose blieb ein Rätsel, weder schrammelte er richtig, noch spielte er irgendetwas aus – aber die Aura des (Zen-)Meisters hat er sich hervorragend antrainiert.
In Sternen: * *1/2 (unmittelbar danach wäre es wohl noch ein halber mehr gewesen)

: : Donnerstag 23.08.2018 : :

Stand der Mittwoch im Zeichen der Trompete, so begann der Donnerstag mit dem Kontrabass. Joel Grip, der sich am Vorabend mit der Gruppe Ahmed wohl die Finger wund gespielt hatte, kam im Kinderkonzert gleich nochmal zum Einsatz. Auch er, wie am Vortag Capozzo, bezog die Kinder mit ein ins Geschehen, erzählte ihnen die Geschichte von einem Seemann, der um die Welt zog – und natürlich ein Kontrabass war. Auch das klappte wieder super und machte auch für die Grossen Spass – die Reaktionen der Kleinen zu beobachten gehört dabei natürlich mit dazu.
In Sternen: * * *

In der Kapelle gab es direkt im Anschluss Pascal Niggenkemper Solo – wohl das rundeste der diesjährigen mittäglichen Solo-Konzerte. Niggenkemper gelangen zwar die grossen Bögen nicht immer, aber sein konventionelles Spiel gepaart mit den diversen Präparationen bzw. Objekten, mit denen er am Griffbrett und zwischen den Saiten operierte, sorgten für Abwechslung und eine grosse klangliche Breite. Es geht bei diesen Solo-Konzerten ja durchaus auch darum, in dem Raum etwas zu machen, was passt, und das war dieses Jahr hier und vielleicht zum Abschluss bei Guionnet (siehe Samstag) am ehesten der Fall. Bei Evans waren es die erwähnten Momente, bei Rose … nunja, siehe Freitag.
Fazit: * * * *

Am Nachmittag ging es wieder raus zum Motoco, wo als erstes ein Duo auf dem Programm stand, das eigentlich auch fast eher ein Solo war: Sofia Jernberg/Mette Rasmussen. Die Sängerin Jernberg und Rasmussen am Altsax legten volle Kanne los, mit einem hohen Ton, den sie allmählich – bis über die Schmerzgrenze hinaus – auseinanderdividierten. Hier wurde mit grösstem Bewusstsein zusammengewirkt, wurde unter vollständiger Kontrolle grösstmögliche Freiheit geschaffen. Rasmussen war – nach dem Solo-Konzert, das ich im März in St. Johann hörte – einmal mehr vollkommen überzeugend. Jernberg neben sie zu stellen wäre an sich nicht unbedingt nötig gewesen, doch die Ergänzung passte gut und bot auch fürs Auge einiges (obwohl das Licht, wie man auf den Fotos sehen kann, einmal mehr bekloppt eingerichtet war – vielleicht vergass auch bloss jemand an beiden Nachmittagen, das Licht bei Konzertbeginn umzustellen … der tolle Raum, als den die Veranstalter das Motoco lobten, ist es jedenfalls nicht: bescheidener Klang, schlechtes Licht, keine Lüftung, kein Charisma und obendrein dicke Säulen, die im Weg stehen, wenn man sich nicht rechtzeitig einen guten Platz sichert). Egal, für mich war diese Grenzerfahrung (auch was die Hitze betraf) Nummer zwei unter den Konzerten des Festivals. Ich hätte gerne öfter die Gelegenheit, Rasmussen zu erleben – sie glänzte mit ihrem Ton, den man in der kargen Halle natürlich auch umso intensiver hören konnte und beeindruckte wie im erwähnten Solokonzert mit der grossen Breite ihrer Musik. Das alles gilt – vom Ton abgesehen natürlich – eigentlich auch für Jernberg, denn was die beiden boten, hatte wirklich etwas nahezu symbiotisches.
In Sternen also: * * * *1/2 (Platz 2)

Dieses Mal, das war klar, gehörte auch das zweite Konzert angehört. Denn es war Nicole Mitchell Solo, mit diversen (Quer)Flöten, die zu hören war. Ihr gelangen die grossen Bögen nicht – und der Raum war ihr auch absolut keine Hilfe. Etwas verloren schien sie, doch das spielt keine Rolle: weiter machen, das alles ist ja auch irgendwie Arbeit, Schweiss gehört dazu, manchmal muss die Mühe halt sein – und lohnt doch nur halb. Es drängte sich die Frage auf, ob ein Konzert in der Kapelle besser geklappt hätte – man weiss es natürlich nicht. Sicherlich wäre eine Partnerin oder ein Partner hilfreich gewesen, jemand wie Tomeka Reid vielleicht … oder Joshua Abrams, der am nächsten Abend zu hören war? So blieb der Eindruck gespalten, das Set wirkte nicht sehr schlüssig, hatte aber doch immer wieder schöne Momente.
Fazit: * * *1/2 (knapp)

Am Abend ging es mit der ersten grossen Besetzung los – das „System Brache“ mit dem „Gesang der Spuren“ (oder so ähnlich): Système Friche II „Le Chant des Pistes“. Das Line-Up: Jacques Di Donato (cl, dir), Xavier Charles (dir, cl), Isabelle Duthoit (voc, cl), Nicolas Nageotte (bari), Jean-Luc Cappozzo (t), Franz Hautzinger (t), Bruno Maurice (acc), Simon Henocq (g), Soizic Lebrat (vc), Benjamin Duboc (b), Félicie Bazelaire (b), Thierry Waziniack (d, perc), Roméro Monteiro (d, perc), Alfred Spirli (perc, objects). Auf der Bühne im Noumatrouff wirkte das einmal mehr etwas deplaziert, nicht zwingend genug, zu humoristisch und in seiner Spielanordnung ziemlich chaotisch. Es gab allerdings grossen Applaus – sind ja auch einige Helden der französischen Szene dabei. Am besten fand ich, so es denn sinnvoll ist, Leute herauszugreifen, Jean-Luc Cappozzo an der Trompete und Jacques Di Donato an der Klarinette. Di Donato und Xavier Charles, von dem man leider nicht viel zu hören bekam, leiten die Gruppe zusammen – sie lenkten, gaben Einsätze und Richtungen. Es muss eine Art Partitur gegeben haben, die mit viel Freiraum umgesetzt wurde. Mal schrie Duthoit hinten in der Mitte, dann spielte sie zusammen mit Nageotte am Baritonsaxophon ein Riff, über das die Band einfiel. Benjamin Duboc am Bass machte wie zu erwarten einen guten Job, die junge Félicie Bazelaire hängte sich da eher etwas an dünkte mich, richtige Zwei-Bässe-Passagen gab es eigentlich nicht (oder aber sie gingen in den kollektiven Geräusch-Impros unter).
Fazit: * *1/2 oder knapp * * *

Die Erwartungen für das nächste Set waren nach dem tollen Auftritt vom Vorabend hoch: Michiyo Yagi/Tony Buck stand an. Yagi hatte wieder ihre beiden Instrumente hintereinander aufgebaut, Buck sass auf der anderen Bühnenhälfte an seinem Schlagzeug. Allmählich bauten die beiden auf, es wurde intensiver, lauter, dichter, bis eine Art Drone-Teppich entstand – eine ganze Weile dachte ich, das sei es jetzt und so gehe es weiter – doch weit gefehlt: Yagi brach aus, begann zu solieren und nutzte einmal mehr die breite Klang-Palette ihrer beiden Instrumente inklusive Loops und Effekte. Am Ende war gewissermassen alles gesagt und auch ziemlich klar, dass das an diesem Festival nicht mehr zu toppen sein dürfte – das Set schrammte nur knapp an den vollen fünf Sternen vorbei und blieb tatsächlich bis zum Schluss das grosse Highlight. Aufgenommen hat Yagi bisher in erster Linie mit Paal Nilssen-Love und zuletzt auch mit Tamaya Honda – ein Album mit Buck wäre natürlich höchst willkommen! Dass die beiden zum ersten Mal aufeinander trafen machte die Sache nur noch eindrücklicher, wenngleich vermutlich das eine oder andere bei künftigen Konzerten noch etwas schärfer werden könnte. Beglückende Musik!
Fazit: * * * *1/2 (Platz 1)

Das letzte Konzert vom Duo Senyawa (Rully Shabara, Gesang und Wukir Suyadi, Bambuwukir) liessen wir denn auch bleiben, es war mehr als genug für einen Tag – und mit den Duos Jernberg/Rasmussen und Yagi/Buck trotz einem durchwachsenen Fazit auch zwei grossartige Konzerte dabei.

: : Freitag 24.08.2018 : :

Der vierte Tag, der dritte mit vollem Programm, begann mit Jacques Di Donato und seiner Klarinette im Innenhof der Bibliothek. Es war kühler geworden aber noch regnete es nicht. Der kauzige Typ mit seinem Bart und den langen grauen Haaren machte den Kindern wohl eher Angst, als dass sie ihn lustig fanden. Er sprach kaum ein Wort, spielte etwas – recht schrill und ohne sich viel Mühe zu geben, so schien es. Die Lüftung im Hof, die in grösseren Intervallen anging und schon bei den Solokonzerten davor aufgefallen war, klang jedenfalls interessanter als er.
Fazit: * *1/2

Weiter ging es in der Kapelle nebenan mit Jon Rose Solo – bzw. wie die Ansage richtig meinte: Jon Rose im Dialog mit seinem Klangarchiv. Rose spielte ab Konserve diverse Sachen ab und improvisierte dazu – das war weder ein richtiges Solokonzert noch kam viel dabei heraus. Auch bei seinem zweiten Auftritt entstand nichts halbwegs Zwingendes oder Kohärentes. Gegen Ende des ersten Segmentes begann er dann plötzlich wild zu spielen – und für einen Moment hoffte ich, dass er doch noch die Kurve kriegt. Doch in der Folge gab es mehr davon: Fetzen über Samples, duplizierte Samples, Samples, zu denen er kaum was machte (klar, das auf dem Band war auch er, aber das ist im Konzert dann halt schon etwas seltsam) … und wann immer er länger spielte, war er im siebenten Gang und ausser Virtuosität war da auch nicht viel. Immerhin hatte ich da keine Erwartungen, die enttäuscht werden konnten …
Fazit: * *1/2

Am Freitag gab es zwei Nachmittagskonzerte an verschiedenen Orten. Um 16:30 erklang in der Église Sainte-Marie Wolfgang Mitterer „Grand Jeu 2“. Mitterer sass an der Orgel – die klang allerdings so dünn und körperlos, dass ich bis zum Ende glaubte, er hätte nur an seinem Synthesizer gesessen. Das ganze Stück kam mir reichlich verworren vor, aneinandergekleistert und zugekleister zugleich. Das französische Radio war da und ich konnte mir schon im Verlauf des Konzertes gut vorstellen, dass das Ding im Radio besser rüberkommt als im Konzert, denn Live-Musik war das erstmal ganz und gar nicht, zum zweiten drängte sich auch die Frage auf: Warum die ganze Synthetik, wenn man doch ein Orchester haben könnte? Und warum die Synthetik, wenn nebenan (so meinte ich da noch) eine richtige Orgel steht, die ja auch allerlei an Klängen zu bieten hat.
Auch hier: * *1/2

Der zweite Block des Nachmittags folge im Kulturzentrum La Filature (das Wort meint „Spinnerei“, was zur ehemaligen Textilindustriestadt passt), in dem Oper, Konzerte (Klassik und Jazz), Filme und mehr zu sehen sind. Hier war es nun, das grosse Orchester, nämlich das Splitter Orchester aus Berlin, das die Komposition „Vollbild“ von Jean-Luc Guionnet aufführte. Das Line-Up: Axel Dörner (t), Liz Allbee (t), Matthias Müller (tb), Michael Thieke (cl), Kai Fagaschinski (cl), Anat Cohavi (bcl), Chris Heenan (contrabass cl), Sabine Vogel (fl), Robin Hayward (tuba), Simon J. Phillips (p), Magda Mayas (clavinet), Julia Reidy (g), Biliana Voutchkova (v), Anthea Caddy (vc), Clayton Thomas (b), Mike Majkowski (b), Steve Heather (d, perc), Burkhard Beins (perc), Morten J. Olsen (perc), Mario De Vega (objects, elec), Andrea Neumann (objects), Marta Zapparoli (elec), Boris Baltschun (elec), Ignaz Schick (elec), Jean-Luc Guionnet (composition). Zu hören war in der Stunde leider kaum etwas. Wenn die Schlagzeuger nicht mit ihren Gürteln auf die Snare droschen oder ihre Materialkisten auf den Boden fallen liessen, gab es nur Pianissimo bis maximal Mezzopiano. Dörner spielte zwar über längere Strecken leise Linien und Melodien, ansonsten war das Ding von einer Ereignisarmut, die man schon erstmal hinkriegen muss. Um minimalistisch zu sein war es allerdings einmal mehr nicht streng und stringent genug … der Applaus war der kürzeste des Festivals und die Hälfte des Publikums stand auch schon, als er noch nicht verklungen war. Auch hier war das Radio dabei – allerdings kann das Ding so wie es im Saal geklungen hat, unmöglich ausgestrahlt werden – Umgebungsgeräusche würden drei Viertel der Musik auffressen und viele Hörer würden wohl den Kanal wechseln, weil sie nichts hören. Wenn man die Level massiv hochschraubt, könnte das Ding wiederum ganz interessant werden, wer weiss – doch leider war es das im Konzert gar nicht. Wie im lezten Jahr beim grossen eher der neuen Musik als dem Jazz zugewandten Orchester bestand aber die Hoffnung, dass die Gruppe am folgenden Tag mit eigener Musik besser sein würde (war sie zum Glück).
Fazit: *1/2 – ein gewaltiger Aufwand für praktisch gar nichts

Der Tag war bis dahin leider ziemlich missglückt – doch der Abend riss das wieder heraus. Ein richtiges Glanzlicht gab es zwar nicht mehr, aber drei gute bis sehr gute Konzerte. Den Auftakt machte das Duo Charles Hayward/Tony Buck. Hayward, Gründungsmitglied von This Heat (siehe Samstag), sang ein paar Songs, Buck hatte eine Gitarre dabei, deren tiefste Saite auf den Boden hing aber an beiden Enden eingespannt war (wo sind die Gitarristen, was bewirkt das? unberechenbare Nebentöne, wenn er das Ding richtig aufdreht und drauf herumschrammt?) – dass Hayward kein wirklich toller Drummer ist, merkte man zwar bald, aber die beiden machten wenig falsch und das Set klappte ganz gut.
Fazit: * * *1/2

Danach folgte eine der Gruppen, auf die ich mich sehr gefreut hatte, A Pride of Lions mit Joe McPhee (as, ss, pocket t), Daunik Lazro (ts), Joshua Abrams (b, guimbri), Guillaume Seguron (b) und Chad Taylor (d, mbira). McPhee trat mit einem weissen Plastic-Altsaxophon à la Ornette Coleman auf die Bühne später griff er zur Pocket Trumpet und zum Sopransaxophon. Den Hauptteil der Solo-Arbeit liess er Lazro machen, der gleich zu Beginn ein hart phrasiertes, intensives Solo spielte und noch ein paar weitere folgen liess. Chad Taylor beeindruckte mich bei dieser zweiten Gelegenheit (nach Chicago/London Underground in Italien an Pfingsten) einmal mehr sehr – neben Nasheet Waits der wirklich grossartige Drummer des Festivals, wenigstens wenn es um den Jazz im Kern geht (Buck höre ich da irgendwie anders, und er hat mich auch nicht immer so überzeugt wie mit Yagi – letztes Jahr spielte er in Mulhouse z.B. ein ziemlich ödes Duo-Set mit Magda Mayas). Die Löwen brachen ihre Musik auch immer wieder auf, Abrams setzte sich hin und griff zur Gimbri (aka Sintir), Taylor hatte seine elektrisch verstärkte Mbira dabei (die in Italien ausfiel, weil man ihm falsche Angaben zur Stromspannung gemacht hatte und irgendwas durchgebrannt war), so gab es neben hartgesottenem Jazz auch stillere und sehr lyrische Momente, die denn auch zu McPhees besten gehörten, sei es an der Trompete oder am Sopransaxophon (an dem ich ihn noch nie live gehört hatte). Ein sehr stimmiges aber nicht wirklich mitreissendes Konzert, das für mein Empfinden gerne etwas länger als die 45 oder 50 Minuten hätte dauern dürfen.
Fazit: * * * *

Den Ausklang machten dann, nachdem die Stühle weggeräumt worden waren, die Sons of Kemet mit Shabaka Hutchings (ts), Theon Cross (tuba), Eddie Hick (d) und Tom Skinner (d). Die beiden Drummer funktionierten hervorragend zusammen, Skinner vielleicht etwas präziser, Hick etwas überschwänglicher. Shabaka Hutchings am Tenorsax war dennoch die Hauptattraktion, begnügte sich aber oft mit Riffs und einem Hin- und Her mit Theon Cross an der Tuba. Was dieser mit seinem langen Solo anzurichten vermochte, war ziemlich krass zu beobachten (der Rest der Band ging hinter die Bühne, sie wollten sich das wohl nicht schon wieder mitansehen). Mir persönlich fällt es schwer, mich auf diese Weise in etwas zu verlieren – am ehesten geht das wohl im Kino oder in der Oper – beides sind vergleichsweise einsame Vergnügen, aber sind das nicht sowieso die Momente, wo man am besten merkt, wie existentiell allein man eigentlich ist? Die Musik der Sons of Kemet ist natürlich eher zum Tanzen als zum Hören gemacht, die Halle kochte denn auch, obwohl das Set mit seinen 90 Minuten wenigstens 20 Minuten zu lang geriet. Live gerne wieder, auf CD hat sich die Band für mich inzwischen wohl etwas erschöpft, das aktuelle Album hat jedenfalls leider nicht mehr richtig geklickt.
Fazit: * * * *

: : Samstag 25.08.2018 : :

Der nächste Tag begann mit dem letzten Kinderkonzert, das leider wegen Regens in den etwas engen Seminarraum der Bibliothek verlegt wurde. Es spielte Julia Reidy, die Gitarristin, die mit dem Splitter Orchester unterwegs ist. Sie schrammelte etwas auf einer akustischen Gitarre herum und war weg, bevor man sich’s versah – ein völlig autistischer Auftritt leider.

In der Kirche gab es zum Ausklang ein Duo: Jean-Luc Guionnet/Robin Hayward. Die beiden gliederten ihr Set in drei Teile: Hayward, der Tubaspieler im Splitter Orchester, begann solo, dann folgte ein Duo-Segment, und den Ausklang machte dann Jean-Luc Guionnet am Altsaxophon. Hayward nun legte endlich die zwingende, minimalistische Musik vor, die bis dahin immer verwässert worden war: er blies Töne – oder eher: einen Ton. Immer wieder. Mal kürzer mit längerer Pause, dann länger mit kürzerem Unterbruch. Er veränderte minimal die Tonhöhe, summte beim Spielen – die ungefähr zwanzig Minuten mit dem einen Ton wurden jedenfalls zu einer Art Erkundungstrip im einen Kopf, im eigenen Gehör. Dann stiess Guionnet dazu, spielte auch Töne, andere, mehr als einen, es öffneten sich ein paar Pfade doch die eigentliche Steigerung folgte dann zum Schluss, als Guionnet seine tolle Solo-Passage spielte: Mikrotöne, Multiphonics, aufgebrochene Klänge, wie man sie auf einem Blasinstrument nicht für möglich hielt (als ich danach ziemlich benommen davon lief, überholten mich Axel Dörner und Marta Zapparoli, beide auch mit dem Splitter Orchester zu hören, und sie schien ganz fasziniert von Guionnets Spiel).

Ich kam auf dem Weg zurück ins Zentrum an der Église Sainte-Marie vorbei, hörte daraus Orgelkänge und ging hinein. Tatsächlich spielte jemand noch ein oder zwei Minuten auf der Orgel – und sie klang genau so dünn und körperlos wie am Vortag bei Mitterer. Es scheint sich ja um ein besonderes Instrument zu handeln, das erst kürzlich restauriert wurde – aber für Mitterers Stück wäre eine Orgel mit etwas mehr Wumms, die nicht nur mittellaut in die Ohren sondern auch in den Bauch und durch die Brust geht, vermutlich schon passender gewesen.

Am späten Nachmittag ging es wieder in die Filature, zum zweiten Auftritt des Splitter Orchester (Line-Up siehe oben), in der Hoffnung, es würde sich diesmal etwas mehr ereignen. Diese Hoffnung wurde dann auch nicht enttäuscht, es wurde frei improvisiert und im Verlauf des etwa einstündigen Konzertes ergaben sich immer wieder schöne Momente, die Dynamik wurde einigermassen ausgereizt, verschiedene Kombinationen von Musikerinnen und Klängen kamen zum Vorschein, lösten sich und fielen wieder zurück. Was mich allerdings etwas konsternierte war, dass bei allen lauten Passagen am Ende nur noch die Schlagwerker und Elektronikerinnen zu hören waren, die Blas- und Saiteninstrumente zum reinen Effekt wurden, den man kaum noch wahrnahm. Klar, es gab da einige, die eh nur Effekt machten: Chris Heenan, der die Kontrabassklarinette fast immer, wenn er spielte, gegen die Decke hielt und Speicheltöne erzeugte, Liz Allbee und Julia Reidy, die eigentlich kaum spielten, und warum Magda Mayas überhaupt dabei war, wurde mir auch am zweiten Tag nicht klar. Dörner war diesmal nicht in Spiellaune, er setzte seine Slide-Trompete wohl dreimal für etwa zwei Minuten an, gab aber bei seinem zweiten Einsatz einen entscheidenden Impuls. Doch klar, bei einer solchen Gruppe geht es natürlich nicht um die einzelnen Beiträge. Ich hätte gerne mehr gewusst zu den vielen Tischen voller Untensilien, die die Elektronikerinnen und Elektroniker dabei hatten. Steve Heather sass diesmal hinten in der Mitte und hielt öfter das Geschehen zusammen, Simon J. Phillips, der auch am Vortag schon ein paar Pianissimo-Geklimper-Girlanden (Satire?) beigesteuert hatte, war wieder recht aktiv, und das waren auch Anthea Caddy am Cello und die beiden Bassisten, Mike Majkowski und Clayton Thomas (alle drei waren vor zwei Jahren schon am Météo vertreten), aber auch die meisten Bläser. Nach einem Höhepunkt, der gemeinsam angesteuert wurde, schien das Set zu enden – doch aus der Stille entwickelte sich eine lange, sehr leise aber doch feine Coda. Das war dann doch ganz versöhnlich nach dem dem Totalausfalls mit Guionnets Stück vom Vortag.
Fazit: * * *1/2

Am Schlussabend stand noch einmal der Trompeter auf dem Programm, der mit seinem Solo-Konzert am Mittwochmittag das Festival quasi zum zweiten Mal eröffnet hatte (der Abend im Theater fällt irgendwie ziemlich aus dem Rahmen). Das Peter Evans Ensemble mit Peter Evans (t), Mazz Swift (v, voc), Tom Blancarte (b), Jim Black (d, elec), Sam Pluta (elec) spielte im Filature ein feines, konzises Set. Zu Begin kam Jim Black alleine auf die Bühne („sorry, just me“) und legte los, nach ein paar Minuten stiessen die anderen dazu, Swift mit ihrer Geige, Evans mit seinen Trompeten, Blancarte mit seinem seltsamen kleinen Bass (an dem er einen Vibraphon-Schlegel befestigt hat, wohl damit die Distanz zum Körper ungefähr derjenigen eines ausgewachsenen Kontrabasses entspricht?), Sam Pluta setzte sich hinter seinen Tisch, an dem er eifrig neue Verkabelungen herstellte und anderswie herumwerkelte (wie gesagt: ich wüsste gerne einmal etwas genauer, was diese Leute da so genau anstellen – macht sich übrigens auch deutlich besser, als einfach hinter einem MacBook zu sitzen, was ich auch schon erlebt habe). Evans stand am rechte Rand der Bühne und feuert von dort die tollen Soli ab, doch Swift bot ihm die Stirn und hatte eine tolle Präsenz – im Dialog mit Evans oder mit Blancarte oder auch, wenn sie sang. Black hatte zu seiner Rechten ebenfalls einen Tisch mit elektronischen Geräten, die im Verlauf des Sets zum Einsatz kamen. Das gelang alles sehr organisch und wurde stets als integraler Teil der Performance empfunden. Diese Mischung aus Band, die einen sehr eigenen Sound hat, kompakt und etwas düster, und den Freiräumen, die es darin für die einzelnen Musiker und die Musikerin gibt, ist es wohl die das Peter Evans Ensemble ausmacht. Ein feines letztes Jazz-Set für das diesjährige Festival, das übrigens mit einem Loop endete, während alle hinter der Bühne verschwanden – und erst ein paar Minuten später noch einmal kurz auftauchten, als der Loop stoppte, um den grossen Applaus entgegenzunehmen (und natürlich keine Zugabe zu spielen, das hätte ja die Dramaturgie völlig zerstört).
Fazit: * * * * (Platz 4)

Den Ausklang machte dann die Revival-Version von „This Heat“, die seit ein paar Jahren unter dem Namen This Is Not This Heat herumzieht. Mit Charles Hayward konnte man ja bereits Bekanntschaft machen, ansonsten war mir nur Alex Ward ein klein wenig ein Begriff (als Klarinettist z.B. bei Derek Bailey oder jüngst auf [Unite] von Alexander Hawkins). Doch hier gab es ganz andere Klänge. Los ging es – die Stühle waren wieder weggeräumt – mit massiven Klangattacken von drei elektrischen Gitarren – eine gespielt von Ward, der die Zeit wohl etwa gleich zwischen Gitarre und Klarinette verteilte. Die Lead-Parts spielten entweder das zweite mitwirkende This Heat-Gründungsmitglied Charles Bullen oder James Sedwards, der vorne rechts am Bühnenrand im Schatten stand. Bullen und Hayward teilten sich die Gesangsarbeit mit Daniel O’Sullivan, der zwei Keyboards bediente und eine Bassgitarre dabei hatte (die er einmal an Sedwards weiterreichte), neben Hayward sass Frank Byng am zweiten Schlagzeug. Ward sang ebenfalls manchmal mit, und obgleich schon beim Duo von Hayward mit Buck klargeworden war, dass ersterer kein begnadeter Sänger war (aber über eine ordentliche Ausstrahlung verfügt), so gerieten die Chorgesänge manchmal fast schon schockierend schief. Punk-Ethos? Keine Ahnung … für mich war diese Musik nicht, aber ich blieb dennoch bis zum Schluss, weil immer wieder ein Stück folgte, das ein wenig anders war oder anders zu werden versprach. Das Publikum dünnte sich aber allmählich aus – und diesmal wären erst recht keine 90 Minuten angesagt gewesen. Dennoch dank der rohen Power der Musik kein schwacher Ausklang.
Fazit: * * *

Alles in allem eine etwas durchwachsene Ausgabe nach den zwei letzten, sehr guten Jahren. Dennoch hat sich der Besuch wieder sehr gelohnt. Es gab diverse gute Konzerte von Leuten, die ich gerne wieder einmal hörte (oft in Besetzungen, die ich so noch nicht kannte) und auch die eine oder andere Enttäuschung, die nicht erwartet worden war, war verkraftbar. Obendrein ist das Konzept mit den Solo-Konzerten zum Auftakt und den Nachmittagskonzerten an verschiedenen Orten wirklich toll (und soll wohl im kommenden Jahr unter neuer Leitung auch beibehalten werden).

Die Fragen, die sich mir stellten: war die „Rock“-Auswahl dieses Jahr mit den bockigen Henry Cow-Veteranen, dem recht belanglosen Rose und den doch weit am Geschmack des Zielpublikum vorbeispielenden This Heat dieses Jahr etwas weniger gelungen als letztes Jahr, wo Père Ubu immerhin eins der stärksten Sets lieferte? Und: war vielleicht etwas zuviel an den Grenzen der neuen Musik dabei (und wie oben schon erwähnt: das passt nicht wirklich ins Noumatrouff – wobei Zeitkratzer mit „Metal Machine Music“ im vorletzten Jahr das widerlegten, aber das war halt schon auch ganz anders – sondern besser an die Nachmittage). Auch bin ich von der Spielstätte Friche DMC/Motoco alles andere als überzeugt, ein Nachmittag dort (wie die letzten beiden Jahre) würde es auch tun, so man da denn Rücksicht zu nehmen hat.

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