Antwort auf: Ich höre gerade … klassische Musik!

#10458427  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 67,150

Polonaisen also, hmmm. Gestern lief noch einmal die erste CD aus der Magaloff-Box (die älteren Cover aus den Siebzigern sind fast sämtlich grauenvoll, drum immer wieder die Box) mit den ersten – bzw. den bekannten (das sind eigentlich nur sieben: die je zwei aus Opp. 26 und 40, dann Op. 44, die „Heroische“ Op. 53 sowie die Polonaise-Fantaisie Op. 61, mit den drei aus Op. posth. 71, von denen bei Magaloff die erste am Schluss der besagten CD steht, beginnen die weniger bekannte – acht von Chopin, die zweite CD enthält weitere, die kaum bekannt sind und selten (ein)gespielt werden, soweit ich weiss. Solche umfassenden Einspielungen habe ich nur drei an der Zahl: Ugorski (von ihm sind die seltenen in der DG-Chopin-Edition, die hier steht – die betreffende CD noch ungehört; für die bekannten hat man dort Pollini), Magaloff und Fiorentino.

Ich kann weiterhin nicht sagen, dass mir diese Dinger besonders nah gehen, aber ich halte Magaloff auch weiterhin nicht für den geeigneten Polonaisen-Mann. Von denen, die den ganzen Chopin gemacht haben, vielleicht am ehesten Rubinstein, Samson François auch eher nicht, Fiorentino habe ich nicht im Ohr, und Pollini brauche ich da wohl eher auch nicht. Aber eben: Malcuzynski war der Mann, bei dem sich mir die Dinger wirklich erschlossen, und auf dem Weg dahin, zwischen M. und Rubinstein quasi, noch György Cziffra.

Chopin aber, das ist für mich, @clasjaz, in erster Linie einmal: die Nocturnes – die hast Du unterschlagen, ich hoffe, das war bloss ein Lapsus? Dann die Scherzi und Balladen, die Préludes … und dann erst, bei mir, die Études, und zuletzt die Tänze – Walzer, Mazurkas, Polonaisen – mit denen ich mich immer noch etwas abmühe, wobei die Mazurkas manchmal wie Öl runtergehen, aber nur selten gehört werden.

Aber gut, die Diskussion über die Polonaisen – was sind eigentlich Polonaisen, mal vom Samstagabend-Schlager-TV-Tazelwurm abgesehen? – erinnerte mich an die CD von Yaara Tal, die vor ein paar Monaten erschienen ist (noch 2017 jedenfalls, aber ich habe sie erst im Februar oder so entdeckt). Tal spielt hier zehn Polonaises mélancoliques von Franz Xaver M. (1791–1844), Sohn des Wolferl (Franz Xaver kam allerdings erst vier Monate vor dem Tod des Vaters zur Welt) und der ehrgeizig-einfältigen C., die ihn zu W.A. fils machte und in das Schicksal förmlich presste. Dass er – in Galizien, wohin es ihn mit 17 Jahren verschlug – am Druck nicht zerbrach sondern durchaus in der Lage war, Musik mit eigenem Charakter zu schaffen, zeigen diese zehn Stücke aus den Jahren 1811–14 (6 Polonaises mélancoliques Op. 17) bzw. 1815–18 (4 Polonaises mélancoliques Op. 22). Das Schema der Stücke ist einfach: Moll zum Einstieg und zum Ausklang, dazu ein Mittelteil in Dur.

Den Durchbruch schaffte Franz Xaver nicht, aber dass er überhaupt in der Lage war, zur „Verheißung“ zu werden, wie Yaara Tal in ihren einleitenden Worten im CD-Booklet schreibt, ist schon mehr, als mancher Sohn geschafft hat:

Yaara Tal
Weisen die zahlreichen Variationswerke für Klavier auf die virtuose und eigenwillige Benutzung der Tastatur und der Hand hin, so offenbaren die Polonaisen den Drang und die Sehnsucht nach einer neuen Welt und Ausdrucksweise, die nicht mehr in der Klassik verwurzelt ist. Doch wohin und wie weit die seelische Wanderung noch hätte führen können, bleibt im Ungewissen, da die Zeit und der Geist dafür noch nicht reif waren.

Aber just dieses Schweben in stilistischer Ungewissheit, das Bekenntnis zum Bezug-Entzug verleiht diesen Piecen ihren eigentümlichen Reiz. Und es mutet beinahe paradox an, dass der Ausdruck einer so vagen Befindlichkeit im Laufe der Entstehungszeit der Polonaisen an Klarheit und Kühnheit noch gewinnt! Besonders charakteristisch sind die unzähligen Ausführungszeichen, die Dynamik und Tempo betreffen. Da könnte es Franz Xaver durchaus mit Mahler und Reger aufnehmen! Die Anweisungen für die Spieler sind bisweilen recht widersprüchlich und deuten in diverse Richtungen – und dies auf engstem Raum. Damit hob er sich klar von der Praxis des Vaters ab, der mit solchen Empfehlungen bekanntlich höchst sparsam umging. Ähnlich hingegen ist Franz Xaver dem Vater, wenn es um die perfekte Bildung der Harmonie auf der Tastatur, um das Verteilen der Töne, um vollkommene Balance und polyphone Stimmführung geht, die für beide Mozarts gleichermaßen charakteristisch sind.

„Das Unbehaustsein“, so Tal weiter, „wurde zum integralen Bestandteil seines Gefühlslebens, das er aushalten musste“ – da war der übermächtige Vater, die ehrgeizige Mutter, und schliesslich die Frau seines Lebens, die bereits vergeben war, aber Franz Xavers Liebe erwiderte. Tal sieht die Polonaisen denn als Werke, die den Weg in die Romantik aufzeigen: „Keiner vor ihm hat dieses so eigentümliche Lebensgefühl der Polonaisen so zu gestalten gewusst wie er, und viele Wendungen, Gesten, Linien und rhythmische Motive, die er miteinander verwob, fanden später den Weg in das, was wir Romantik nennen.“

Der junge Chopin wiederum komponierte „während seiner Kindheit ausschließlich Polonaisen“. Dass er Franz Xaver Mozarts Zyklen kannte, ist nicht belegt, aber auch nicht auszuschliessen. Ebensowenig, dass Chopin den konzertierenden Mozart in Warschau gehört hat. Ein lustiges Detail erwähnt Tal am Ende ihres Textes noch: John Fields, dessen Einfluss auf Chopin (Nocturnes) inzwischen gut dokumentiert sei, teilt den Geburtstag mit Franz Xaver Mozart (26. Juli).

Mehr Licht auf die Polonaises mélancoliques wirft Armin Brinzing im zweiten Text im CD-Booklet. Das fängt mit der Übersiedelung nach Galizien an. Nach ersten Anstellungen bei polnischen Adelsfamilien zog er 1813 nach Lemberg, um für die Familie Baroni-Cavalcabò als Klavierlehrer zu arbeiten, im Dezember 1818 begann er eine zweijährige Konzertreise, lebte dann ein Jahr in Wien, war 1822 wieder in Lemberg bei den Baroni-Cavalcabò, mit denen er 1838 schliesslich nach Wien übersiedelte.

Armin Brinzing
Mit seiner Übersiedlung nach Galizien begab sich Mozart in ein völlig neues kulturelles Umfeld. Jahrhunderte lang hatte die Region zu Polen gehört, erst seit der ersten Teilung Polens im Jahr 1772 war sie Teil der Habsburgermonarchie. Für Mozart, der seinen Lebensunterhalt vor allem durch Klavierunterricht bestritt, lag es nahe, als Reverenz an seine Dienstherren und seine neue Heimat der Polonaise besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Alle Werke stimmen in ihrem formalen Grundplan überein: Auf einen in Moll stehenden ersten Teil folgt ein kontrastierendes „Trio“ in Dur, worauf der erste Teil wiederholt wird.

[…]

Mit seinen Polonaises mélancoliques bediente Mozart zwar eine seinerzeit über den polnischen Kulturkreis hinaus populäre Gattung, doch schon ein zeitgenössischer Rezensent betonte im Blick auf die Polonaisen Opus 22 deren besonderen Rang:
„Ein eigenthümlicher, mannichfaliger, pathetischer Ausdruck herrscht in diesen vortrefflichen Sätzen. Sie heißen mit Recht melancholisch; doch darf man nicht gerade eine finstere Schwermuth oder eine düstere Leidenschaft in wilder Unruhe darin erwartet, sondern nur mehr eine sanfte, gemäßigte Melancholie, oder doch eine solche, die wenigstens mit süßeren Empfindungen wechselt und durch sie gemildert wird, also etwas der elegischen Dichtung Aehnliches.“

Tatsächlich ist bei vielen der Werke kaum noch etwas vom Ursprung der Polonaise als einem Tanz zu erkennen. Vielmehr herrscht oft ein gesanglicher Charakter vor, der an Äußerungen des Siebzehnjährigen erinnert, als er seinem älteren Bruder Carl Thomas anvertraute, er höre viel lieber die schlichten Lieder seines Vaters „als eine meisterhaft instrumentirte, aber empfindungslose nichts sagende Simphonie.“ Dass sich Mozart in seinem Schaffen auf kleinere Formen konzentrierte, lag also keinesfalls allein an den beschränkten Möglichkeiten seiner neuen galizischen Heimat, wo ihm nur gelegentlich ein größeres Ensemble zur Verfügung stand. Vielmehr erschienen ihm die kleineren, intimen Gattungen (vor allem das Lied und die Klaviermusik) als besonders geeignete Ausdrucksformen.

Es ist gut möglich, dass es gerade die Offenheit von Franz Xaver Mozarts Stücken ist, die mich anspricht … die grossen Polonaisen von Chopin haben – nicht nur die so benannte Op. 40 Nr. 1 – oft etwas „Militärisches“, aus dem Tanz wird eine Art unaufhaltsamer Marsch (der Weg von den damaligen Gesellschaftstänzen dahin war ja auch nicht sehr weit, dünkt mich). Die frühen Polonaisen von Chopin, die ich gerade mit Anatol Ugorski, finde ich diesbezüglich auch wieder fast ansprechender, weil bescheidener im Gestus – allerdings neigen sie, um das obige Zitat aufzugreifen, viel eher zur „finstere[n] Schwermuth oder eine[r] düstere[n] Leidenschaft in wilder Unruhe“, was sie wiederum vom Charakter her von den Mozart’schen Stücken deutlich abhebt – und was sie auch, und das ist ja bei Kindheitswerken erstaunlich genug, schon deutlich als Werke Frédéric Chopins erkennen lässt, auch wenn er sich als er sie in Warschau komponierte, noch Fryderyk nannte.

Man findet diese vom ersten Eindruck her sehr ansprechenden Ugorski-Einspielungen nebst der „Chopin – Complete Edition“ (DG, 17 CD, 2009) auch in einer Doppel-CD, deren Inhalt exakt dem von CDs 9 und 10 der Box entspricht, also auf der ersten die sieben bekannten Polonaisen mit Pollini (1976), auf der zweiten zum Auftakt Marta Argerich (1975) mit dem Andante spianato mit der Grande Polonaise brillante (Op. 22 – das Werk fehlt übrigens in der Einspielung von Magaloff), dann Ugorski (1999) mit den restlichen Polonaisen (Op. posth. 71 Nr. 1-3 sowie sechs weitere ohne Opus-Nummer, ausser jener in g-Moll alles als „Op. posth.“ angegeben. Von diesen insgesamt neun hat Yaara Tal für ihre CD drei ausgewählt (As-Dur KK IVa No. 2 von 1821, h-Moll KK IVa No. 5 von 1826 und Ges-Dur KK IVa No. 8 von 1829 – bei DG gibt man leider keine Jahreszahlen an, die Tonarten allein reichen nicht, denn es gibt zwei b-Moll – und auch Op. posth. 71/2 ist in der Tonart) – aber eben: bei Fiorentino, Magaloff und Urgorski gibt es sie alle (und in diesem Verzeichnis, das ich nicht kenne, lauten die Nummern derjenigen ohne reguläre bzw. posthume Opus-Nr.: KK IIa No. 1 und No. 8 sowie KK IVa No. 1-3 und No. 5 – es gibt die sieben bekannten, die drei posthumen aus Op. 71 und dann die sechs weiteren, in den Jahren 1817 bis 1829 komponierten – die letzte, IIa No. 8 – stammt damit wohl schon aus Frankreich, die anderen fünf stammen aus der Kindheit und Jugend in Warschau). Die Ugorski et al-Einspielung (es scheint, dass Ugorskis Aufnahmen 1999 extra für eine solche Gesamtaufnahme gemacht wurden) enthält von Ugorski auch noch diverse kleinere Stücke – Details.

Aufmerksam wurde ich auf die CD von Yaara Tal durch Peter Hagmann:
http://www.peterhagmann.com/?tag=tal-yaara

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba