Antwort auf: 2018: Jazzgigs, -konzerte & -festivals

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Chicago London Underground – Padova, Cinema Torresino – 19.05.2018

Rob Mazurek – piccolo t, elec, perc, voice
Alexander Hawkins – p
John Edwards – b
Chad Taylor – d, mbira, elec

Über Pfingsten entfloh ich für ein paar Tage nach Padua – der Plan: ausschlafen, ein wenig lesen, ein paar Aperol Spritz trinken und gut essen, die Fresken von Giotto und sonst noch einiges anschauen, und am Samstagabend zum Konzert von Chicago London Underground gehen – ein zweites Konzert kam ungeplant dazu, schon bei meiner Ankunft im Hotel sah ich ein Plakat für ein Konzert von I Solisti Veneti mit ihrem Leiter Claudio Scimone, doch dazu drüben in der Klassik-Ecke mehr.

Das Konzert der Gruppe um Rob Mazurek fand in einem Gemeinschaftszentrum statt, das wohl zur Kirche gehört, die gleich nebenan steht und fast eher an eine Festung erinnert. Es gibt da einen Sportplatz, auf dem auch einige Kinder zugange waren, eine Wiese und neben dem Saal mit Theaterbestuhlung und Bühne im Obergeschoss noch weitere Räume, in denen parallel zum Konzert ein kirchlicher Anlass stattfand.

Ich habe ja, angeregt von @vorgarten, inzwischen ein paar Mazurek-Sachen da, aber beschloss, erst einmal das Konzert zu hören, bevor ich mit der weiteren Entdeckung beginnen werde. Auf diese habe ich nun mächtig lust, denn das Set des Quartetts war phantastisch. Los ging es recht hymnisch, fast schon elegisch, ich dachte von der Atmosphäre her da und dort an Keith Jarretts Trio und die weiten Bögen, die dort immer wieder geschlagen wurden. Mazurek, so meinte auch Alexander Hawkins danach im Gespräch, gehört zu den Musikern, die keine Angst vor einer guten Melodie haben. Dass er tiefe Wurzeln im Jazz hat, merkte man seinem Spiel jedenfalls auch dann an, wenn er sich befreite von gängigen Mustern. Solche gab es ansonsten eh keine, mit Hawkins, Edwards und Taylor ging es sofort zur Sache. Chad Taylor, den ich ebenfalls zum ersten Mal sah, beeindruckte mich schwer. Seine Beats sind flexibel und oft ziemlich sexy, alles war ständig in Bewegung und dennoch swingte und groovte die Karre mächtig. Er und Alexander Hawkins am Flügel verzahnten sich immer wieder aufs Schönste ineinander, angetrieben und umklammert von John Edwards am Bass, der leider auf der Bühne die klassische Position hinten in der Mitte einnahm, so dass ich ihn von meinem Platz am Rand oft nicht sehen konnte, weil Mazurek schräg vor ihm stand. Diesen zu beobachten fand ich dafür ziemlich faszinierend – er scheint völlig in sich zu ruhen, zeigt kaum Regungen – aber wehe, wenn er losgelassen! Die Palette an Klängen, das Verspielte, das aber nie Belanglos wirkt, der erwähnte Mut zur Melodie … eine tolle Kombination und auf jeden Fall ein Musiker, den ich näher verfolgen möchte.

Aus den Melodien und dem immer hymnischeren Groove spielte die Gruppe sich wohl nach einer Viertelstunde völlig frei, es wurde alles im dichter und intensiver, streckenweise auch verdammt laut (leider spielt die Band so laut, dass Edwards ein Pick-Up braucht, um auch seine ganzen Spielereien mit Falsett-Tönen und dem Bogen usw. bringen zu können, und der „normale“ Sound war über die Anlage ziemlich hässlich). Mazurek begann dann auch zu singen, griff sich sein Bündel mit Glocken – und zusammen mit den Chants liess wohl auch der São Paulo Underground grüssen. Hawkins hatte ebenfalls ein paar Glocken da, die er auch dazu nutzte, den Flügel zu präparieren, Saiten zu dämpfen oder scheppern zu lassen. Hie und da griff er auch sonst ins Innere des Instrumentes. Chad Taylor hatte eine verstärkte Mbira dabei und es gab nach einem ruhigen Moment eine grossartige, lange Passage, in der er einen hypnotischen Groove spielte und die anderen dazukamen. Mazurek mischte da und dort mal ein paar elektronische Klänge bei. Das Set als ganzes war kompakt und unglaublich organisch, am Schluss fand man einen Bogen zurück zum getrageneren Anfang, landete quasi wieder bei der eigenen Variante von aktualisierten Coltrane-Sounds.

Das Publikum erreichte eine Zugabe – wie so oft hatte ich etwas Bedenken deshalb. Los ging es mit einem Sample von Mazurek, der mit Bassline, einem Riff und einem Beat daherkam, Taylor stieg als erster darüber ein und wenig später drehte Hawkins nochmal mächtig auf, schien seine Hommage an Cecil Taylor abzugeben. Einmal mehr war Taylor zur Stelle und es wuchs noch einmal eine faszinierende Quartett-Performance daraus, die ordentlich lange dauerte und in der zweiten Hälfte dann ohne den Sample auskam.

Ausser dem Sample, den die Band natürlich kannte, war an dem Abend nichts abgesprochen oder vorgegeben (und dass Mazurek diesen Sample bringen würde, wusste wohl im Voraus auch keiner). Danach gab es Negronis mit Hawkins und den anderen – nur Taylor verzog sich direkt, er scheint sich nach den Auftritten jeweils zurückzuziehen. Er war für mich wohl die grosse Entdeckung des Abends, denn von Mazurek hatte ich ja – auch dank vorgartens Vorarbeit – sowieso erwartet, dass er liefern würde … aber darauf, dass Taylor live so toll ist, war ich nicht vorbereitet (ich kannte ihn bisher von Alben mit Sticks and Stones, Eric Revis und jüngst natürlich „Fly or Die“ von jaimie branch).

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