Antwort auf: Folgende Ausstellung werde ich besuchen …

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gypsy-tail-wind
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Gestern mal wieder in Basel, Kunstmuseum, zum ersten Mal seit der Eröffnung des Neubaus.

Die gerade gestartete Ausstellung CHAGALL – DIE JAHRE DES DURCHBRUCHS 1911–1919 führt wohl auch bei mir zu einer Neubewertung des Malers. Die Werke, aus der Zeit in Paris sowie den – zwangsläufig, er reiste 1914 für drei Monate nach Russland zurück, nach sechs Wochen brach der Krieg aus – Jahren in Russland vor der neuerlichen Emigration sind wirklich beeindruckend, alles in allem viel düsterer, stärker als was man gemeinhin so von ihm kennt. Aufschlussreich diesbezüglich war ein Gemälde im letzten Saal, das Chagall nach der Rückkehr nach Paris – als alle seine Bilder längst verkauft waren – erneut malte. In Basel hängen nun Original und eigene Kopie direkt nebeneinander. Gut ist auch die Einbettung ins Schtetl, es gibt auf halbem Weg – was auch zeitlich so halbwegs passt, obwohl ich die Ausstellung diesbezüglich etwas unübersichtlich fand – einen Raum, in dem Photographien gezeigt werden von der Welt, in der der erklärte jüdische Künstler Chagall (er blieb auch nach der Revolution 1917 dabei, sich offen zu seinem Judentum zu bekennen, machte dennoch ein paar Jahre Karriere, wurde zum Kommissar für die Schönen Künste in seiner Heimatstadt Witebsk (heute Weissrussland) und berief auch Avantgarde-Künstler wie Malewitsch und El Lissitzky an die Schule, die er leitete. Doch 1920 drehte der Wind und er reiste nach Berlin aus. Und dann begannen wohl seine langen Jahre des Kopierens (oder Variierens) und Wiederholens – er hatte ja einige Zeit, seine Lebensjahre sind 1887-1985.

Nach Basel zog es mich aber primär, um – gerade noch rechtzeitig, schliesst morgen – die Ausstellung DER VERBORGENE CÉZANNE – VOM SKIZZENBUCH ZUR LEINWAND zu sehen, in der aus den reichen Basler Beständen an Cézanne-Skizzen geschöpft wird. Für einen grossen Cézsanne-Fan natürlich toll. Die paar Gemälde aus der Sammlung hat man in die Ausstellung eingebettet, inklusive Vorstufen und Studien aus den Skizzenheften.

Der Neubau, in dem die beiden Ausstellungen liefen, ist ordentlich klobig, grad so, wie Museumsarchitektur heute halt gerne ist. Schön ist das nicht unbedingt, auch wenn mir schlichte Architektur durchaus zusagt. Dass im Treppenhaus dann aber noch – oh, man repräsentiert – noch Marmor zum Einsatz kam, hätte nicht sein müssen. Für mich lieber Beton. Pardon.

Im unterirdischen Durchgang vom Haupthaus in den Neubau gibt es zudem etwas über ein Dutzend Monitore, auf denen jeweils zwei Kurzfilme zu sehen sind, die Aktionen des grossartigen Appenzeller Künstlers Roman Signer festhalten – habe ich mir im Anschluss komplett reingezogen – und öfter mal laut herausgelacht, während die Passanten auf dem Weg zu Chagall irritiert an mir – und leider auch den tollen Filmen – vorbeigingen.

Danach ging es weiter in die Sammlung, wo es u.a. passend zu Chagall noch einen tollen Russland-Schwerpunkt zu sehen gibt. Robert Genin war für mich völlig neu, über Alexej von Jawlensky und v.a. über Marianne von Werefkin freute ich mich, auch Wassily Kandinsky und der bemerkenswerte Chaïm Soutine sind da vertreten – nur zwei Säle, aber toll.

Toll ist die Sammlung in Basel überhaupt, ich schlenderte relativ zügig durch die Säle mit Kunst von Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert und danach gemütlicher (sprich: habe mir praktisch jedes Bild angeschaut) durch den oberen, etwas kleineren Stock mit der Kunst des 20. Jahrhunderts. Was die ganzen Abzocker (bzw. Alt-Abzocker, heute halten sie sich ja für anständige Leute) da so alles zusammengekauft und gespendet oder dauergeliehen haben, ist schon bemerkenswert. Zu den Bildern, die aus Nazi-Raubbeständen angekauft wurden (es sind einige davon in der Sammlungs-Präsentation zu sehen), gibt es jeweils einen längeren erklärenden Text zur Provenienz und den Umständen des Ankaufs – ob man da ausser zu dokumentieren auch sonst noch was unternommen hat, weiss ich allerdings nicht.

Nach einem Imbiss ging es danach noch runter an den Rhein (dabei ging mir der grosse 90er-Hit „Summer“ der Revolting Allschwil Posse durch den Kopf … „Basel, de Song isch für di / Du alti Schlampe, Schtadt am Rhy!“) zum Museum für Gegenwartskunst, dem zweiten (mit dem Neubau jetzt dritten Haus des Kunstmuseums), in der die Ausstellung RICHARD SERRA – FILMS AND VIDEOTAPES. Eine Ausstellung nur mit Filmen? Ich hatte keine Ahnung, was ich da erwarten würde, kenne von Serra aus eigener Ansicht eh nicht gerade viel, mag dieses Wenige aber irgendwie. Die gezeigten Filme – 16 an der Zahl – sind klasse, zwischen wenigen Minuten und 20 oder auch mal 40 Minuten. Serra arbeitet mit minimalistischen Mitteln (dass auch Philip Glass bzw. dessen Hand mal mitmacht, passt da umso besser), meist hat man das Prinzip recht rasch erkannt, dann stellt sich die Frage, ob man sich aussetzen mag oder nicht (was ich – leider – aus Zeitgründen bei den längeren Filmen nur teilweise tat). Es gab sind aber auch sehr politische Filme zu sehen, etwa „Television Delivers People“ von 1973, auf dem ein gelber Text auf blauem Hintergrund durchläuft, begleitet von kommerzieller TV-Musik: „The product of television, commercial television, is the audience. Television delivers people to an advertiser. […] It is the consumer who is consumed. You are the product of TV. You are delivered to the advertiser, who is the customer. He consumes you. The viewer is not responsible for programming. […] You are the product of TV.“ Man kann ihn auch in der Tube sehen:

Im obersten Stock des Hauses gibt es dann noch Teile aus der ebenfalls beachtlichen Beuys-Sammlung – da ich seit zehn Jahren oder so nicht mehr dort war, guckte ich auch das wieder mal an. Ich bräuchte manchmal bei der Arbeit einen toten Hasen und eine schalldichte Scheibe, dünkt mich …

Schleppte die Kataloge zu Chagall und Cézanne heim und holte dann direkt noch die vor ein paar Tagen bestellte Kassette von Mandelstam ab, was ja nach Chagall und den anderen Russen bestens passte.

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