Antwort auf: Funde aus dem Archiv (alte Aufnahmen, erstmals/neu veröffentlicht)

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gypsy-tail-wind
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Elsie Bianchi Trio – At Chateau Fleur de Lys (Atlanta 1968) (Sonorama, CD/LP, 2017) | Lag ein paar Tage herum, weil ich meinen Namen nicht lesen konnte und keine fremde Post öffnet … DOH. Egal, lief ja genug Musik die letzten Tage und jetzt ist diese jüngste – und wohl allerletzte – Elsie Bianchi Scheibe im Player. Unaufgeregt ist das, vielleicht auch etwas langweilig, denn der beste Saxophonist und Flötist ist Siro Bianchi, ihr Ehemann nicht, aber sein Solo über die längere und langsamere Version „Things Ain’t What They Used to Be“ ist schon ziemlich toll. Elsie spielt hier öfter Hammond Orgel (was Siro dann vom Bass befreit und eben zu den Blasinstrumenten wechseln lässt), am Schlagzeug sitzt Peter Brunner. Bei Sonorama hat man sich ja rührend um das schmale Werk der 2016 verstorbenen Pianistin und Bandleaderin Elsa Brunner, die bald Bianchi hiess und sich Elsie nannte, gekümmert. Ab 1951 trat sie beim Amateur Jazz Festival auf, wo sie bis 1953 verschiedene Preise gewann. Bianchi arbeitete als Sekretärin: „I was an exceptionally good stenotypist because I played the piano“, wird sie in Arne Reimers Liner Notes zitiert. Sie spielte mit Bands und nahm an Jam Sessions teil, traf da auch Siro Bianchi, ihren künftigen Ehemann, mit dem sie bald ein Trio bildete, dem verschiedene Drummer angehörten: Fritz Stähli, Kenny Schmidt, Alex Bally, Daniel Humair und schliesslich der Neffe von Elsie, Peter Brunner. 1955 lud das Radio in Zürich das Trio (Elsie, Siro und René Nyffeler) ein, mit Chet Baker zu spielen, sie traf später in Italien erneut auf ihn – Aufnahmen davon scheint es leider keine zu geben (da müsste man mal in die Radio-Archive steigen). Das Trio trat im Winter in den Bergen auf – Unterhaltungsmusik für dinierende und tanzende Gäste – diese harte Schule hört man auch, im Guten wie im weniger Guten, wenn man sich die wenigen Aufnahmen zu Gemüte führt. 1958 reiste man ein erstes Mal in die USA, wo bereits zwei von Elsies vier Brüdern lebten (eine Schwester gab es auch noch, alle lernten sie als Kinder ein Instrument – das Akkordeon … – zu spielen). Dort spielten sie mit Bob Cooper im Lighthouse, nahmen anscheinend auch mit Howard Rumsey auf (ob davon je etwas ans Tageslicht kam?) und lernten einige der wichtigen West Coast-Musiker kennen. Einer der Brüder stellte sie Joe Glaser vor, dem Manager und Booking Agent, der dem Trio die nächsten Jahre einige US-Gigs organisierte. Von 1962 bis 1968 spielte die Gruppe jeweils von Frühling bis Herbst in den USA, aber auch weiterhin im Atlantis in Basel (von wo die ersten Aufnahmen stammen, die Sonorama auch wieder vorgelegt hat – die erste private LP jetzt auch wieder als 10″-Platte). Im Winter spielte man dann wieder in den typischen Winrtersportorten daheim in der Schweiz. Man reiste damals mit dem Schiff, damit mit das Auto mitnehmen konnte – inklusive Wurli und Bass und später auch eine portable Orgel. Vorsorgliche Massnahmen gegen schlechte Klaviere unterwegs in den USA. Es gibt im Foldout-Digipack ein paar Photos und andere Erinnerungsschnipsel aus der Zeit. Die Bianchis waren noch zehn weitere Jahre unterwegs, dann wechselten sie ins Schuhgeschäft über, das Elsies Brüder in den USA aufgebaut hatten und zogen sich aus der Musikwelt zurück, in der nicht mehr viel Interesse am Jazz herrschte … ein hübsches Stück Geschichte von den Rändern, das Sonorama uns mit dieser überaus hörenswerten CD präsentiert. Die Aufnahmen stamen aus einem Club am Rand von Atlanta, dem Fleur de Lys, in dem das Trio im Sommer 1968 einen langen Gig spielte. Sonorama erhielt nach dem Tod Elsie Bianchis (am 17. Juli 2016) eine Reihe von Aufnahmen von da, von denen er die hörenswerten und technisch einwandfreien nun für diese Scheibe zusammengestellt hatte. 43 Minuten sind es geworden (von den vier Stunden seien viele in ganz übler Qualität gewesen, zudem manche Stücke unvollständig etc.) und Arne Reimer schrieb einen ausführlichen Text dazu, aus dem ich mich eifrig bedient habe für die obigen Zeilen. Ein verdienstvolles Unterfangen, und für jene, die Elsie Bianchi bereits kennen und mögen, gewiss eine lohnenswerte Sache (den anderen würde ich zuerst mal „Atlantis Blues“ empfehlen, die 2004 ganz zu Beginn von Sonoramas Existenz veröffentlichte, immer noch aufzutreibende CD, oder „The Sweetest Sound“, das Saba-Album von 1963, das derzeit in Japan in einer 2016er-Neuauflage – nicht der ersten aus Japan – noch greifbar ist … habe mir selbst gerade ein Exemplar bestellt).

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #162: 8.4., 22:00; # 163: 13.5., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba