Antwort auf: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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Der Umleger
(Regie: Charles B. Pierce – USA, 1976)

In dem kleinen Städtchen Texarkana geht im Frühjahr 1946 ein geheimnisvoller Killer mit einem Mehlsack über dem Kopf um, der vorzugsweise Frauen angreift und dann brutal erschießt oder mit Stichwaffen ermordet. Die Police Officers Morales (Ben Johnson) und Ramsey (Andrew Prine) setzen alles daran, den Unbekannten zu fassen, bevor weitere Morde geschehen…

Gemeinhin kann man sich in Horrorfilmkreisen auf Mario Bavas „Reazione a catena“ als aus dem Giallo entstandenen Proto-Slasher einigen. Anstoß zu einem der populärsten Filmgenres der frühen 1980er Jahre, so einflussreich, dass Regisseur Sean S. Cunningham eine komplette Todessequenz daraus in seinem Klassiker „Friday the 13th“ zitierte. Es ist die Figur des jungen Kevin Bacon, deren Kehle mit einem Pfeil durchbohrt wird und ans Bett gepinnt stirbt; Bild für Bild wie in Bavas knapp zehn Jahre vorher veröffentlichter, blutrünstiger und sehr stylishen Vision des Zehn-Kleine-Negerlein-Prinzips. Die Faktenlage wird unklarer, je näher man sich John Carpenters allgemein als Startschuss des Slasherfilms angesehenen „Halloween“ im Jahr 1978 nähert. Stark vereinfacht liegt hier der Ursprung des maskierten Killers, der es vor allem auf Heranwachsende aus den Vor- und Kleinstädten abgesehen hat. Die ganze Wahrheit ist dies indes nicht. Schon Jahre vorher handhabten US-amerikanische und kanadische Filmproduktionen sowohl Sujets als auch Stilmittel des Slashers; etwa in Bob Clarks „Black Christmas“ aus dem Jahre 1974, im knallhart-ruralen „Savage Weekend“ (erst 1979 veröffentlicht, aber schon 1976 fertiggestellt) oder eben auch in „Der Umleger“, dessen knalltütiger deutscher Verleihtitel einen anderen Film vermuten lässt als das englischsprachige Original „The Town That Dreaded Sundown“.
Die reale Mordserie um den „Phantom Killer“ von Texarkana, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, sorgt für die wahren Begebenheiten der Hintergrundgeschichte, die Charles B. Pierce in seiner 400.000 Dollar teuren Independentproduktion frei ausgestaltet, auch wenn der nüchterne Ton des Voice-Overs einen dokumentarischen Anstrich antäuscht, der in den Tötungsszenen vollkommen gebrochen wird.
So wie Texarkana zwei unabhängige Städte an der Grenze zwischen Texas und Arkansas des gleichen Namens sind, zerfällt auch „Der Umleger“ in zwei unterschiedliche Teile. Dort findet man einerseits die beklemmenden, irreal ausgestalteten Streifzüge des Phantoms, roh und brutal, aber visuell ansprechend in Szene gesetzt, andererseits die Polizeiarbeit und das Leben in der Stadt, mehr den gängigen Unterhaltungskonventionen verpflichtet. Auf die verstörenden Morde folgt stets ein komödiantischer Einschub um den Polizeisergeant; gespielt vom Regisseur, der die Gewalt auf recht plumpe Art und Weise konsumierbar machen soll.
Interessant erscheinen mir vor allem die Szenen, welche die Ermordung der Opfer zeigen, im Fan-Jargon „Kills“ genannt. Sind diese in frühen Genrebeiträgen wie „Halloween“ noch unspektakulär und meist an Hieb- und Stichwaffen gebunden, findet man in „Der Umleger“ schon den Einfallsreichtum, der die besseren Werke der Slasher-Welle kennzeichnet. Auch wenn in Pierces Film standardmäßig mit dem Revolver umgelegt wird, verfehlen die Morde nicht ihre Wirkung, erst recht nicht, wenn der Killer sich aus einem Blechblasinstrument und einem Jagdmesser ein sadistisches Spielzeug konstruiert. Zudem trägt er eine Maske, atmet dadurch schwer und bewegt sich ähnlich wie Jason Voorhees in „Friday the 13th, Part II“: Zuerst den Kopf, dann den Rest des Körpers. „The Town That Dreaded Sundown“ etabliert ikonische Slasherstandards ein halbes Jahrzehnt vor deren endgültiger Popularisierung.
Ebenso lässt der unaufgeklärte Kriminalfall ein für Fortsetzungen offenes Ende zu, wie sie typisch für Slasher scheinen, im Umfeld von True-Crime-Adaptionen hingegen als unbefriedigend gelten. Man denke an die Zodiac-Morde in den 1960er Jahren oder ganz klassisch an die Taten Jack the Rippers, deren Verfilmungen sich oft eines Kniffs bedienen, um dem Publikum einen Täter präsentieren zu können.
„Der Umleger“ endet sehr amerikanisch in einer mit Bluthunden geführten Hetzjagd durch die Sümpfe von Arkansas, schwelgt kurzzeitig in Western-Einstellungen, die aus der schönen Zeitlupensequenz der Schießerei kurz zuvor überlappen, welche den Geist von Sam Peckinpahs „The Wild Bunch“ atmet, um im finalen Shot eine Pointe in die Dunkelheit des Lichtspielsaals zu entlassen, die wenige Jahre später in Bigas Lunas „Angustia – Im Augenblick der Angst“ auf die Spitze getrieben wird: Der Killer steht in der Schlange vor dem Kino an.
Für den gelegentlichen Horrorfilmgenuss mag „The Town That Dreaded Sundown“ heute nicht mehr spektakulär genug erscheinen, für jeden Genrefreund und Filminteressierten erweist sich dieser Film aber als wichtiger „missing link“ zwischen Mario Bavas Initialisierung und John Carpenters und Sean S. Cunninghams „Vollendung“ des Slasher-Films, zumal erst 2015 (aufgrund des Kinostarts eines Remakes) die lange überfälligen DVD- und Blu-ray-Veröffentlichungen in ungekürzter Form erschienen.

Trailer

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