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Heute angekommen und direkt in den Player: Hermann Scherchens erste Einspielung des Musikalischen Opfers (BWV 1079) in der Instrumentierung von Roger Vuataz aus dem Jahr 1936, an deren Entstehung Scherchen damals in der Schweiz beteiligt war. Entstanden ist die Aufnahmen, deren Strenge und Klarheit vom grossartigen Cover in der Tat passend abgebildet wird am 30. Januar in Berlin mit neun Solisten des Rundfunk-Sinfonieorchesters, die in den zu fünf Gruppen geordneten Stücken in unterschiedlichen Besetzungen zu hören sind. Das im Mai 1945 wieder zusammengestellte einstige „Große Funkorchester Berlin“ – 1925 gegründet, im 2. Weltkrieg aufgelöst, ab 1950 (Wiki sagt ab 1953) von Hermann Abendroth geleitet – war für den Rundfunk im sowjetischen Sektor tätig, doch das Rundfunkgebäude an der Masurenallee befand sich im britischen Sektor, was anscheinend immer wieder zu Störmanövern führte. Abendroth profitierte 1934 von der Entlassung Bruno Walters beim Gewandhausorchester und trat später – wohl gegen seine Überzeugungen, aber spielt das wirklich eine Rolle? – der NSdAP bei. Doch hier geht es ja um Scherchen, nicht um Abendroth (von dem übrigens – wie diverser anderer Dirigenten aus der Nazi-Zeit – auf dem Label Tahra, das Scherchens Tochter gemeinsam mit ihrem Mann von 1993-2014 leitete, auch Aufnahmen erschienen sind).
Gruppe 1 und 5 bestehen jeweils aus einem Stück, den Ricercari a 3 (Oboe, Englisch Horn, Fagott) bzw. a 6 (Oboe, Violine, Englischhorn, Viola, Violoncello, Fagott), die mittleren aus fünf oder sechs, die halbwegs nach Muster (zwei Gruppen von Kanons, dazwischen die Fuge, die vierte Gruppe dann das Trio für Flöte, Violine, Cello und Cembalo) bzw. Instrumentierung angeordnet sind.
Dass Scherchen lieber von „Realisationen“ als von „Interpretationen“ sprach, wie Joachim Lucchesi in seinem Text im Booklet berichtet, leuchtet überaus ein. Hier wird dargestellt, nicht munter musiziert und schon gar nicht „dumpf“ (das Wort streut Lucchesi tatsächlich ein) empfunden.
Im Booklet gibt es auch ein paar Zeilen zum Werk selbst, zudem einiges zu Scherchens Umtriebigkeit gerade in den Jahren, in denen er Deutschland fernbleiben musste: er brachte die Noten von Vuataz‘ Fassung in seinem ARS VIVA-Verlag heraus, er arbeitete (bis zur Entlassung 1951) für den Schweizerischen Rundfunk, gründete Verlage und Zeitschriften, organisierte Tagungen, Festivals und Kompositionswettbewerbe – und überall war ganz selbstverständlich Platz für Altes und Neues („Entartetes“).
Eine vorzügliche Ausgabe und eine sehr hörenswerte Umsetzung dieses doch recht seltsamen Werkes, zu dem ich bisher keinen rechten Zugang finden konnte.
Die Pierlot-Aufnahme von 2011 ist wohl am anderen Ende des Spektrums jene, die für mich klappt, in kleinerer Besetzung mit Flöte, Violine, Bassgambe und Cembalo. Menuhin (Bath 1960) müsste ich auch mal wieder mit neuen Ohren anhören.
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