Antwort auf: Die wunderbare Welt der Oper

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Opernhaus Zürich – 03.03.2018
 
Parsifal

Bühnenweihfestspiel in drei Aufzügen von Richard Wagner (1813-1883)
Libretto vom Komponisten
 
Musikalische Leitung Simone Young
Inszenierung Claus Guth
Ausstattung Christian Schmidt
Musikalische Assistenz Finnegan Downie Dear
Choreinstudierung Janko Kastelic
Lichtgestaltung Jürgen Hoffmann
Video-Design Andi A. Müller
Choreografie Volker Michl
Dramaturgie Ronny Dietrich

Amfortas Lauri Vasar
Titurel Pavel Daniluk
Gurnemanz Christof Fischesser
Parsifal Stefan Vinke
Klingsor Wenwei Zhang
Kundry Nina Stemme
1. Gralsritter Omer Kobiljak
2. Gralsritter Alexander Kiechle
1. Knappe Florie Valiquette
2. Knappe Karina Demurova
3. Knappe Spencer Lang
4. Knappe Jonathan Abernethy
1. Blumenmädchen / 1. Gruppe Adriana Gonzalez
2. Blumenmädchen / 1. Gruppe Hamida Kristoffersen
3. Blumenmädchen / 1. Gruppe Karina Demurova
1. Blumenmädchen / 2. Gruppe Florie Valiquette
2. Blumenmädchen / 2. Gruppe Soyoung Lee
3. Blumenmädchen / 2. Gruppe Irène Friedli
Stimme aus der Höhe Irène Friedli

Philharmonia Zürich
Chor der Oper Zürich
Chorzuzüger
Zusatzchor der Oper Zürich
SoprAlti der Oper Zürich

 
Fünfeinhalb Stunden dauerte der gestrige Abend in der Oper – eine Herausforderung in jeder Hinsicht: wach bleiben, bei der Sache bleiben, sitzen ohne mit einer Verspannung heimzugehen … ich sass wie üblich weit vorne an der Seite, mit Blick in den Graben aber nur auf ca. 2/3 der Bühne – schon das ist teuer genug, üblicherweise sitze ich in der zweiten Reihe, die billig ist, gestern war’s die erste, hat sich aber gerade wegen der Dauer schon gelohnt. Reine Spieldauer war wohl um die viereinhalb Stunden, also keine Eiltempo-Fassung, wie es sie ja auch gibt (bis zu eine Stunde kürzer) – und das bereitete mir im ersten Akt auch da und dort (Stichwort: wach bleiben) einige Sorge. Der Plot ist sowas von nicht mein Fall (da könnte ich gerade so gut in „Lord of the Rings“ gehen oder auch gleich in einen katholischen Endlos-Gottesdienst), die dämliche Grals-Story mit dem ewigen Leben, der Enthaltsamkeit als einziger Rettung, die Suche nach Erlösung, der Reinheitsdiskurs mit dem unguten Geschmack, das ewig lockende Weib als die Verkörperung aller Laster, die Natur vs. die – reine, „Reiner du!“ (heisst da einer Rainer?) – Kultur, die entkörperlichte … dann natürlich das Männerbündlerische. Alles Kindereien, da hatte F.N. aus … damals T., wohl nicht ganz unrecht, aber ungefährlich sind diese Kindereien ja gerade doch nicht.

Der Ärger über den Plot – der mir ja zum Glück schon bekannt war – verlor sich mit der Zeit allerdings, denn was da an Musik zu hören war, war schon enorm eindrücklich. Das Orchester unter Simone Young war in Form. Die meist recht gemächlichen Tempi ergaben wohl insgesamt Sinn, insofern sich alles zusammensetzte, der Auftakt mit der betörenden Ouvertüre eben auch der allmählichen Annäherung an den Stoff. Und dass dieser, Plot und unangenehmes diffuses Rauschen hin oder her, ordentlich etwas zu bieten hat, wurde schnell klar. Übrigens: einen guten Satz gibt es ja im Libretto doch: „Zum Raum wird hier die Zeit.“

Die Besetzung der Titelrolle war nicht ideal, Stefan Vinke wirkte öfter etwas farblos im Vergleich mit dem weiteren Personal, machte seine Sache aber mehr als ordentlich. Besser, ja ziemlich stark fand ich Christof Fischesser als Gurnemanz – die wohl unter dem Strich für das Gelingen des Ganzen wichtigste Rolle, oftmals die Figur, die erklärend (zu Tode erklärend für den letzten Deppen manchmal, fast schon wie Tatort Ludwigshafen gucken). Beim Amfortas von Lauri Vasar und dem Titurel von Pavel Daniluk gab es anfangs kleinste Irritationen wegen leicht hörbarer Akzente – doch das verflog bald, die Textverständlichkeit war bei ihnen so gut gegeben wie bei Fischesser und Vinke (also mittelgut, ich las fast immer mit – aber es können die Sänger_innen ja nichts dafür, wenn Wagner so oft gegen den natürlichen Sprachfluss phrasieren lässt). Der Klingsor von Wenwei Zhang im zweiten Akt war stark, aber auch da wäre etwas mehr drin gewesen. Ideal war dagegen die Kundry von Nina Stemme, die neben Simone Young am Pult für mich auch der Hauptanziehungspunkt war. Stemme war in jeder Hinsicht überzeugend, Young war es zumeist auch, den einen oder anderen kleineren Spannungseinbruch muss man ihr wohl so verzeihen, wie man ihn sich selbst nachsehen muss bei einem solchen Mammut-Unterfangen (das man mit Streichung von „erklärenden“ Passagen natürlich deutlich straffen könnte – wäre halt schade um die tolle Musik, aber den Plot hätte man auch in drei halb- bis dreiviertelstündigen Akten umsetzen können).

Die Musik aber, die hatte mich im zweiten Akt vollends: der grosse Auftritt von Kundry/Stemme, zudem die Figur des Klingsor; und obendrein die grossartigen Passagen mit den Blumenmädchen – to die for (und soll es ja auch sein, die Verhakung von Musik und Plot klappt natürlich bestens, auch wenn letzterer deppert ist). Nach dem dritten Akt war ich in einer Art Trance, auch wenn dort das männerbündlerische Erlöserelement und das fortdauernde „wo ist Rainer“-Spielchen schon ziemlich nervtötend wurden.

Die Inszenierung (Claus Guth) gefiel mir alles in allem ziemlich gut, gerade weil sie ziemlich überladen ist, was Deutungsangebote betrifft, und sich dem Stoff keineswegs aus einer Warte der Sympathie annähert, sich nicht davor scheut, manche in ihm angelegten ekelhafteren Dinge anzusprechen, ohne das Ganze in eine solche Richtung zu drängen. Ich hole zur Erläuterung einfach rasch eine längere Passage aus der NZZ-Kritik zur Erstauffürhung 2011 hierher:

Zu den handlungsarmen Stücken zählt auch «Parsifal». Claus Guth inszeniert das «Bühnenweihfestspiel» im Rahmen der Zürcher Festspiele 2011 am Opernhaus Zürich. Es handelt sich um eine Koproduktion mit dem Gran Teatre del Liceu Barcelona, wo die Premiere bereits im Februar stattfand. Wer die Regiearbeiten Guths kennt, weiss, dass ihm das Weihevolle auf der Bühne ein Greuel ist. Seine eigene Interpretation, die er zusammen mit dem Ausstatter Christian Schmidt entworfen hat, zeigt drei Deutungspfade, die eng ineinander verschlungen verlaufen. Da ist zum einen der Pfad der Interpretationsgeschichte. Guth erinnert daran, dass Barcelona «Parsifal» nach Ablauf der Sperrfrist im Jahr 1912 als erste Bühne ausserhalb Bayreuths zeigte, und zwar noch in der Neujahrsnacht 1913. In der Folgezeit gab es in ganz Europa eine Flut von Inszenierungen. «In der unsicheren Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war überall die Sehnsucht nach einer Führerpersönlichkeit zu spüren» sagt Guth, «nach einem Hitler, einem Mussolini, einem Franco.» Und in «Parsifal» ist es die siechende Gralsritterschaft, die sich nach einem Retter sehnt, den sie im Helden Parsifal erkennt.

Zum Zweiten zeigt der Regisseur «Parsifal» als Familiengeschichte. Bei ihm – und da beruft er sich auf gewisse mittelalterliche Quellen – ist der Zauberer Klingsor der Bruder des Gralskönigs Amfortas, mithin sind sie beide die Söhne des greisen Titurel. Dieser verteilt seine Liebe ungleich, bevorzugt Amfortas und lässt Klingsor zu kurz kommen. Während Klingsor sich nur durch Ablehnung definieren kann, bleibt Amfortas in der väterlichen Umklammerung gefangen. Wenn Titurel im ersten Akt den Gral enthüllt, macht es den Anschein, als trinke er daraus das Blut des Amfortas. Der dritte Pfad verfolgt die psychische Entwicklung Parsifals. Guth sieht in Wagners Libretto die klassischen Entwicklungsstufen vom Kind zum Erwachsenen angelegt. Im ersten Akt besitzt Parsifal noch keine Werte-Kategorien, im zweiten Akt erfolgt durch Kundry eine Spiegelung im Du, und im dritten Akt erlangt Parsifal in der Auseinandersetzung mit den Realitäten der Gralsritter seine Reife bzw. Desillusionierung.

In der Inszenierungsgeschichte von «Parsifal», so Guth, gebe es grundsätzlich zwei Richtungen. Die eine setze auf den «Drogenfaktor» und hülle die Welt der Gralsritter in einen sphärischen Dunst. Die andere gehe davon aus, dass in diesem Stück viele Dinge geschähen, die konkretisiert werden könnten. Unschwer zu erraten, für welche Richtung Guths Herz schlägt, denn der Theatermacher erzählt derart viel, dass das Publikum möglicherweise überfordert sein könnte. Nach der Premiere in Barcelona schrieb Jörn Florian Fuchs von einer «komplexen, gelegentlich auch etwas zu komplizierten Arbeit». Und Hans Felten, unter dem Pseudonym der Zerlina von Faninal, zählte einen ganzen Fragenkatalog von möglicherweise angesprochenen Themen auf: «Ein Bruderzwist im Hause Gral? – Traumata im Klosterlazarett? – Im Spanischen Bürgerkrieg? – Im Ersten Weltkrieg? – Raffinement im Bündnis von Schönheit und Krankheit?» Claus Guth glaubt indes nicht, dass er das Publikum überfordere, «denn die Leute haben ja fünf Stunden Zeit, um alle diese Dinge auf sich einwirken zu lassen».

https://www.nzz.ch/die_handschrift_des_psychologen-1.10936631

Den folgenden Satz von Thomas Mann kann ich durchaus auch für mich als Fazit hinstellen: „Obgleich ich recht skeptisch hinging und das Gefühl hatte, nach Lourdes oder zu einer Wahrsagerin oder an sonst an einen Ort suggestiven Schwindels zu pilgern, war ich schließlich tief erschüttert.“ (Brief an Ludwig Ewers, Tölz, 23. August 1909)

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