Antwort auf: Robert Schumann

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Ich höre die ganze CD – Daniel Sepec auf einer Violine von Laurentius Storioni aus Cremnoa, 1780, Andreas Staier auf einem Érard von 1837 … es gibt die Bach’sche Chaconne in Schumanns Bearbeitung für Violine und Klavier zum Auftakt, danach die erste und die zweite Violinsonate – die dritte ging ja unter (Isabelle Faust, Carolin Widmann und natürlich Jenny Abel haben sie aber z.B. auch eingespielt), sie stammt von 1853, demselben Jahr, in dem Schumann die völlig irren Gesänge der Frühe Op. 133 schrieb, die Staier zwischen den beiden Sonaten spielt. Alexander Hawkins hat mich auf dieses Spätwerk hingewiesen, das voller Überraschungen steckt. Ich holte mir daraufhin die kleine Box mit Maurizio Pollinis Schumann-Einspielungen – doch so richtig gepackt hat mich erst heute diese Einspielung von Andreas Staier aus dem Jahr 2009 (ansonsten findet man das Ding wohl fast nur in Gesamteinspielungen von Schumanns Klavierwerk, in meinem Fall in den Boxen von Jörg Demus und Eric Le Sage, an die ich mich noch nicht gemacht habe).

Ich zitiere aus Michael Strucks Liner Notes zur abgebildeten CD:

Die Gesänge der Frühe sind Schumanns letztes zur Veröffentlichung bestimmtes Klavierwerk. Sie entstanden Mitte Oktober 1853 – unmittelbar nach dem legendären Aufsatz Neue Bahnen, durch den Schumann so treffend und musikhistorisch folgenreich auf den jungen Johannes Brahms hingewiesen hatte. Mit einigem Recht darf man sie als musikalisches Gegenstück zu Neue Bahnen ansehen, mit denen sie den feierlich-hymnischen Tonfall und den erwartungsvollen Enthusiasmus teilen, ohne freilich ein ‚Werk über Brahms‘ zu sein. „Es sind Musikstücke, die die Empfindungen beim Herannahen und Wachsen des Morgens schildern, aber mehr aus Gefühlsausdruck als Malerei“, kennzeichnete Schumann das Werk – mit fast den gleichen Worten übrigens, die Beethoven eins zur Charakterisierung seiner Pastoral-Symphonie verwendet hatte. Ursprünglich sollte der Klavierzyklus neben dem Haupttitel Gesänge der Frühe noch die ‚poetische‘ Zueignung An Diotima tragen. Damit war offenbar Friedrich Hölderlins Diotima gemeint – Idealgestalt der Liebe, die in verschiedenen Gedichten gepriesen wir und auch die weibliche Hauptgestalt des 1797/99 erschienenen Briefromans Hyperion oder der Eremit in Griechenland ist. Die klangschöne Wortverbindung Gesänge der Frühe war wohl Schumanns eigene Erfindung. Sie verweist auf Eindrücke, die vor allem für den Hyperion-Roman wesentlich sind: den Übergang der Nacht zum Morgen, das Erwachen der Natur, den feierlichen Moment des Sonnenaufganges – Symbole für Hoffnung und Neubeginn. Ist es ein Zufall, dass das Kernmotiv, das zu Beginn des 1. Stückes im Unisono erklingt und die fünf Gesänge der Frühe zyklisch verknüpft, aus den Tönen d–a–h–e(–g–fis) besteht – den einzigen ‚musikalischen‘ Buchstaben der beiden Hauptgestalten des Romans: Diotima und Hyperion? Offiziell gewidmet wurde das Werk schließlich indes „der hohen Dichterin Bettina“ (von Arnim).

Wie es der Titel verheißt, verkörpern die fünf Stücke unterschiedliche Arten des Klavier-„Gesanges“. Wie ein Choral wirkt das strophisch gegliederte 1. Stück (D-dur) mit seinen archaisierenden, dissonanzgesättigten Quintschritt-Sequenzen. Nr. 2 (D-dur) ist als imaginäres Duett mit Klavierfiguration angelegt, das sich in einer Miniatur-Sonatenform entfaltet. Dagegen mutet Nr. 3 (A-dur) wie ein chorischer Jagd- oder Kampfgesang an, der nach mehreren Steigerungswellen am Schluss unerwartet ins anfängliche Piano zurückfällt und als Invention über einen punktierten Rhythmus mit immer neuen Synkopen-Stauungen gestaltet ist. In starkem Kontrast dazu steht das 4. Stück (fis-moll) – ein elegisches, durch Akzente rhetorisch aufgeladenes ‚Lied ohne Worte‘, das im mittleren Abschnitt erinnernd auf das 2. Stück zurückblickt und in eine innige, todessehnsüchtige Fis-dur-Coda mündet. Das 5. Stück (D-Dur) erinnert an ein Choral- oder Liedvorspiel: Ein ausdrucksvolles Thema wird intoniert, von Figurationen abgelöst, schließlich mit diesen verbunden und erweitert. In ihrer komplexen, beziehungsreichen Struktur und ihrer Ausdrucksintensität bilden reizvoll esoterischen Stücke, in denen Schumann selbst wieder einmal „neue Bahnen“ betrat, einen wirklichen Zyklus. Dessen Verständnis wird durch das Wissen um die Hölderlin-Inspiration zweifellos erleichtert.

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