Antwort auf: Jazz-Neuerscheinungen (Neuheiten/Neue Aufnahmen)

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gypsy-tail-wind
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Dave Holland – Uncharted Territories (Dare2, 2018)

Evan Parker, ts
Craig Taborn, p, org, keys, elec
Dave Holland, b
Ches Smith, d, perc, vib

Erste Eindrücke bloss, nach einem Hörgang: zweimal 65 Minuten (in der LP-Ausgabe sind die Happen natürlich anders gestreut), das ist verdammt viel. Abwechslung gibt es reichlich, denn wir hören verschiedene Duos und Trios nebst dem ganzen Quartett, das drei ausgearbeitete Stücke präsentiert (eines von Holland, zwei von Ches Smith), der ganze Rest wurde frei improvisiert und gemäss Hollands kurzem Text auf der Hülle wurden die insgesamt 23 Stücke aus sechs Stunden Material ausgewählt. Die Duos – sie reichen von b/d über ts/b und ts/d bis hin zu org/vib – und Trios (p/b/d, ts/p/b, ts/p/d, ts/b/d – ausgerechnet ts/p/b hört man nur einmal, das ist aber einer der schönsten Tracks) führen dazu, dass es sehr viel Abwechslung gibt, das wiederum führt aber auch dazu, dass das ganze in seiner massiven Länge recht disparat wirkt. So gesehen umreissen die „Uncharted Territories“ verschiedene Gebiete, formen aber kein kohärentes Album, auch wenn eine gewisse Strenge und Konzentration sich schon irgendwie als roter Faden durchzieht.

Holland und Parker – das war einst geplant, auch wieder gemäss dem Text von Holland. 1967 wirkten die beiden an den Aufnahmen zu „Karyobin“ mit, einem der grossen Klassiker der frei improvisierten Musik in Europa (neulich auf Parkers Label wieder aufgelegt, ich brauche das Reissue noch, gab blöderweise kurz davor viel Geld für einen japanischen Vinyl-Rip aus), so gesehen ist das Ding auch eine Rückkehr zu den Anfängen – die in den USA (nach der Zeit bei Miles Davis 1969/70) noch verlängert wurden: mit Chick Corea und Barry Altschul im Trio, mit den beiden und Anthony Braxton in der Gruppe „Circle“, später mit Sam Rivers und mit seinem eigenen ECM-Debut „Conference of the Birds“ mit Braxton, Rivers und Altschul.

Holland klingt recht gut, er hat jedenfalls kein Problem damit, sich in einem solchen Umfeld zurechtzufinden. Aber am besten gefällt mir Evan Parker, der einmal mehr nur Tenorsaxophon spielt – und das mit einem Ton und oftmals auch mit Linien, die an den Coltrane der frühen Sechziger erinnern. Wie Parker diesen Einfluss aber in seinen eigenen Stil einbaut, ist toll anzuhören. Er bewegt sich zwischen ruppig und zart und zerbrechlich, das Alter hat ihn wohl auch etwas milder gestimmt in den letzten fünf oder zehn Jahren (ich hörte ihn wohl so oft wie keinen anderen „Grossen“ und er war stets toll). Holland und Parker, oder eher: Parker und Holland, denn einem Barry Guy (mit dem Parker vor einigen Jahren für Intakt ebenfalls ein Doppel-Album gemacht hat, aber das dann wirklich im Duo) kann Holland in einem solchen Rahmen z.B. nicht das Wasser reichen, da fehlen Ideen, da fehlt Charisma und eigener Charakter doch ein wenig … also: Parker und Holland, sie sind es auch, die hier für mein Empfinden die Arbeit machen. Craig Taborn und Ches Smith schmücken aus, ergänzen, wirken als Bindeglieder, als Kitt, eigentlich ohne je wirklich aufhorchen zu machen – sehr sachdienlich gehen sie zugange und das freie Interplay funktioniert sehr gut. Aber das Charisma, das doch immer wieder durchscheint, kommt dann halt von Evan Parker, dem Grossmeister am Saxophon. Etwas nevig sind manchmal die Altmetall-Becken von Ches Smith, aber ohne sie kriegt man ihn wohl einfach nicht … und Taborns Orgel sowie die Elektronik (wofür „keys“ im Line-Up steht, weiss ich nicht, Piano und Orgel sind ja bzw. haben auch Tasten), zurückhaltend eingesetzt, ist manchmal auch etwas fragwürdig, er hätte wohl gerade so gut beim Klavier bleiben können – aber die Orgel bringt, wie die Vibes von Smith, halt noch ein paar Klangfarben mehr ins Ganze.

Eine schöne Veröffentlichung, aber überragend ist sie wohl nicht geworden. Mal schauen, ob sich das Urteil mit weiteren Hörgängen noch ändert.

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