Antwort auf: 2018: Jazzgigs, -konzerte & -festivals

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Taktlos – Zürich, 15.–17. März 2018
 
Beim Taktlos-Festival begann dieses Jahr eine neue Ära. Nachdem mit Fredi Bosshard der langjährige verdiente Veranstalter des Festivals sowie der Fabrikjazz-Reihe in den Ruhestand trat, wurde eine neue Trägerschaft gefunden, die plant, für jedes Festival einen Musiker oder eine Musikerin das Programm (ausdrücklich auch mit eigenen Auftritten) gestalten zu lassen. Das erste neue Festival kuratierte der Schlagzeuger Lucas Niggli, der am Donnerstag mit Steamboat Switzerland und gestern im Trio mit Matana Roberts und Alexander Hawkins auftrat – von diesem Konzert stammen sämtliche Schnappschüsse.
 

 
DO 15. März
 
La Berge Dramm/Pace/Frey

Diamanda La Berge Dramm, v; Ian Pace, p; Jürg Frey, cl, comp

Den Auftakt ins neue Taktlos-Zeitalter machte ein Konzert mit komponierter Musik – eine völlige Neuheit ist das zwar nicht, aber dass Kompositionen der russischen Komponistin Galina Ustvolskaja (1919–2006) zu hören sind, war doch eine ordentliche Überraschung (das stand wohl schon die längste Zeit auf der Website, mir wurde es erst ein paar Tage vor dem Festival klar). Die niederländische Geigerin Diamanda La Berge Dramm scheint auf zeitgenössische Musik spezialisiert zu sein, seit 2016 existiert die Partnerschaft mit dem britischen Pianisten Ian Pace und dem Schweizer Komponisten und Klarinettisten Jürg Frey. Dieser war in den ersten beiden Werken zu hören, im zweiten in seiner Doppelrolle; im dritten blätterte er dann für Pace die Noten. Das Programm:

Ustvolskaja: Trio für Klarinette, Violine und Klavier (1949)
Frey: Haut Jorat (2009)
Ustvolskaja: Sonate für Violine und Klavier (1952)

Der Kanzlei-Club inmitten von Zürich, in dem ich davor noch gar nie war, eignet sich als Veranstaltungsort für das Festival sehr gut (mit dem Wehmutstropfen, dass er um 23 Uhr geräumt werden muss, damit die regelmässig veranstalteten Parties nicht ausfallen müssen), aber für dieses erste Konzert war die Akustik nicht ideal, zuviel wurde absorbiert, zuwenig schienen Frey und La Berge Dramm den Raum füllen zu können. Allerdings war es toll, die beiden sperrigen und kargen Werke von Ustvolskaja (ich hatte sie noch nie gehört, vom Trio habe ich immerhin irgendwo eine Aufnahme) hören zu können, in der ersten Reihe zu sitzen war gewiss kein Fehler. Freys Werk wurde für das New York Miniaturist Ensemble geschrieben, das nur Stücke mit maximal 100 Noten spielt. Er schrieb mit der Vorgabe nicht nur ein sondern sechs kleine Stücke, die sehr leise waren und einen schönen, ruhigen Gegenpol zu den bewegten Werken aus der Sowjetzeit darstellten. Im klassischen Konzertzirkus wäre das ein abendfüllendes Programm gewesen – und entsprechend anspruchsvoll war es als Auftakt eines Festivals. Aber chapeau, das war ein toller Einstieg!
 

 
Matana Roberts Solo

Matana Roberts, elec, voc, as, projections

Offiziell wurde Matana Roberts‘ Solo-Set, das an zweiter Stelle folgte, einmal mehr als „Coin Coin Chapter Three“ angepriesen, doch war es sehr anders als die beiden früheren Konzerte, die ich 2012 hörte (im Bad Bonn in Düdigen sowie im Mullbau in Luzern). Die Visuals haben sich verändert, waren aber ziemlich repetitiv und dafür etwas zuwenig evokativ, Zugschienen und Industriebrachen – wie früher – sind halt schon besser geeignet als Zeichnungen, alte Familienphotos und Ähnliches. Zudem spielte Roberts ziemlich wenig Saxophon. Wenn sie es tat, war ihr Ton aber schon sehr eindrücklich, charismatisch – ein einziger Ton in den Raum gesetzt genügt. Dahinter steckt wohl die Chicagoer-Tradition mit der AACM, über die sie natürlich hinausgeht, aber die man doch nicht übersehen kann. Die Klangkulisse, die Roberts aufbaute, befand sich im Gegensatz zu den fliessenden Bildern im Hintergrund (mit der Zeit eher plätschernden, man kannte sie alle schon) in einem Zustand der fortwährenden Disruption – wobei mir nicht ganz klar wurde, ob das intendiert war, oder ob die Bedienung der ganzen Apparaturen manchmal einfach etwas zuviel wurde – Matana sass an einem Tisch voller Gerätschaften, ein Gesangsmikrophon vor sich und das Saxophon um den Hals. So wirklich berührt hat mich der Auftritt nicht, aber am Ende fand ich das Set schon irgendwie stimmig und gelungen. Aber bei Roberts ist so etwas – gerade wenn es Jahre her ist, dass man sie hören konnte – schon eine leise Enttäuschung. Die Hoffnungen lagen aber sowieso vor allem auf dem zweiten Auftritt am Samstag, und der sollte nicht enttäuschen.
 
Als dritte Formation spielte am Eröffnungsabend – auch noch im Kanzlei, da findet donnerstags wohl keine Party statt und man durfte länger drinbleiben – noch das Trio Steamboat Switzerland (Dominik Blum, hammond org; Marino Pliakas, elb; Lucas Niggli, d), eine der ältesten (und lautesten) Bands von/mit Kurator Niggli. Wir hörten noch von draussen den Anfang, aber nach den zwei Sets, die ordentlich zu denken gaben, war es dann auch gut.
 
FR 16. März
 
Den Freitagabend liess ich aus – Angst vor dem totalen Overkill … gespielt haben das Ensemble of Nomads mit einer anscheinend sehr präzise abgezirkelten Musik zwischen „elektroakustische[r] – also Neue[r] Musik, bei der Klänge elektronisch produziert oder moduliert werden –, Videoprojektionen, Lichtdesign und Musiktheater“ (Programmheft). Alexander Hawkins hat mir am Samstag beim Kaffee davon berichtet und war ordentlich fasziniert von den vier jungen Musiker_innen (Emilio Guim, g, elec, comp; Talvi Hunt, p, elec; Joào Carlos Pacheco, perc; Hannah Walter, v). Auf dem Programm stand neben Musik von Guim auch ein Stück von Michael Wertmüller, dem Drummer und Komponisten, der zusammen mit Marino Pliakas und Peter Brötzmann die Gruppe Full Blast bildet und der auch schon für Steamboat Switzerland komponiert hat.

Die zweite Band des Abends war Radian (Martin Brandlmayr, d, vib, samples, editing; John Norman, b; Martin Siewert, g, lapsteel, elec), die ich schon gerne gehört hätte (am Samstag überhörte ich an der Bar, wie Dominik Blum vom „grossartigen“ Auftritt schwärmte). Aber eben: Overkillgefahr.

Danach ging es noch im Programmkino nebenan weiter, dem Xenix, in dem ich schon einige hundert Filme gesehen haben dürfte … da trat Diamanda La Berge Dramm mit ihrem Solo-Programm auf (Violine, Kickdrums und Pedalorgel), das Hawkins einmal mehr ordentlich faszinierend fand … sie bat gemäss dem Programmheft ihren Vater, den Komponisten und Musiker David Dramm (auf seiner Website gibt es ein altes Familienphoto mit der kleinen Diamanda … ich tippe mal auf Galás als Inspiration für den Namen?) und kombiniert das mit Barockmusik, zu der sie ebenfalls mit den Füssen die beiden Bass-Drums bedient hat und so eine Art Ein-Frau-Violine-und-Continuo-Programm darbot.

Den Ausklang im Xenix machte dann das Duo visual basics (Katrin Bethge, visuals; John Eckhardt, b, elec).

Ich schildere das alles, weil es einen Eindruck vermittelt von der Breite der Musikerinnen und Musiker, der Formationen, die Lucas Niggli aufbot und einlud. Ob das alles mit dem Taktlos, wie man es kennt, noch viel zu tun hat, oder ob man bloss den wertvollen Namen nutzt (der in den letzten Jahren teils allerdings nicht mehr so zugkräftig war), ist eine Frage, die sich das neue Team durchaus gefallen lassen muss.
 

 
SA 17. März
 
Am Samstagmittag traf ich Alexander Hawkins zum Kaffee. Wir sprachen über das Festival in St. Johann, über Maurizio Pollini (er hörte in London letzten Dienstag dasselbe Programm, das ich vor einem Monat in Zürich hörte) und über Arturo Benedetti Michelangeli und vieles mehr, derweil bauten nebenan (ich hatte das Café im Volkshaus bloss ausgewählt, weil es günstig lag) die Musiker auf, die spät noch dort spielen sollten, als Abschluss des Festivals: Skyjack heisst die Gruppe, die aus zwei Schweizer Bläsern und drei Südafrikanischen Rhythmikern besteht (Marc Stucki, ts; Andreas Tschopp, tb; Kyle Shepherd, fender rhodes; Shane Cooper, b; Kesivan Naidoo, d) – viel mehr als ein paar Riffs kriegte ich leider nicht mit und dieses letzte Set sollte ich später leider verpassen … aber der Rest des Samstagabends hatte es auch so in sich, daher jetzt von vorne:
 
Hyper Fuzz

Julien Mégroz, perc, voc; Gilles Grimaître, synth, voc; Cyrill Lim, sound, elec

Die erste Gruppe war eine Art Klanglaboratorium, bei dem Lim hinter dem Mischpult found footage (gibt es das auch bei Aufnahmen?) einspielte, Interludes zwischen den Stücken usw., und wohl auch in den Klang insgesamt eingriff. Mégroz sass hinter einem Schlagzeug mit ordentlicher Ausstattung, hinter sich einen Ständer mit mehreren Gongs, Grimaître hatte zwei Synthesizers/Keyboards übereinander und diverse verkabelte Dinge um sich herum … der Bandname bezieht sich natürlich auf den Fuzz-Sound, der in den Sixties populär war, das Duo hat bei grösster Präzision (man spielt ab Noten) offensichtlich grosse Freude an dem, was es mit den Klängen und den Stücken, die als Vorlage dienen, anstellt. Auf dem Programm standen u.a. Werke von Stockhausen und Zappa, zwischendurch erklang mal als Sample „La Bamba“, es gab zickige Beats und sphärisches, durfte aber auch mal grooven und der Spass kam nach einiger Zeit auch beim Publikum an.
 



 
Roberts/Hawkins/Niggli

Matana Roberts, as; Alexander Hawkins, p; Lucas Niggli, d

Dass Roberts bei diesem erstmals zu hörenden Trio keine Elektronik mithaben würde, war die Hoffnung, die sich schon beim Kaffee mit Hawkins bestätigte, ebenso wie die Tatsache, dass frei improvisiert würde, Niggli kein Material vorbereitet hatte. Die drei kamen also auf die Bühne und los ging es. Anfangs vielleicht etwas tastend, suchend, Hawkins drehte jedoch bald auf, Niggli und Roberts gingen mit, wobei deutlich wurde, was für ein genauer Zuhörer Niggli ist. Er reagiert auf alles, was um ihn herum geschieht, entscheidet blitzschnell, ob er mitgeht, dagegen anspielt, einfach ignoriert – so öffnen sich andauernd Wege in alle Richtungen, die wiederum die anderen beiden beschreiten können, oder auch nicht. Roberts stand als ruhender Pol in der Mitte, war aber auch das Herz des Trios. Während Piano und Schlagzeug um sie herum wahre Feuer entfachten, liess sie sich nicht aus der Ruhe bringen, schien sich oft in einem langsameren Tempo zu bewegen als die beiden Mitmusiker, hymnisch, brennend intensiv, den Ton aufrauhend. Dazwischen schien sie mal ein technisches Problem zu haben, baute ihre Erkundungen am Instrument aber einfach ein, spielte mal nur mit Mundstück und S-Bogen, dann indem sie diesen am Instrument höher und tiefer schob. Daraus ergab sich dann aber auch eine Duo-Passage ohne Saxophon, ebenso wie sich an anderer Stelle eine Passage ohne Schlagzeug ergab – weil zu diesen Entscheidungen, die ich erwähnte, eben auch jene dazugehört, einfach mal nichts zu spielen.

Am Ende war das so gut wie erhofft – und verwies mit aller Kraft auf die gute alte Taktlos-Tradition, die – so meine Hoffnung – auch beim neuen Festival nicht gänzlich zum erlöschen kommen wird. Denn gerade für Musiker wie Hawkins oder Roberts ist in den etablierten Institutionen des hiesigen Jazz- bzw. Musiklebens wenig Raum, diverse der Leute, die ich gerade am Artacts gehört habe, waren überhaupt noch nie oder schon sehr lange nicht mehr in Zürich zu hören. Aber gut, die Kritik hier geht nicht ans neue Festivalteam, am ehesten geht sie an den wichtigsten Jazzclub der Stadt, das Moods, das zwar in den letzten Wochen einige feine Jazzkonzerte präsentiert hat, aber in dem Bereich auch etwas wagemutiger sein dürfte, auch einmal aktuellen Jazz jenseits der altgedienten Genres präsentieren dürfte, der nicht von arrivierten älteren Semestern oder aber von lokalen Talenten kommt.
 
Weil das Kanzlei wie schon am Vortag um 23 Uhr geräumt werden musste, wurde das Klavier abtransportiert (es wurde von Bachmann gemietet, dem Klavierhaus, das András Schiff – auch auf seinen Tourneen um die Welt – begleitet, wie Hawkins natürlich sofort herauskriegte), alles aufgeräumt, und dann ging es schräg gegenüber im Café Volkshaus weiter. Das erste der zwei Sets hörte ich zum Teil (den Anfang verpasste ich), es spielte Kœnig, also Lukas König (d, synth, voc) aus Österreich. Mit den Füssen und der Linken spielt er ein kleines Schlagzeug (Bass-Drum, ein Hi-Hat mit sehr kleinem Durchmesser) und ein Pad mit E-Drums, mit der rechten bearbeitet er einen Synthesizer, singt und rappt dazu, spielt Samples ein, wechselt zwischen Hooks und Breaks … das führte zur grossen Party der Schagzeuger (Niggli und Naidoo) und kam auch beim Publikum ziemlich gut an. Die wohl halbe Stunde, die ich davon hörte, fand ich jedenfalls toll und einen guten Abschluss. Das letzte Set liess ich dann eben sausen, hatte heute Mittag eine Verpflichtung und das wäre alles zu teuer (Taxi) oder lang (eine Stunde zu Fuss im Schneeregen und wenn ich daheim ankomme, bin ich dann wieder hellwach) geworden … schade, aber auch so, mit etwas ungefähr der Hälfte der Auftritte (am Samstagmittag hätte es noch einen Talk mit Matana Roberts und Sinethemba Twalo – mit DJ-Set von letzterem, keine Ahnung, ob Matana auch das Saxophon dabei hatte – gegeben, auch das war zuviel und zu früh wegen anderer Verpflichtungen) war das erste neue Taktlos eine anregende und gute Sache.
 

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