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Wes Montgomery in Paris: The Definitive ORTF Recording (Resonance, 2 CD, 2018; die LP-Ausgabe erschien schon im November 2017 als Black-Friday-RSD-Exclusive)
Endlich auch da … CD 1 lief gestern spät schon, aber wie die Aufnahme ziemlich basslastig ist, ging das nur sehr leise. Jetzt also nochmal von vorne, und: wow! Ich machte bisher immer einen Bogen um die Bootleg-Ausgaben des Mitschnittes, der am 27. März 1965 im Théâtre des Champs-Élysées in Paris vom französischen Radio gemacht wurde. Los geht es mit dem tollen Groove von „Four on Six“ und schnell werden ein paar Dinge klar: Das Bass/Drums-Gespann – Arthur Harper (1939–2004) und Jimmy Lovelace (1940–2004) – sind voll zusammen, „locked in“, wie man sagt, und das gibt der Gruppe schon mal einen grossen Kick. Dann fällt mir schon im ersten Solo von Harold Mabern (*1936) auf, dass hier keine der Eigenheiten auftauchen, die mich bei ihm sonst immer ein wenig stören oder ratlos machen: nichts von diesem übersatten Simpelblues-Kram, den er mit George Coleman leider immer wieder auspackt (wobei Coleman doch, das wusste man spätestens seit seiner Zeit bei Miles Davis im Jahr davor, ein unglaublich nuancierter Musiker sein konnte, wenn man ihn denn liess oder dazu anregte – und gerade darin scheint mir sein regelmässigster Begleiter, eben Harold Mabern, ziemlich zu versagen … aber da muss ich wohl auch mal wieder dahinter). Zu guter letzt wird auch nach 10 oder 20 Minuten schon klar, dass das hier einer der allerbesten Live-Mitschnitte von Montgomery ist. Die Bänder wurden von der INA über all die Jahre aufbewahrt und diese Resonance-Ausgabe ist die erste, die nicht als Bootleg zu taxieren ist: man arbeitete mit der INA und der Familie des früh verstorbenen Gitarristen zusammen – ersteres zum zweiten Mal nach den Larry Young-Aufnahmen aus Paris, letzteres schon zum fünften Mal: Wes Montgomery ist quasi das Herz der archivalischen Tätigkeiten von Resonance, mit Aufnahmen aus Indianapolis ging es los und es folgten immer weitere Entdeckungen.
Wes Montgomery (1923–1968) litt unter massiver Flugangst. Die Tour im März 1965, von Alan Bates organisiert, war seine einzige Europa-Reise, und auch zu ihr erklärte er sich nur bereit, wenn nach dem Transatlantikflug-Flug nur noch mit den Füssen am Boden gereist wurde. In den USA trat die Band mit zwei Pianisten auf, Buddy Montgomery und Mabern: „We would alternate shows. Buddy still wasn’t flying. What would happen, I would fly to Chicago and make that gig, Buddy would drive to Los Angeles, and I would fly to the next gig. So we were still splitting the work up between Buddy and me, which was okay with me because it was a lot of work. We had about almost seven months‘ worth of gigs lined up.“ (Mabern im Interview, aus dem Booklet, S. 21). Auf dieser einzigen Tour spielte das Quartett im Rahmen von Konzerte, trat in Clubs und in Festivals auf, die Reise führte neben Paris auch nach London, Madrid, Brüssel, Lugano, San Remo und Rotterdam.
Mit dem wundervollen Arthur Harper (dessen wahre Qualitäten Russell Malone, den man neben Mabern auch noch interviewte, nicht erkennen kann) hatte Mabern davor schon in der Band von J.J. Johnson gespielt (von wo vielleicht die schönsten Harper-Aufnahmen stammen: die Sessions zu „J.J. Inc“, 1960 mit Freddie Hubbard, Clifford Jordan, Cedar Walton und Albert „Tootie“ Heath – Mabern war mit Harper für „Proof Positive“, Impulse, 1964, zur Stelle). Jimmy Lovelace kenne ich nicht gut, aber 1965 wirkte er auch beim Prince Lasha-Album „Inside Story“ mit (Herbie Hancock, Cecil McBee, ich kenne es vom gleichnamigen Enja-Twofer).
Eigentlich enthalten die zwei CDs fast nur Highlights, los geht es, ich erwähnte es schon, mit „Four on Six“ (die Studio-Version stammt vom Album „The Incredible Jazz Guitar of Wes Montgomery“). Die zwei CDs bieten einen Überblick über Montgomerys Schaffen, es gibt Standards und Balladen („The Girl Next Door“, „‚Round Midnight“, „Here’s That Rainy Day“ – das Latin-Arrangement von letzterem entstand im Februar in der McKie’s Lounge in Chicago und wurde rasch von anderen Musikern übernommen), schnelle Stücke („Jingles“ oder Coltranes „Impressions“ mit seinen grossen Freiheiten – Montgomery hat es nie im Studio eingespielt), Blues („Twisted Blues“ – das einzige Stück, in dem Harper ein Solo spielt), Bop („Blue’n’Boogie“ von Dizzy Gillespie/Frank Paparelli) und weitere eigene Stücke („To Wane“ ist Harold Maberns Hommage an Wayne Shorter, „Full House“ ist das erste der Stücke, bei denen Johnny Griffin zum Quartett stösst – er ist dann auch in „‚Round Midnight“ und „Blue’n’Boogie“ dabei, auch letzteres ist auf dem gemeinsamen Riverside-Album „Full House“ zu hören, dessen Titelstück natürlich auch). Wie die Band auf Griffins erstes Solo (in „Full House“) reagiert, das Tempo drosselt, in das catchy Dreier-Pattern des Themas fällt, um danach gemeinsam mit Griffin die Temperatur wieder steigen zu lassen, ist schon sehr toll, auch wenn die Stücke mit dem Gast, den ich sonst ja sehr mag, hier nicht unbedingt die Höhepunkte sind, weil die zugleich entspannte aber doch sehr konzentrierte Atmosphäre in den drei langen Stücken (zusammen etwa 33 Minuten, ca. ein Drittel des ganzen Konzertes) etwas in eine lockere Jam-Stimmung kippt – Griffin ist aber in seinem dritten Stück, „Blue’n’Boogie, dann der wahre Star, ansonsten ist das schon eindeutig Montgomerys Show, der wie immer durchkommt, ohne um Aufmerksamkeit zu heischen – es geht ihm allein um die Musik.
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #162: 8.4., 22:00; # 163: 13.5., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba