Antwort auf: Funde aus dem Archiv (alte Aufnahmen, erstmals/neu veröffentlicht)

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gypsy-tail-wind
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Nach all der Aufregung tut Musik weiterhin gut … erstmal: klanglich ist das hier etwas besser, sprich das Klavier von Mulgrew Miller geht nicht halb so sehr unter, aber beide CDs sind völlig okay, was die Qualität der Aufnahmen betrifft (Vinyl gibt es ja auch, wärst Du danach auf Ausschau @napoleon-dynamite?)

Dem Fazit von @soulpope kann ich zustimmen: hier geht es verdammt heiss zu und her! Wenn Du auf der Suche nach gutem Post Bop bist, gibt es eh wenig besseres als Woody Shaws Band – Plural eigentlich, ob es nun die Version mit Carter Jefferson/Larry Willis, Jefferson/Onaje Allen Gumbs, Steve Turre/Willis oder Turre/Mulgrew Miller – wobei Turre gewiss ein zentraler Shaw-Sideman war, wenn nicht DER wichtigste – gerade der Sounds mit zwei Blechbläsern und keinem Saxophon in der Frontline gehört zum besonderen Reiz vieler Aufnahmen Shaws.

Los geht es mit einer tollen, fast 20 Minuten langen Version von „Katrina Ballerina“, das Woody III in seinen Liner Notes nutzt, um seinen Vater wieder mal abzufeiern, überflüssigerweise gerade im Hinblick auf dessen „classical leanings“, er war ja „himself a serious student of modern classical music“ – als ob wir das nicht seit „Zoltán“ von 1964 wüssten und als ob es ihn als Jazzmusiker grösser machen würde … pardon, ich mag den Kerl (also Woody III) einfach nicht, ich wünschte mir kritischere und distanziertere Liner Notes, aber man muss ihn wohl schreiben lassen, wenn man heute was von Shaw rausbringen will, ohne ihn geht das einfach nicht).

Nach einer sehr sympathischen Ansage des Stückes und der Band geht es mit „Joshua C.“ weiter, 17 Minuten lang. Shaw hatte das Stück für seinen Tai Chi-Lehrer und Hypnosetherapeuten geschrieben (bin ich froh muss ich die Siebziger nicht verstehen … und auch die Zeitgenossen nicht, die sowas noch heute pflegen) … hier wird mit Orgeltönen und Stop-and-Go mal wieder überdeutlich, was für ein grossartiger Trompeter Shaw war, wie reaktionsschnell, wie klar seine Linien noch in rasenden Läufen bleiben, wie singend sein Ton noch in der grössten Höhe – das ist wahnsinnig brilliant, aber niemals glatt oder Selbstzweck. Turre hat es nach so einer Vorlage natürlich nicht leicht, aber er schlägt sich wie üblich sehr gut – er gehört ja unter den Posaunisten nicht zu jenen, denen es an Technik mangelt. Die Rhythmusgruppe glänzte schon im ersten Stück (inklusive Schmierebass-Solo von Stafford James – nichts gegen ihn, aber diese Art, den Bass aufzunehmen mag ich bekanntlich einfach nicht sehr gerne) und ist auch hier super. Mulgrew Miller war ja die grosse Überraschung, als @nail75, @redbeansandrice und ich vor ein paar Jahren in Ludwigshafen Archie Shepp und Yusef Lateef hörten.

Es folgt danach folgt „Sunbath“ („Sun Bath“?) aus der Feder von Peggy Stern (die gemäss Woody III mal in Shaws Band spielte, wusste ich nicht – es ist auch in Woody IIIs Liners, dass das Stück in zwei Worten geschrieben wird), wieder 19 Minuten lang. Hier gibt es einen binären Funk, rhythmisch eher langweilig finde ich, aber melodisch glänzt Shaw dafür umso mehr, er spielt hier ziemlich sicher Flügelhorn, der Ton ist jedenfalls weicher, runder und weniger spitz als sonst. Und hier finde ich dann auch den Bass ziemlich passend klingend, dafür Reedus etwas plump … aber das macht alles eh nichts, wenn Shaw so spielt wie hier, er verzahnt sich auch ganz schön mit der Rhythmusgruppe, besonders mit Mulgrew Millers Klavier. Turre macht dann, nach sechs Minuten des Höhenfluges, einen auf Antithese. Reedus reduziert die Lautstärke, Turre steigt ganz tief ein, das klingt eher wie ein Euphonium (könnte man bei der Flüssigkeit seines Spiels eh öfter denken) – er ist auch selbst, im Gegensatz zu Shaw, ziemlich funky, lässt sich viel eher auf den Groove ein – und spielt so auf seine eigene Weise ein weiteres sehr tolles Solo, das zum völligen Gegenpunkt wird. Wenn er am Ende rifft, spielt er so tief wie eine Tuba … was der auf der Posaune kann, ist schon schwer beeindruckend. Mulgrew Miller ist als nächster dran und bis dahin ist die Rhythmusgruppe vollständig aufgewärmt – seine Version vom Tyner-Piano kommt sehr gut, aber es ist weiterhin eher er selbst als Reedus, der die interessanten Akzente setzt. Und dank der drei phantastischen Soli wird die rhythmisch langweiligste Nummer eben doch zum Bringer.

Den Abschluss macht dann „To Kill a Brick“, ein Blues, den Shaw für seinen einstigen Boss Art Blakey geschrieben hatte (in Shaws Zeit bei Blakey waren übrigens auch Carter Jefferson und Steve Turre an Bord der Jazz Messengers). So endet die tolle Zusammenstellung mit einer erdigen Note, allerdings zerklüftet und in halsbrecherischem Tempo. Im Thema kriegt Turre ein paar Takte, doch dann legt wieder Shaw als erster los und man glaubt mal wieder kaum seinen Ohren … alles in allem eine tolle Veröffentlichung. Allerdings kann ich sie nicht wirklich in die Menge an guten Shaw-Releases einordnen – die vier Volumen „Live“ auf HighNote, das Enja-Album mit exakt derselben Band etc. (die HighNotes sind alle mit früheren Line-Ups aber auch schon mit James und zumeist Turre … bei den bisher zwei „The Tour“, auch HighNote, ist es einfacher: Vol. 1 ist super, Vol. 2 ein ganzes Stück weniger toll aber immer noch sehr gut). Aber der Pö-Mitschnitt kann unabhängig davon gut für sich allein stehen, das ist klar!

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #162: 8.4., 22:00; # 163: 13.5., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba