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alice & john, pt. 2 (1967)
knappe 4 monate bleiben john coltrane noch, bevor im mai 1967 die durch leberkrebs ausgelösten schmerzen ihm das weiterspielen für immer unmöglich machen. es wird viel darüber spekuliert, wann genau er ein bewusstsein seines nahen todes hatte – ob beispielsweise die kündigung der meisten für 1967 vereinbahrten live-touren und -auftritte und die vielen studio-sessions (mindestens 6) damit zu tun haben. keiner der männlichen coltrane-exegeten kommt dabei auf die idee, dass das auch damit zu tun gehabt haben könnte, dass alice am 19. märz den dritten gemeinsamen sohn oran zur welt bringt und man vielleicht mit seiner hochschwangeren oder noch stillenden pianistin nicht auf tournee gehen mag.
knapp einen monat zuvor, am 15. februar, entsteht im quartett ohne sanders ein konvolut von einspielungen neuen materials, das erst 1995 von alice ans tageslicht und mit dem albumtitel „STELLAR REGIONS“ belegt wurde.
8 stücke, 3 alternative takes, von auffälliger kürze: zwischen unter 3 bis knapp unter 9 minuten dauern die von alice mit kosmospirituellen titeln versehenen stücke, die einen erstaunlich durchdachten, konzisen und fast „klassischen“ eindruck machen. sie sind von zutiefst schönen themen geprägt, nach deren vorstellung john meist nur wenige takte improvisation braucht, um ihr großes potenzial deutlich zu machen oder direkt schon auszuloten. alices und jimmy garrisons begleitung ist in der themenvorstellung genau definiert (sehr toll z.b. die sich ausdehnenden klavierclusterwolken in „configuration“ und der gestrichene bass, der im wechsel zum pizzicato regelmäßig das solo ankündigt). rashied alis spiel ist dicht und frei, es reißt den saxofonisten mehrfach zu duetten aus der umlaufbahn der kompositionen – ein konzept, das sie eine woche später konsequent weiterverfolgen, z.t. auf grundlage des gleichen materials (das am 22.2. eingespielte „venus“ ist das am 15.2. eingespielte „stellar regions“). johns ton ist dunkel und klar, von großer schönheit und sicherheit.
der musikalische dialog von john und alice hat ebenfalls eine neue qualität erreicht. sie sorgt mit garrison zusammen für dichte, wechselt in der begleitung von john zwischen unterstützung und eigenen bewegungen, die sie in ihren (wenigen) soli weiterverfolgt, die sich aus dem material stärker als vorher herausdrehen. ganz deutlich wird das z.b. auf dem kurzen alternative take von „tranesonic“, der ein schroffes kürzelthema vorstellt, dem ihr solo überhaupt erst einen sinn und eine athmosphäre gibt. ali nimmt währenddessen fahrt auf, während garrison harmonisch völlig frei agiert. beim einsatz von john geraten ali und garrison in ein konzeptionelles stottern, während alice cluster hineinwirft und dann in ihrer begleitung etwas völlig anders vorschlägt als in ihrem eigenen solo. johns konzises zurückfinden ins thema findet auf viel höherem energieniveau statt, endet schroff – und alice überlässt ihm dafür komplett das feld.
noch nie wirkte die spätere coltrane-band so „zusammen“, so beweglich auf engstem raum. keine steigerungslogik, kein energiefetisch, kein soundplay, sondern ein verbundenes kurzes abdriften aus statisch schönem material. simon weil hat in diesem interessanten, aber etwas verschenktem text darüber spekuliert, ob der astronomisch-kosmologisch interessierte coltrane 1965 vom beweis der urknall-theorie durch die entdeckung der kosmischen hintergrundstrahlung durch penzias und wilson gehört habe – woraus er sich die spirituelle bewegung coltranes von der universalen schöpferidee (A LOVE SUPREME) über die idee der großen einheitskraft (MEDITATIONS, OM) zu einem neuen bewusstsein für den gemeinsamen urpsrung aller voneinander wegstrebenden teile des kosmos (in den 1967er sessions) erklärt. weswegen die letzten sessions also eher einen sich verbunden fühlenden, aus der dichte herausführenden individualismus vorführten als das geräusch- und drone-spiel der auftritte mit dem sound player sanders.
dass coltrane am 22.2. mit rashied ali ins studio geht, um stücke mit planetennamen im duo einzuspielen, mag man durchaus damit erklären. (oder man kann darin eine aktualisierung seiner dialoge mit starken drummern wie philly joe jones und elvin jones hören).
wiederum 5 tage später geht coltrane wieder mit dem quartett ins studio (möglicherweise ist noch marion brown dabei, der sich daran aber nie erinnern konnte). wie die beiden eigenspielten neuen stücke klangen, wissen wir nicht, die aufnahmen wurden von abc in den 1970ern in den müll geworfen.
wieder nur knapp eine woche später, am 7.3., werden im quartett zwei äußerst interessante stücke eingespielt, die das „ausmisten“ überlebt haben.
„ogunde“ hat ein hymnisches thema, das in zwei kurzen solo-erkundungen ausgelotet wird. alices begleitung wechselt dabei wieder komplett den charakter vom arpeggienhaften sonorismus um den grundton zu einem stakkatohaften punktieren der atemlangen linien des ehemanns. das stück passt in seiner konzisen, kurzen form sehr gut zur 15.februar-session, hat aber tatsächlich ein aus afrobrasilianischen folklorenkontexten geborgtes thema („ogunde varere“). wie viele candomblé-themen ist das musikalisches geheimwissen – so etwas darf nur in bestimmtem kultischen rahmen gespielt werden. es gibt allerdings eine populäre, vielmehr quasi-operettenhafte aufnahme davon:
das zweite stück der session, „number one“, ist mindestens genauso interessant (es findet sich auf THE MASTERY OF JOHN COLTRANE/ VOL. III – JUPITER VARIATION). eine abstrakte, wenn auch thematisch gebundene, fast 12-minütige improvisation von john über einer freien triobegleitung, in der alice ziemlich individualistisch agiert. streckenweise spielt sie neben john solo, an anderer stelle begleitet sie gar nicht mehr. die band wirkt hier nochmal dichter als bisher, scheint am konzept der nach außen treibenden materie noch weiter arbeiten zu wollen.
neben „ogunde“ und dem in der 15.februar-session eingspielten stück „offering“ werden zwei weitere stücke mit unbekanntem einspieldatum von john coltrane persönlich für sein letztes album EXPRESSION zusammengestellt. das lange „to be“, in dem pharoah sanders und coltrane auf flöten vor einem dunkel flirrendem klanggebilde zu hören sind (alice hat dabei ein schönes, etwas suchendes solo), schließlich mit „expression“ eins der wohl schönsten stücke der coltrane-diskografie überhaupt – mit dem ersten klaviersolo, das ich von alice je gehört und in das ich mich auf der stelle verliebt habe:
auch hier ist wieder ein traumhaft schönes thema der startpunkt, das mit jeder kleinen entwicklung an intensität gewinnt. allein hier drängt coltranes ton schon nach außen, weniger expressiv als vielmehr potenzial andeutend. das solo von alice über dem nun gezupften bass von garrison und dem nicht mehr zu stoppenden, feinnervigen kybernetik von ali, hat die etablierte umschlag-dramaturgie: immer wieder kippt sie aus dem grundton des themas in etwas völlig anderes, ohne ihn vollends aufzugeben. sobald john einsteigt, bietet sie nacheinander verschiedene tonale zentren an, geht dabei aber immer eigenwilligere wege, die fast getrennt von der saxofonimprovisation verlaufen, bis sich beide um 8’00 wieder auf einer anderen umlaufbahn des themas wiederbegegnen. das thema zuckt fast in einzelnen atemzügen, john und rashied ali landen punktgenau an immer neuen orten, schließlich noch ein sonorer soloflug und ein letztes thematisches aufatmen, mit einer der schönsten coda-verzierungen, die ich im jazz kenne.
nach einer ebenfalls auf den müll geworfenen aufnahmesession am 29.3. mit immerhin 6 neuen stücken, wird schließlich doch noch ein live-auftritt festgehalten, der am 23.4. in new york stattfindet. bernard drayton, ein freund von milford graves, wird von coltrane persönlich darum gebeten, er schafft den aufbau nicht rechtzeitig und nimmt auch nur das erste von zwei konzerten auf. sanders ist wieder dabei, außerdem ein oder zwei percussionisten (wenn man ali hier hört, könnte auch ein zweiter schlagzeuger dabei sein – oder ali leistet hier übermenschliches) – jedenfalls existiert seit 2001 ein album mit einer langen version von „ogunde“ und einer noch längeren von „my favorite things“ mit dem obligatorischen bass-intro von garrison, das hier 7 minuten einnimmt. die qualität ist grauenhaft, die bläser sind völlig übersteuert, das schlagzeug klingt wie eine kette von explosionen, alice macht entweder lange pausen oder sie wird nur in ihrem (tollen, eigenständigen) solo auf „ogunde“ hörbar.
ich weiß nicht, ob ich jemals eine derartig intensive musik von einer unverstärkten jazzband gehört habe. ich weiß aber auch nicht, ob ich meinen ohren trauen kann, denn die aufnahme verzerrt unglaublich. es scheint mir aber nur folgerichtig, dass die technik hier an der musik scheitert. vergessen sind die konzisen miniaturen der studiosessions, hier dröhnt und kratzt und explodiert alles auf konstant unfassbarem energieniveau, wobei man nicht weiß, was einen ratloser macht: das outplay von sanders, der atemlos hinausgeschleuderte ideenreichtum des leaders oder das gefühlt sechshändig gespielte drumkit. man ist fassungslos darüber, dass hier ein todkranker spielt, und dass sie hiernach noch ein zweites konzert geben konnten. vielleicht hat aber nur die technik das alles so ins unmenschliche verzerrt, damit klar wird: das ist das letzte, was wir von john coltrane hören werden, eine letzte manifestation seiner stimme, seines sounds, seiner suche.
am 17.5. ging coltrane noch einmal mit seinem quintett ins studio. das material überlebte nicht. am 17. juni starb coltrane. ein halbes jahr später spielt alice erstes material unter ihrem eigenen namen ein. auf ihrem debüt, A MONASTIC TRIO, u.a. mit garrison und ali, befinden sich heute bonustracks, u.a. „altruvista“, ein klavier-solo-stück, das wahrscheinlich auf john coltranes session vom 7.3. entstanden ist.
komplettiert wird A MONASTIC TRIO durch stücke, auf denen alice erstmals harfe spielt. das instrument ist offensichtlich schon länger im besitz des ehepaars:
eine der schönsten posthumen interaktionen von john und alice coltrane entsteht 1972, als alice das am 2.2. 1966 entstandene „peace on earth“ bearbeit. zum aufnahmezeitpunkt war sie noch nicht teil der band und suchte noch nach einem weg, ihre klavierstimme darin sinnvoll zu integrieren. unzufrieden mit dem ergebnis tauschte sie 1972 ihr solo aus (leider war davon auch jimmy garrisons bass im gleichen kanal betroffen, so dass er durch charlie haden ersetzt wurde). wir hören eine pianistin, die einen völlig anderen punkt auf der gemeinsamen, nun allein bestrittenen suche gefunden hatte als ihr mann vor seinem tod, und verschmolz ihren neuen stil mit johns verstummter stimme. das ist rührend anzuhören (auch, wenn die aufnahme-puristen zetern), aber es erschließt auch eine neue perspektive, wie sich die letzten worte des saxofonisten noch anders hätten kontextualisieren lassen. es gibt diese version nur auf THE MASTERY OF JOHN COLTRANE/ VOL.III – JUPITER VARIATION. für INFINITY entwarf alice hierüber weitere orchestrale schichten, auch das ein weiteres angebot, wie john coltranes musik hätte fortgeschrieben werden können.
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