Antwort auf: Die wunderbare Welt der Oper

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Zürich, Opernhaus – 23.03.2018
 
Lunea
Lenau-Szenen in 23 Lebensblättern von Heinz Holliger (*1939)

Libretto von Händl Klaus
Uraufführung

Musikalische Leitung Heinz Holliger
Inszenierung Andreas Homoki
Bühne Frank Philipp Schlössmann
Kostüme Klaus Bruns
Musikalische Assistenz Michael Richter
Lichtgestaltung Franck Evin
Choreinstudierung Raphael Immoos
Dramaturgie Claus Spahn

Lenau Christian Gerhaher
Sophie von Löwenthal Juliane Banse
Anton Schurz Ivan Ludlow
Marie Behrends/Karoline Unger Sarah Maria Sun
Therese Schurz Annette Schönmüller

Philharmonia Zürich
Basler Madrigalisten

Statistenverein am Opernhaus Zürich
 
1 – „Ich habe meine Augen mit Unglück gewaschen und nun einen schärferen Blick.“ (Nikolaus Lenau)

2 – Lunea, Luna, Lenau – N. Niembsch von Strehlenau, geboren 1802 im Banat, gerne als Dichter des „Weltschmerz“ betrachtet („Schilflieder“), einer der meistvertonten Dichter des 19. Jahrhunderts (Schumann!), entflieht Europa und wenig später auch den verschweinigten Staaten wieder (es gibt keine Nachtigallen dort – der Dichter „als Halbwüchsiger ein Haudegen und mitleidloser Vogelfänger“ – Heinz Holliger). Er dichtete, war Dramatiker, spielte hervorragend Gitarre und Violine. 1844 geht ein „Riss“ durch sein Leben, ein Nervenschlag, von dem er sich nicht mehr erholen sollte – Syphilis? Doch schon in den Jahren direkt davor haben manche seiner Notizen einen Ton, der an Texte denken lässt, wie sie ein halbes Jahrhundert später Kafka, Trakl oder Heym schreiben sollten – „Das ist natürlich genau meine Welt … Ich fühle mich ja immer angezogen von Menschen, die innerlich zerschnitten sind“ (Heinz Holliger).

3 – Die Briefe, die Lenau an seine Geliebte, Sophie von Löwenthal (in der Oper: Juliane Banse – ihre Zusage hatte Holliger schon im Vorfeld eingeholt und ohne Christian Gerhaher hätte er den für diesen komponierten Liederzyklus gar nicht erst zur Oper umgearbeitet), mit der Lenau möglicherweise gar kein Verhältnis hatte, diese Briefe wurden, wie in der Zeit üblich, vorgelesen. Interessanter sind daher die Notizen bzw. die ungeschönten Zweitfassungen der Briefe, die nicht öffentlich wurden.

4 – „Der Zweifel an Ketten kann nicht schlafen und klirrt.“ (Nikolaus Lenau)

5 – Sätze als Gedankenblitze, Zettel: „Er habe zwanghaft immer die gleichen Sätze gesagt. Er reiste rastlos in Expresskutschen zwischen Wien und Stuttgart hin und her, war nirgendwo zu Hause, suchte bei Frauen vergeblich nach Halt in seinem Leben“ (Heinz Holliger).

6 – „Witold Lutoslawksi, einer der ganz Grossen unter den Komponisten des vergangenen Jahrhunderts, hat einmal gesagt: ‚Ich kann keine Oper schreiben, weil da ständig Dinge gesungen werden, die man genauso gut sagen könnte.‘ Ich möchte, wenn ich für die Musiktheaterbühne komponiere, kein einziges Wort in Musik setzen, das man auch sagen könnte. … Wenn Sprache nur Ideen transportiert, ist sie für mich als Komponist völlig unattraktiv. Ein Wort muss ausstrahlen und Kreise um sich ziehen wie ein ins Wasser geworfener Kieselstein, der Wellen erzeugt, dann kann ich mir Musik dazu vorstellen. Händl Klaus, mein Partner, hat mir solche Worte geschrieben. Sein Libretto, das ausschliesslich Worte von Lenau verwendet, ist für mein Empfinden literarisch sehr hochstehend. Es ist Wort-Musik“ (Heinz Holliger).

6 – Holligers Oper ist eine Mischung aus realistischen, konkreten Momenten und Verschwindendem, sich Auflösendem – kurze Öffnungen ins Greifbare. Der Aufbrau folgt einer Asynchronizität, Librettist Händl Klaus legte die Reihenfolge der 23 „Lebensblätter“ fest. Man folgt dem Empfinden eines kranken Menschen, dem eine synchrone Wahrnehmung nicht mehr möglich ist – entsprechend wird in der Oper Holligers die Form aufgebrochen. Das Libretto wurde vor ca. zwei Jahren nach einem Jahr Arbeit fertiggestellt, die Musik Holligers war noch nicht zu Ende komponiert, als mit den Vorbereitungen der Inszenierung begonnen wurde.

7 – Hölderlin, Schumann, Walser, Soutter sind keine Wahnsinnigen. Auch Lenau hat sein ganzes Werk vor dem Hirnschlag (der eine halbseitige Lähmung zur Folge hatte: der Riss durch das Gesicht) geschrieben.

8 – In extremer rhythmischer und intonatorischer Differenziertheit (Gerhaher: ich kann doch keine Vierteltöne singen – der Prozess des Erarbeitens als Annäherung an eine Vorstellung, ein Ideal) wird eine Sprach-Lebenswirklichkeit vermitteln: Arbeit an einer Identität. Das Phänomen des Empfindens – es geht weniger um krank oder verrückt vs. gesund, eher um Verschiebungen, Unangepasstheit – wird für sich genommen, ihm wird Respekt gezollt. (Nicht wie in Peter Härtlings Buch „Niembsch“, in dem eine „sensationsgeile, lüsterne Vereinnahmung des ‚Weltschmerz‘-Dichters“ geschieht, wie Christian Gerhaher sagt.)

9 – Dramatis personae: Lenau, Sophie (die Frau, mit der er nicht sein kann), Braut (die 2 Frauen, mit denen er nicht sein will), Schwester & Schwager (der auch L.s erster Biograph war). Als stumme Rolle Sophies Ehemann (ergänzt von Homoki, im Libretto nicht präsent), der um die – vermutlich nicht gelebte – Beziehung von L. und seiner Frau wusste.

10 – Madrigalchor, 12 Stimmen – „Er verlängert Worte, oft sind es Lenaus innere Stimmen, in den Raum – wie ein Echo, wie Wellen, wie Umarmungen“ (Heinz Holliger). Eine grossartige Chorleistung der Basler Madrigalisten.

11 – Spiegel, Krebs: „FEUER – REUE(F)“ (Zwölftesetflöwz ttalB). Schuldig – Gidlusch. Spiegelungen: Lenau – Sophie. Fünf Darsteller (opera seria? Mozart ist überdies ein kompositorisches Vorbild Holligers) – Chor.

121 – „Ein Riß durch mein Gesicht. / Nicht reden! Nicht reden. / Leis und leiser, Müd zum Grunde.“ (Zweites Blatt)

31 – Die Solo-Geige (Hanna Weinmeister, Konzertmeisterin der Philharmonia Zürich) wird zur weiteren Figur (und kommt am Schluss auch auf die Bühne). Lenau, so heisst es, habe nach dem „Riss“ seine Guarnieri wie einen Glücksbringer gehalten, sich an sie geklammert.

41 – „… ohne Christian hätte ich die Oper nicht schreiben können. Da bin ich ganz sicher. Er ist jemand, der mir sehr, sehr nahe ist und von dem ich sicher war, dass er die Sensibilität besitzt, um dieses unkonventionelle Denken, das meiner Oper innewohnt, mit äussersten Nervenspitzen zu erspüren. Ich brauche ein Gegenüber, eine konkrete Stimme, für die ich komponieren kann. Eine Stimme sagt alles über eine Seele, und umgekehrt, die Seele erklingt durch die Stimme“ (Heinz Holliger).

51 – Der „Riss“ wurde von Holliger zum Gestaltunsprinzip der Oper erhoben, als Grundidee der dramatischen Situation eingeschrieben. Lenau selbst konstatierte ihn. Sechs Jahre dauerte es von da (1844) bis zum „Verdämmern“. Die Zeitstränge gehen nach vorn und nach hinten – bis zur Geburt. Sophie wird zur Mutter. Asynchron kann auch heissen: simultan. Richtungen und Empfindungen ändern in Sekundenschnelle die Richtung – wie bei einer Todeserfahrung oder in einem Traum.

61 – Musik als „Metasprache“ (Heinz Holliger)

71 – Die Bühne: ein schwarzer Kubus, darin ein paar Biedermeiermöbel, ein Sofa oder ein Tisch, ein paar Stühle. Eine Tafel schiebt sich vorne vorbei: Erstes Blatt, Zweites Blatt, … in der Mitte, nach elfeinhalb Blättern, wechselt die Richtung: ttalB setflöwZ, ttalB setnhezierD, …

81 – Die Musik: 34 Musiker_innen, ein Gewebe aus Klavier (oft im Innern gespielt), Cimbalom, Harfe, allerlei Schlagwerk (Peitschen auch dabei), tiefes Holz (Kontrabassklarinette, Fagott usw.), Blech mit vielen Effekten, die Posaune oft ohne feste Tonhöhe, rauschende Blätter, Gongs, Glocken – Musik in der Schwebe, plötzliche Überrumpelungen im schreienden Fortissimo, Verschiebungen, Blitze, Bewegungen hin zum Verschwinden: geschabte, fast stumme Saiten, Luft, tonlos durch Instrumente geblasen. Und immer wieder das Cimablom – danke Sandór Veress (Kolozsvár, 1970 – Bern, 1992). „Es gibt Pasagen, bei denen wirklich niemand merkt, wie die gemacht sind – das ist ein bisschen mein Ehrgeiz“ (Holliger zitiert nach dem Artikel, den Susanne Kübler, am 28.2. im Tages-Anzeiger über „Lunea“ schrieb).

91 – Graue Biedermeierkostüme, Figuren im Schlagschatten – der Riss geht durch die Gesichter der Darstellerinnen und Darsteller, auch des Chores, wenn er denn einmal auf der Bühne zu sehen ist; meist erklingt er aus dem Off – der Chor der griechischen Tragödie, kommentierend, spiegelnd, zweifelnd und wissend zugleich.

02 – „Der Mensch ist ein Strandläufer am Meer der Ewigkeit.“ (Nikolaus Lenau)

12 – „Da nahm ich – meine Geige – / Mein geliebter Guarnierius! / und tanzte einen wilden steirischen Tanz, / stampfe wütend in den Boden, / daß das Zimmer bebte. / Die Töne sind wie Tau auf meine Seele gefallen / und haben sie erfrischt – / und ich war gerettet -“ (ttalB setnhezrieV)

22 – In der Vertrautheit, die das Ensemble mit Holligers Werk eindrucksvoll demonstriert, öffnen sich Abgründe. Aus dem Biedermeier, der Beschaulichkeit, dem romantischen Weltschmerz-Klischee wird eine existentielle Erfahrung, die in ihrer Bedrohlichkeit eine höchst delikate Schönheit entfaltet, in der man sich geradezu verlieren möchte. 100 Minuten wie ein Traum, sie verschmelzen zu einem einzigen Augenblick, einem Lidschlag. Und der Stein, ins Wasser geworfen, löst Wellen aus, die so schnell nicht verschwinden werden.

32 – „Der Mond ist ein leuchtendes, schwebendes Grab.“ (Nikolaus Lenau)
 
(Die Zitate sind dem Programmheft entnommen, stammen aus dem abgedruckten Interview mit Holliger oder aus dem Libretto; in einzelnen Fällen stammen sie von der Einführungsmatinée , bei der „Lunea“ – mit Holliger, Gerhaher, Banse, Homoki und Spahn – am 18. Februar im Bernhard-Theater in Zürich vorgestellt wurde.)

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