Antwort auf: The Modern Jazz Quartet

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1955-1956 – das Modern Jazz Quartet auf Prestige und Atlantic
+ Milt Jackson Quartet
 
Milt Jackson (vib), John Lewis (p), Percy Heath (b), Connie Kay (d)
 
Vom Januar und Februar 1955 gibt es weitere wohl Boris Rose zu verdankende Mitschnitte des MJQ aus dem Birdland in New York. Ich kenne sie nicht. Im Februar wirkte Jackson (als Pianist und Vibraphonist) bei einer Savoy-Session von Kenny Clarke mit. Erst im Mai gibt es die nächsten Aufnahmen, wieder mit Horace Silver und unter der Leitung Jacksons – es sind die ersten mit dem neuen Drummer Connie Kay.

Zum Drummerwechsel schrieb der Kritiker Ralph J. Gleason (dem Milt Jackson sein Stück „Ralph’s New Blues“ widmete) Anfang 1956, als die Gruppe ins Black Hawk in San Francisco zurückkehrte (zitiert nach den Liner Notes von Doug Ramsey im MJQ-Mosaic-Set):

Ralph J. Gleason
The new drummer was relatively unknown and his predecessor was one of the most influential of modern drummers. Delightful as the group had sounded before, it sounded even better now because at last it had achieved that unity of feeling and purpose which Lewis had spoke of and which breathes the life blood of true art into the performance, making it a living thing existing on its own, over and above the individual parts“

 

1955-05-20 – New York
Prestige
Milt Jackson (vib), Horace Silver (p), Percy Heath (b), Connie Kay (d)

Das Album, schlicht „Milt Jackson“ betitelt, ist ziemlich verschlafen – vielleicht ein Moodsville-Album, bevor es das Sublabel von Prestige gab. Jedenfalls hätte Kenny Clarke sich hier wohl wieder zurückgebunden gefühlt. Das Album ist das dritte in der neuen 12″-Serie von Prestige und die Liner Notes von Ira Gitler öffnen mit einer Erklärung des Formats und vermelden auch, dass Rudy Van Gelder ältere Aufnahmen des Labels neu bearbeiten würde: „Remastering will be done by Rudy Van Gelder who will bring the sound up to new standards“). Hauptanliegen sei, dass „ample time for development of idea by the soloist and composer“ vorhanden sei. Die danach erwähnte „tremendous vitality“ von Jackson ist es dann leider, die hier ein wenig fehlt – das Album ist zwar sehr stimmungsvoll und auch aus einem Guss, aber in den raren Momenten, wenn Jackson loslegt, etwa gegen Ende seines Solos in „Moonray“, denkt man halt schon, dass jetzt ein Ausgangspunkt wäre, von dem aus es nochmal ein paar Gänge höher gehen könnte. Silver fügt sich gut ein, seine Funk-Patterns sind zwar da, aber irgendwie knallen auch sie zuwenig in die gepflegte Stimmung. Bis dahin hörte man „Wonder Why“, ein damals aktuelles Filmthema, und „My Funny Valentine“, in der zweite Hälfte geht es mit der Ballade „The Nearness of You“ (ein feines Thema, keine Frage – und es hat auch genügend Substanz, so dass Jackson eine schöne Balladen-Performance gestaltet), den Jackson-Blues „Stonewall“, in dem die Band für einmal halbwegs aufwacht, Kay sich aber für meinen Geschmack zu sehr zurückhält, und zum Ausklang nochmal eine schöne Ballade, „I Should Care“. Das ist dann eben alles etwas zu schön, etwas zu verhalten – und klar, das LP-Format hätte man dafür auch nicht wirklich gebraucht (einfach zwei Stücke weglassen oder halt auf die nächste verschachtelte Prestige-Platte hauen).
 

1955-07-02 – Hackensack, NJ
Prestige

Im Juli ging das Modern Jazz Quartet erstmals mit Connie Kay ins Studio – und zugleich zum letzten Mal für Prestige. Los geht es mit Jacksons „Ralph’s New Blues“, dem Kritiker Ralph J. Gleason gewidmet. Das Thema setzt sich sofort in den Gehörgängen fest und Jackson wie auch Lewis spielen grossartige Blues-Soli. Das Thema selbst wurde von Lewis als fugenartiger Kanon arrangiert, in dem Jackson zuerst loslegt, gefolgt von Heath und Lewis, während Kay im Hintergrund Synkopen trommelt – allerdings sehr weit im Hintergrund. Es folgt „All of You“, gespielt als Ballade – was aufgrund der nahezu alles überlagernden Version von Miles Davis aus dem Jahr danach recht ungewöhnlich scheint. Es folgt eine zügige Version von „I’ll Remember April“, die als konventionelles Solo-Vehikel daherkommt, aber durch Lewis‘ charakteristisches Spiel doch recht speziell wirkt. Jackson nutzt das Tempo und die offene Struktur zu einem mitreissenden Solo und hinter ihm hört man tatsächlich den von Kenny Washington erwähnten grossartigen Cymbal-Sound von Connie Kay. Nach Lewis‘ Solo treten er und Jackson in einen Dialog, der ohne Drum-Intermezzi auskommt und in dem die Ideen nur so hin und herfliegen – da wird auf biegen und brechen gebopt, was ja bei MJQ immer auch der Fall war, aber eben nicht nur, oder auch in ungewöhnlicher Form. Weiter geht es dann mit einem Gershwin-Medley von knapp acht Minuten, in dem die Stücke „Soon“, „For You, for Me, for Evermore“, „Love Walked In“ und „Love Is Here to Stay“ durchmessen werden – das erste ein tolles Feature für Percy Heath, die anderen gehören dann Jackson und Lewis. „Concord“, das Titelstück des Albums, ist dem Platz in Paris gewidmet, der mit seinem Obelisken zwischen dem Louvre und dem Champs Elysées liegt – eine Fuge, in der es aber auch improvisierte Abschnitte gibt. Insgesamt kommt das dem Jazz schon ein ganzes Stück näher als „Vendome“ (noch ein Platz mit Obelisk in Paris), zugleich dichter aber auch entspannter. Zum Abschluss der Session ist dann noch „Softly as in a Morning Sunrise“ zu hören – auch wieder sehr entspannt und doch raffiniert mit einem Zitat aus Bachs musikalischem Opfer im Intro, einem trägen Two-Beat, Piano-Gegenlinien zum Thema – und viel Raum für Soli, denn das Stück dauert ebenfalls fast acht Minuten. Das MJQ nutzt jetzt tatsächlich den Raum der 12″-LP in der Tat aus, die sechs Stücke ergeben zusammen schon fast die 40 Minuten, die bald zur Richtgrösse für LPs wurden.
 
Milt Jackson und Percy Heath waren im August zurück bei Van Gelder, um das Album „Miles Davis And Milt Jackson Quintet/Sextet“ einzuspielen, Jackson traf zudem im Oktober wieder auf Kenny Clarke, als „Opus de Jazz“ entstand, das Jackson und Frank Wess als Co-Leader bei Savoy herausbrachten. Die Hausrhythmusgruppe bei Savoy bestand neben Clarke damals aus Hank Jones (p) und Wendell Marshall (b), bei dieser ersten Session ist aber Eddie Jones am Bass zu hören. Im Januar 1956 ging Jackson mehrmals gemeinsam mit Lucky Thompson für Savoy ins Studio, die resultierenden Aufnahmen zählen zu den schönsten des Jazz.

Es war Connie Kay, der die Verbindung mit Atlantic Records herstellte, dem Label, für das das MJQ in der Folge den grössten Teil seiner Diskographie einspielen sollte, zumal bis 1974, als die Gruppe ihre dauerhafte Existenz beendete. Kay war damals so etwas wie der Haus-Drummer des Labels und hatte Aufnahmen mit Ruth Brown, Big Joe Turner, Ray Charles und vielen anderen gemacht.

Im Januar und Februar 1956 fanden die Aufnahmen zu Jacksons eigenem Debut auf dem neuen Label statt, „Ballads and Blues“ (John Lewis und Kenny Clarke sind auf den ersten beiden Sessions, Lucky Thompson auf der ersten; auf der dritten dann Percy Heath) – nicht nur er und das MJQ, auch John Lewis, der bei Prestige als Leader gar nie aufnahm, begann alsbald für Atlantic Alben aufzunehmen. Und mitten in diese geschäftige Zeit fallen auch bereits die ersten Atlantic-Session des MJQ.
 

1956-01-22 – New York
1956-02-14 – Hackensack, NJ

Atlantic

Die ersten Atlantic-Sessions wurden auf dem Album „Fontessa“ veröffentlicht – hier kommt dann auch die commedia dell’arte ins Spiel, die eingangs schon erwähnt wurde. Doch davon später. In seinem Kommentar zum Reissue des Albums in der „Atlantic Masters“-Serie hebt Keith Shadwick den revolutionären Charakter der Gruppe hervor, die sich ja ihre Modernität in den Titel geschrieben hatte: „The name is the giveaway. These men, too, were radicals in their day. It’s just that their advances in the jazz art have been so thoroughly assimilated into the mainstream of jazz practice (much as has Bill Evans‘ or Horace Silver’s), that it is difficult to envisage a time when their collective approach to music-making was seen as decidedly revolutionary.“ Shadwick führt zum Beweis für diese These – die man wohl diskutieren kann, aber die ich hier auch gerne einfach mal in den Raum stelle – dann Auszüge aus Ralph Gleasons Liner Notes für die Erstveröffentlichung an, in der dieser meint, der Jazz sei erwachsen geworden und das MJQ dafür eins der „most beautiful, exciting and expressive examples […] in its own special way, the Modern Jazz Quartet has the excitement of a big band, its marvellous propulsion and universal beat.“ Solche Sätze mögen uns heute tatsächlich befremden, aber es war ja nicht nur Gleason, der damals beeindruckt war – und wer sind wir, solche Statements von Augen- bzw. Ohrenzeugen mit einer arrogang-unwirschen Geste vom Tisch zu wischen und mit dem Gerede von domestiziertem Kammerjazz zu kommen?

In „Fontessa“ jedenfalls scheint das MJQ das erste Mal die neue Form des Long-Players so richtig zu nutzen. Das Album wirkt wie aus einem Guss, obwohl es einen wilden Mix aus Lewis’scher Kontrapunktik (im Opener „Versailles (Porte de Versailles)“), Jackson’scher Blues-Predigt („Bluesology“, seelenverwandt Ann Ronells „Willow Weep for Me“, das direkt folgt), wildem Bebop (Gillespies „Woody’n You“ zum Ausklang), grosser Balladenkunst („Angel Eyes“ und „Over the Rainbow“) sowie einer neuen Suite bietet, die John Lewis für die Originalhülle beschrieben hat (vgl. weiter unten).

Das Album ist auf jeden Fall eins der schönsten im grossen Katalog der Gruppe. Vieles, was wir hier zu hören kriegen, ist noch sehr frisch und doch ist das Konzept inzwischen weit gediehen – und mit Connie Kay wurde tatsächlich der perfekte Drummer gefunden, der unaufdringlich spielt, sich dabei aber nicht langweilt, weil er auch ordentlich hip drauf ist, selbst wenn man öfter mal ziemlich aufpassen muss, um das auch mitzukriegen – überhaupt ist die Band mit Kay oft sowas von in the pocket, manchmal geht man da auf einen hart swingenden Ritt, wie man ihn wohl erst ein knappes Jahrzehnt später mit der perfekt geölten Band von Thelonious Monk (mit Ben Riley) wieder erleben konnte. Und wenn Lewis dann noch seine typischen Akkorde dazu spielt, rhythmisch wie harmonisch sparsam, effektiv, sehr sophisticated, Heath darunter seine tiefen Töne legt … das kickt einen auf ein anderes Level!

Los geht e mit „Versailles“, diesmal nicht einem Platz in Paris gewidmet sondern einem Stadttor aus der letzten Befestigung Paris‘, die 1940-44 angelegt und natürlich längst geschleift wurde. Es gibt Kontrapunkt bis zum Abwinken, auch hinter Jacksons tollem Solo spielt Lewis mehr oder weniger einfach weiter, im Thema sind auch Bass und Drums eingebunden – zunächst ein aufdringlicher Triangel im Intro, aber selbst der klingt bei Kay plötzlich hip! Was bei aller der Gruppe gerne angekreideten Domestiziertheit nicht vergessen werden sollte ist ihre grosse Spontanität. Im Metronome Yearbook des Jahres 1955 beruft Lewis sich auf Count Basie und hebt hervor, wie wichtig der spontane Geist der Improvisation für die Gruppe war (das einleitende „they“ bezieht sich auf seine „jazz ideals“:

John Lewis
They stem from what led to and became Count Basie’s band of the thirties and the forties. This group produced an integration of ensemble playing which projected – and sounded like – the spontaneous playing of ideas which were the personal expressions of each member of the band rather than the arrangers or composers. This band had some of the greatest jazz soloists exchanging and improvising ideas with and counter to the ensemble and the rhythm section, the whole permeated with the folk-blues element developed to a most exiting degree.

I don’t think it’s possible to plan or make that kind of thing happen. It is a natural product. All we can do is reach and strive for it.“

Das geschieht eben auch in „Versailles“, einer Nummer, die manchem beim oberflächlichen hinhören steif und straff organisiert scheinen mag. Doch eben: das täuscht. Weiter geht es mit „Angel Eyes“, Triangel und Vibraphon spielen eine Art Orgelpunkt, Lewis skizziert am Klavier das Thema, von Heaths Bass umspielt. Die Drums bleiben zurückhalten auch hinter Milt Jacksons wundervollem Solo. Und wie im Opener wird auch hier das Thema nicht einfach wiederholt sondern der Schluss ist ganz anders arrangiert als der Auftakt.

Dann folgt das Opus Magnum des Albums, die mehrteilige Suite, die dem Album den Titel gab, und in der Lewis sich auf die commedia dell’arte bezieht und gleich selbst eine Beschreibung für die Plattenhülle verfasste:

John Lewis
FONTESSA is a little suite inspired by the Renaissance Commedia dell’Arte. I had particularly in mind their plays which consisted of a very sketchy plot and in which the details, the lines, etc. were improvised.

This suite consists first of a short Prelude to raise the curtain and provide the theme. The first piece after the Prelude has the character of older jazz and the improvised parts are by the vibraphone. This piece could perhaps be the character of Harlequin. The second piece has the the character of less older jazz and the improvised parts are by the piano. The character here could perhaps be Pierrot.

The third piece is of a still later jazz character and develops the main motif. The improvised parts are by the drums. This character could perhaps be Pantaloon. The opening Prelude closes the suite.

Fontessa is the three-note main motif of the suite and is perhaps a substitute for the character of Columbine.

Was man auch noch erwähnen muss: in „Fontessa“ gibt es auch eine Passage, die stark an Lewis‘ „Django“ erinnert.

Weiter geht es danach mit „Over the Rainbow“, das als musikalischer Sketch eher denn als Ballade daherkommt, Jackson spielt, Lewis kommentiert, das geht durch mehrere Kapitel, während Bass (ein paar Töne) und Drums (ein paar feine Beckenwirbel) erst gegen Schluss ein wenig beitragen. Dann folgt der bluesige Kern der zweiten Albumhälfte, die mit Jacksons „Bluesology“ beginnt. Dieser präsentiert nach einem Intro ohne Klavier über einen Two-Beat-Groove von Heath das Riff, Kay variiert seine zurückhaltende aber perfekte Begleitung, Lewis stösst dann im zweiten Durchgang dazu und spielt quasi die Antworten auf Jacksons Fragen, der dann auch gleich mit einem tollen Solo folgt. Kay dreht hinter und mit Jackson Chorus für Chorus auf, Lewis spielt immer andere Riffs, die er dann für jeweils einen Durchgang durchzieht, einfache Akkorde, kleine Motive – und aus einer toll rhythmisierten Passage steigt er dann in sein Solo ein – und dieses erinnert daran, dass auch er tief im Blues verwurzelt war. Jimmy Heath, der Bruder von Bassist Percy, war ein genauer Beobachter des MJQ und Doug Ramsey zitiert ihn in seinen Liner Notes gerade zu „Bluesology“, zum Thema der Lewis’schen Gegenmelodien hinter Jackson: „‚Milt hated it. Hated it,‘ he repeated with heat. ‚He wanted John to accompany him, not to play contrapuntal lines against what he was playing. That distracts.‘ Jimmy paused. ‚But it worked.'“ – In der Tat! Auch in „Willow Weep for Me“, dem grossartigen Stück von Ann Ronell, spielt Lewis Motive und Riffs gegen Jacksons ruhige Themenpräsentation. Den Abschluss macht dann Dizzy Gillespies Bop-Klassiker „Woody’n You“, den im selben Jahr auch Miles Davis mit seinem neuen Quintett wiederbelebte („Relaxin‘ with the Miles Davis Quartet“, Prestige). Lewis spielt auch hier eine ungewöhnliche Begleitung, doch wie Jimmy Heath feststellt: das funktioniert verdammt gut! Jackson legt mit einem zupackenden Bebop-Solo mit, das die Changes schön ausspielt und von Heath/Kay angetrieben wird. Lewis folgt und bleibt im Solo eigentlich im selben Modus wie in der Begleitung – auch das ist Teil der unendlichen Faszination, die sein Spiel auf mich ausübt.

Ich höre die Atlantic-Alben der Jahre 1956-64 aus der Mosaic-Box von 2011, die insgesamt vierzehn Alben versammelt. Atlantic brachte von allen Mono- und Stereo-Ausgaben heraus, Mosaic wählte jeweils die besser klingenden Fassungen, was bei den frühen Alben wenig überraschend die Mono-Versionen sind. Von „Bluesology“ und „Woody’n You“ wurden jeweils ein Mono- und ein Stereo-Master ausgewählt. Die abweichenden Stereo-Versionen von den ersten drei Sessions („Bluesology“ ist das einzige erhaltene Stück der zweiten, von „Woody’n You“ entstanden ein paar abgelehnte Takes, man blieb bei den beiden von der ersten Session; zur dritten siehe unten) sowie drei abweichende Mono-Takes von späteren Sessions finden sich am Ende der sechsten CD versammelt, die nur eineinhalb LPs enthält und daher Platz bot – die zweite dort gruppierte LP „A Quartet Is a Quartet Is a Quartet“ enthielt neben vier MJQ-Stücken auch – jeweils separate – Einspielungen des (klassischen) Quartetto di Milano und des Hungarian Gypsy Quartet. Klanglich sind die Stereo-Takes von „Bluesology“ und „Woody’n You“ in der Tat grauenvoll, das Klavier spielt durch das geöffnete Fenster des Nebenhauses mit, das Schlagzeug ist dafür etwas lauter, aber die Balance stimmt überhaupt nicht mehr, der Bass ist viel zu leise. Musikalisch gibt es natürlich auch hier nichts zu beanstanden, gerade Lewis‘ Blues-Solo ist schon sehr toll. Im Stereo-Take von „Woody’n You“ ist die Balance etwas weniger missglückt – und die Band einmal mehr bestens aufgelegt. Das ist jedenfalls ein toller Einstieg beim neuen Label.
 
Im Juli trat das MJQ am Newport Jazz Festival auf, wo es von Voice of America mitgeschnitten wurde – auch diese Aufnahme kenne ich leider nicht. Auch die irgendwann 1956 im Birdland mitgeschnittene Boris Rose-LP Ozone 16 ist mir nicht bekannt. Im August gab es die nächsten Atlantic-Sessions, die im Music Inn in Lenox, Massachusetts entstanden. Das Ehepaar Stephanie und Philip Barber schufen dort mit dem Music Inn eine Art Gegenstück zu Tanglewood, dem Sommerheim des Boston Symphony Orchestra. Marshall Stearns, der Direktor des Institute for Jazz Studies wurde darum gebeten, Diskussionsrunden über Jazz und Folk zu veranstalten, das MJQ wurde zur „group in residence im August 1956, eingeladen, um zu proben und in Ruhe neues Material zu erarbeiten, abseits vom Druck, der auf der Gruppe lastete, seitdem sie permanent unterwegs war. Bei den fünf Panelen, die Stearns organisierte, unterhielten sich Musiker über Details, Herausforderungen und Lösungen im Umgang mit Improvisation, Komposition, Harmonie, Rhythmus – unter den Teilnehmern waren so unterschiedliche Musiker wie Dizzy Gillespie, Wilbur de Paris, Pee Wee Russell, John Lewis, Samy Price und Jimmy Giuffre. Dieser hatte Lewis im Vorjahr getroffen und der Pianist bat ihn, ein Stück für das MJQ zu schreiben.
 

1956-08-28 – „Music Inn“, Lenox, MA
Atlantic
MJQ + Jimmy Giuffre (cl)

So war es nichts als logisch, dass Giuffre bei der Session, die das MJQ Ende des Monats im Music Inn abhielt, zur Band stiess.
 
Im September 1956 wirkte Milt Jackson – neben Lucky Thompson, Charles Mingus, Hank Jones und anderen – bei den Aufnahmen zu Quincy Jones‘ Album „This Is How I Feel about Jazz“ mit, es wurde dabei auch Jacksons catchy Souljazz-Nummer „Sermonette“ eingespielt. IM Herbst ging es auch auf Europa-Tournee. Doch los geht es zunächst mit einer tollen Version von „Oh Bess, Oh Where’s My Bess“, in der die Gruppe ihre breite Klangpalette offenbart und souverän durch verschiedene Teile und unterschiedliche Tempi geht, alles in fliessenden Übergängen. Die Show „Porgy & Bess“ war damals, vom gelegentlich gehörten „Summertime“ abgesehen, noch völlig unbekannt – das Album von Miles Davis erschien erst zwei Jahre später. Giuffre stösst für Lewis‘ „A Fugue for Music Inn“ ein erstes Mal dazu – von vier Takten abgesehen ist das Stück vollständig improvisiert, hebt aber nie so wirklich ab. Giuffre beschränkt sich bei seinen drei Auftritten mit dem MQJ ganz auf die Klarinette und klanglich passt sein Ton wunderbar dazu. Sehr toll ist danach eine l-a-n-g-s-a-m-e Version von Lewis‘ „Two Degrees East, Three Degrees West“ (am besten bekannt vom leaderlosen gleichnamigen Pacific Jazz-Album, das Lewis mit Bill Perkins, Jim Hall, Percy Heath und Chico Hamilton einspielte). Nach dem zauberhaften Intro legt Jackson los, tritt mit Lewis in einen Dialog, schliesslich stösst Heath dazu (Kay spielte schon wieder dieses aufdringlich hohe Ding, das hier aber nicht nach Triangel klingt – ein ganz kleines Becken?) und die Gruppe fällt in ein etwas rascheres Tempo. Wie bei Giuffres ruralem Folk-Blues ist auch das hier tief empfundener Country Blues von einer ganz neuen – eigentlich völlig urbanen – Sorte. Wie Lewis dann gegen Ende von Jacksons Solo das Klavier schnarren lässt und Kay in einen fetten Shuffle fällt – grossartig! Und als Lewis übernimmt spielt Heath eine gefühlte Ewigkeit lang denselben Ton, bevor er die aufgebaute Spannung wieder löst, indem er in einen Walking Bass zurückfällt. Auch Lewis – der das Stück ja auch geschrieben hat – spielt hier wieder ein klasse Blues-Solo. Giuffre ist für David Raksins „Serenade“ wieder dabei, spielt wieder vor allem im tiefen Register der Klarinette – das Stück wird einfach einmal durchgespielt, ohne Improvisation.

Es folgt dann „Fun“, das letzte Stück mit Giuffre und jenes, das er in Lewis‘ Auftrag komponiert hat. „Fun“ ist das Gefühl, das Giuffre hatte, als er es schrieb und als er es mit dem Quartett spielte – es ist ein fröhliches Stück in Dur, das aber nicht fröhlich ist und nach Moll klingt. Paradox? Nein, Giuffre. Von den drei Kollaborationen ist es die einzige halbwegs ausgereifte, die aber eher nach einer Art erweiterten Version der Jimmy Giuffre 3 klingt als nach einem echten Arrangement für Giuffre und das MJQ. Lewis lässt sich auf das Spiel ein, Jackson soliert, Kay spielt Schlagzeug wie es andere (Artie Anton vor allem) auf frühen Giuffre-Sessions gemacht haben, Heath hält sich zurück, übernimmt den Part der Erdung, wie es bei Giuffre Ralph Peña tat. Die vier restlichen Stücke sind wieder im Quartett ohne Giuffre entstanden. Lewis‘ „Sun Dance“ ist ziemlich toll, er hatte es im Vorjahr für ein Nonett geschrieben, inspiriert wie er sagte von Hopi-Tänzern aus seiner Heimat New Mexico, ebenso wie von den Watusi-Kriegern im 1950 erschienenen Film „King Solomon’s Mines“ (anscheinend eine Art Indiana Jones-Vorläufer: klick – hoffe, das ist der richtige Film, es scheint da verschiedene zu geben). Von diesem Stück gibt es einmal mehr eine abweichende Stereo-Version, die in der Mosaic-Box auf CD 6 zu finden ist – die Balance scheint hier halbwegs in Ordnung zu sein, auf Kopfhörer hört man Lewis mitsummen und -brummen, aber man hört auch Defizite des Bandes. In Harold Arlens „The Man That Got Away“ treten Lewis und Jackson wieder in einen Dialog, später stösst die Rhythmusgruppe dazu und Lewis spielt über in dem neuen rascheren Tempo ein tolles, rätselhaftes Solo. „A Morning in Paris“ ist ein Blowing-Vehikel über die Changes von Lewis‘ „Afternoon in Paris“, in dem Jackson mal wieder eine recht normale Begleitung kriegt und Heath am Bass die Performance zusammenhält, die zwischen seinem und Lewis‘ Solo quasi anhält. Den Abschluss macht dann Lewis‘ „Variation No. 1 on God Rest Ye Merry Gentlemen“, ein Stück, das Lewis anscheinend zeitlebens gefiel und mit dem er sich immer mal wieder auseinandersetzte. Hier spielt er hinter Jackson wieder kontrapunktische Linien und Motive – doch sollte dieser sich eingeengt fühlen, merkt man es seinem Spiel hier nicht an.

Insgesamt ein ganz gutes Album, vor allem mit dem grossartigen, siebenminütigen „Two Degrees East, Three Degrees West“, dem feinen Gershwin-Cover und den Dialogen zwischen Lewis und Jackson – aber zugleich auch eine vertane Chance, denn Giuffres Klarinette passte wirklich zum MJQ und es ist schade, dass die fünf nicht länger oder tiefschürfender zusammen arbeiten konnten, mochten, und eine echte Kollaboration schafften. Als Album erreicht es aber nicht annähernd die Geschlossenheit der besten MJQ-Veröffentlichungen.
 

1956-10-26 – SDR, Stuttgart

Ende Oktober wurde das MJQ während einer Tour in Europa in Stuttgart im Studio des SDR mitgeschnitten. Fünf Stücke sind auf der obigen, 2013 von Jazzhaus veröffentlichten CD zu hören, auf dem fünften Stück stösst das nicht weiter benannte Helmut Banter Ensemble dazu. Los geht es mit einer tollen Version von „Ralph’s New Blues“, in der Jackson und Lewis mit tollen Blues-Performances glänzen – und die Ingenieure des Radios beweisen, dass sie den so vielschichtigen und dynamischen Sound der Band eher noch besser einfangen konnten als die Leute von Atlantic. Das wird auch im nächsten Stück, „God Rest Ye Merry Gentlemen“ wieder deutlich: so toll klang Percy Heaths Bass bisher wohl noch nie! Und Jackson spielt hier bald wieder so zupackend, dass das harmlose Stücklein darob fast vergessen geht, obwohl Lewis sich alle Mühe gibt, dass gerade das nicht geschieht. Weiter geht es danach mit „Willow Weep for Me“ und „I’ll Remember April“, das erste wie üblich bluesig und voller Soul, mit einem seltsamen Intro von Lewis, das dann bei Jacksons Einstieg mit dem Thema zu Dissonanzen führt, die aber weitergezogen werden und sich erst allmählich auflösen, als Jackson in die Blueskiste greift (in der sie eben einfach dazugehören und darum verpuffen, sodass Lewis anderes zu spielen anfängt – mir macht es nicht nur hier diebische Freude, dem Mann zuzuhören, was er sich einfallen lässt … und wie der die tollsten – in jedem Sinn des Wörtchens – Dinge anstellt und dabei seine Sargträger-Miene im Gesicht behält, um nochmal den seltsamen, letztlich gewiss völlig verfehlten Vergleich Ralph Ellisons zu bemühen). „April“ kommt dann wieder in horrenden Tempo daher. „Midsömmer“ ist dann das Stück mit der unbekannten Combo, die ziemlich klassisch klingt, Flöten, Hörner und weiter Blechbläser, eine Harfe … das Arrangement klingt schwer nach Lewis, mit dem MJQ ist das Stück sonst erst 1958 dokumentiert. Auch eine Aufnahme für RCA mit dem Symphonieorchester von Radio Stuttgart erschien erst 1958 auf dem Album „European Windows“ – kenne ich leider bisher auch nicht. Solistisch ist dann wieder Jackson zu hören, die Stimmung ist eine ganz andere als im Quartett, aber dennoch eine eindeutige John Lewis-Stimmung. Hübsch, aber über acht Minuten doch etwas mäandernd – dann doch lieber nochmal „Ralph’s New Blues“ und „Willow Weep for Me“.
 
1956-11-09 – SWF, Baden-Baden

Die nächsten beiden Stücke der CD entstanden ein paar Tage später in Baden-Baned im Studio des SWF – und es sind zwei der schönsten MJQ-Titel überhaupt, „Bluesology“ und „Django“. Beide wurden allerdings mit dem Edelhagen Orchester eingespielt – wie mir scheint aber klar mit Heath und Kay. Letzterer kickt die grosse Band in „Bluesology“ natürlich mühelos – und mit viel grösserer Eleganz als der Trommler bei der nächsten Session (die ich mir davor schon angehört habe). Jackson spielt das erste Solo, dann folgt ein Intermezzo der Band, das Lewis lanciert – dieser spielt mit einer tollen Sonorität (in Europa hat er wohl schon damals einen Steinway Grand spielen dürfen – das mag auch ein Grund sein, warum diese Radioaufnahmen so gut klingen, Atlantic hatte ja eh nie den tollsten Studio-Sound bei Jazzproduktionen und gerade für eine so schwierig aufzunehmende Gruppe wie das MJQ waren die hauseigenen Studios wohl nicht die beste Wahl – man wünscht sich z.B. eine Aufnahme aus dem Contemporary Studio aus den mittleren/späten Fünfzigern, einfach nur so zum Vergleich). „Django“ ist anfangs kaum zu erkennen, doch nach ein paar Takten schält sich bei der Posaune die Melodie heraus, bevor die Band aussetzt und das Quartett das Stück präsentiert. In der Tat klingen Flügel und Vibraphon hier wieder erstklassig, und man wünscht sich mehr davon – und das gerne ohne die grossen Bands, die doch nur mässig was beizutragen haben. Doch auch das hier ist am Ende ganz hübsch, obwohl das Tempo für meinen Geschmack etwas zu rasch, das Arrangement da und dort etwas zu satt gerät.

Die restlichen sechs Stücke der SWR-CD stammen vom November 1957 bzw. Oktober 1958 und werden später an passender Stelle berücksichtichtigt.
 

1956-11-12 – Stadthalle, Sindelfingen
Miles Davis (t), Lester Young (ts), Milt Jackson (vib), John Lewis (p), Percy Heath (b), Connie Kay (d) + Kurt Edelhagen Big Band

Im Rahmen derselben Europa-Tournee, bei der wohl mal wieder eine dieser typischen Norman Granz-Pakete durch die Provinz und ein paar Hauptstädte zog, kam es in Sindelfingen auch zur Begegnung von Miles Davis, Lester Young und dem MJQ. Faszinierend ist das natürlich vor allem wegen der zwei Bläser, die sich in mancher Hinsicht sehr ähnlich sind (the power of vulnerability). Doch leider ist Lester Young nicht in Laune (oder nicht in der Lage), viel Kohärentes zu spielen, sein Solo in „How High the Moon“ (ab ca. 6:21 im obigen Video) ist fahrig und er scheint immer wieder festzuhängen – da ist nichts vom unendlichen Ideenreichtum seiner besten Jahre übrig. Davis folgt mit einem agilen aber ebenfalls nicht gerade überragenden Solo. Das Photo von Miles & Pres, das da fast die ganze Zeit gezeigt wird, ist aber toll … und auch John Lewis am Klavier, der auf Miles folgt, ist ziemlich super, Kay dreht derweil ziemlich auf und es gibt dann noch ein paar rasche und eher müde Wechsel mit den Bläsern … Jackson fehlt hier leider als Solist. In „Lester Leaps“ in stösst dann noch die Band von Kurt Edelhagen dazu … das ändert auch nichts daran, dass Young nicht so richtig in Fahrt kommen will, obwohl er sich redlich mühe zu geben scheint. Auch Miles ist hier eher besser, ihm folgt diesmal als nächster Solist Jackson, der ein tolles Solo spielt. Ihm folgt einer der Trompeter der Edelhagen-Band (die Section gemäss Losin: Siegfried Ackhammer, Conny Jackel, Klaus Mitschele, Rolfe Schneebiegel, Hanne Wilfert) und danach ein ziemlich gutes Altsax-Solo (Losin listet Helmut Reinhardt und Franz Von Klenck – ich tippe auf ersteren), dann ein paar Takte Helmut Brandt am Barisax … wer der Drummer ist, der hier so richtig zulangt, ist mir nicht klar, ich tippe aber eher nicht auf Kay sondern den regulären Edelhagen-Drummer, der weiss, wie man eine Big Band vor sich her treibt. Young, Davis und Jackson spielen mit ihm dann noch ein paar Runden Fours. Ein Jam, der live gewiss ordentlich abging.
 
So endet das Jahr 1956. Im folgenden Jahr ging Jackson im Januar zweimal als Leader für Atlantic ins Studio, um sein tolles Album „Plenty, Plenty Soul“ aufzunehmen und wenige Tage später entstand für Blue Note „Hank Mobley and His All Stars“, ein Meisterwerk, das von Jacksons Präsenz enorm profitiert, obwohl dieser mit einem grauenvollen Instrument Vorlieb nehmen muss. Erst im April ging das MJQ wieder ins Studio, doch dazu dann im nächsten Post.

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