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1952-1955 – das Modern Jazz Quartet auf Prestige
+ Milt Jackson Quintet
Milt Jackson (vib), John Lewis (p), Percy Heath (b), Kenny Clarke (d)
Schon im Januar 1952 hatte das Quartett, das ja ohne Leader auskommen wollte, sich in Modern Jazz Quartet umbenannt. Die Idee war, dass jedes der vier Mitglieder seine besten Fähigkeiten in die Gruppe einbringen konnte. Jackson blieb der Starsolist, Lewis wirkte als musikalischer Leiter, er verfügte über einen B.A. sowie ein 1953 an der Manhattan School of Music erlangtes Master’s Degree in Musiktheorie. Beim ersten Gig der Gruppe im Club Chantilly im Greenwich Village, so erzählte Heath, der den Gig organisieren konnte, hätten sie ihre Familien mitgebracht und seien so auf zehn Zuhörer gekommen. Im Januar 1954 schrieb Nat Hentoff in Down Beat über die Fähigkeiten von Bob Weinstock als Talentmanager und zitiert diesen dabei wie folgt über Modern Jazz Quartet, das Ende 1952 mit Weinstocks Label Prestige einen Vertrag unterzeichnet hatte: „Take the Modern Jazz Quartet. Milt Jackson has always been my favorite vibes player, and when I heard John Lewis was setting up a serious project to keep the group, I signed them both. Everyone respects John.“ (nach Eugene Holleys Liner Notes in der Fantasy-Box, Bild unten).
1952-12-22 – New York
Prestige
Ein neues Kapitel schlägt es kurz vor Jahresende mit seiner ersten Studio-Session für Bob Weinstocks unabhängiges Label Prestige Records auf. Los geht es mit „All the Things You Are“, einem Standard, den die Bebopper besonders gerne mochten. Percy Heath öffnet mit einem rasenden Bass-Lick, Clarke ergänzt mit leicht mysteriösen Klängen, Jackson setzt mit dem Thema ein … dann wechselt der Beat in einen 4/4 mit Walking-Bass, Clarke spielt den Beat mit den Besen, Jackson präsentiert das Thema, Lewis improvisiert über die Bridge. Es gibt konzise Soli von Jackson, Lewis und Heath, bevor das Stück mit einer arrangierten Passage, die so ähnlich schon zu Beginn erklang, und schliesslich mit dem mysteriösen Intro/Outro schliesst. Gewiss ein Start nach Mass, der damals bestens bekanntes Material mit neuen Ansätzen vereinte. Ähnlich geht es weiter, Lewis‘ „La Ronde“ ist eine überarbeitete Version von „Two Bass Hit“, in dem Kenny Clarke sich für einmal gehen lassen kann. Das Zusammenspiel im Thema ist präzis, das Schlagzeugsolo mit leichten Verschleppungen ziemlich toll, in der Mitte gibt es kurze Statements von Jackson und Lewis, die auf den Punkt kommen, dabei aber keinesfalls das Gefühl missen lassen – das ist gerade bei Lewis eine Qualität, die ich ungemein schätze: oft kann er mit ein paar Tupfern, einem unerwarteten Akkord, die Strenge seines Spiels so aufbrechen, dass sich ganze Welten öffnen.
„Vendome“ ist das nächste Lewis-Original – und schon in der ersten Session der Gruppe die erste Fuge. Das Stück ist zwar in Moll, hat aber eine fröhliche Grundstimmung. Lewis ist hier besonders toll, während Jackson zwar im Zentrum steht, aber seine Beiträge doch eher ornamentalen Charakter haben, was bei der Strenge von Lewis wiederum gut kommt. Das ist dieser Form wohl tatsächlich etwas ziemlich neues im Jazz, auch wenn es den einen oder anderen Vorläufer gab (die Band von John Kirby etwa). Die Session endet dann mit einem ungewöhnlichen Arrangement des alten Gassenhauers „Rose of the Rio Grande“, in dem Lewis und Heath hinter Jackson eine Gegenmelodie spielen. Die Soli von Jackson und Lewis haben viel Drive und werden von Heaths Bass und Clarkes Besen aufs schönste getrieben. Das ist alles sehr gekonnt gemacht und souverän gespielt – und von zurückhaltender Eleganz. Lewis meinte in einem Interview mit dem Magazin Ovation im Jahr 1985, er hätte damals ein Arrangement des Philadelphia Orchestras von Bach Toccata und Fuge d-Moll und Ellingtons Arrangement von „The Sidewalks of New York“ mit seiner Kontrapunktik als Vorlage genommen, aber „I hadn’t solved the problem of creating contrapuntal material that would have the feeling of swing–I had much to learn“ (nach Eugene Holleys Liner Notes im Fantasy-Set).
Oben übrigens das Cover einer Schwedischen Ausgabe der EP, darüber das Cover der späteren 12″-Veröffentlichung in der 7000er-Serie von Prestige – das Cover der LP MJQ vom Modern Jazz Quartet/Milt Jackson Quintet, auf der die Session später landete, findet man unten, 1954-06-18).
1953-02-21 & 1953-02-28 – Birdland, New York
Ben Webster (ts) + MJQ
Aus der Kiste von Boris Rose stammen die nächsten Aufnahmen, die das MJQ als Begleitgruppe eines formidabel aufgelegten Ben Webster präsentieren. Der Klassizismus der Band, Jacksons Stärke im Blues, Lewis‘ Erfahrung mit Lester Young machten aus dem Treffen gewiss für alle Beteiligten eine angenehme Sache. Das Zusammenspiel ist jedenfalls klasse, auch wenn hier die Strenge der MJQ-eigenen Aufnahmen fehlt. Los geht es mit Charlie Parkers „Confirmation“, das Webster sehr entspannt angeht und ein feines Solo bläst, in dem er ein paar seiner typischen Phrasen einbringt. Weiter geht es mit der Ballade „You Are Too Beautiful“ und die Qualität der Aufnahme ist dankenswerterweise gut genug, als dass man den tollen Ton von Webster erahnen kann. So ähnlich geht es weiter: stompend in „Lady Be Good“ (Webster etwas fahrig, aber ein tolles Jackson-Solo), „Poutin'“ (tolles Lewis-Intro, dramatischer Webster) und „Cotton Tail“ (tolles Solo von Lewis, aber überhaupt toll, Websters grosse Parade-Nummer), berückend schön in „The Nearness of You“ (Webster und Jackson in Bestform), platt (wie immer, wenn jemand „Danny Boy“ spielen zu müssen glaubt) … und auch Bebop gibt es mit „Billie’s Bounce“ noch einmal, obwohl es sich dabei im Gegensatz zum anspruchsvollen „Confirmation“ um einen Blues handelt.
Die Musik gab es zuerst wohl auf einer Ozone-LP von Rose, später auch auf CD bei Jazz Anthology und Definitive/Jazz Factory (Cover oben). Eine Musidisc-LP trug übrigens den Titel „Rare Live Performance 1962“ – ein paar Jahre daneben.
1953-06-25 – New York
Prestige
Die vier Stücke von der Session vom 22. Dezember 1952 erschienen im Jahr darauf auf der obigen 10″-LP, die auch die nächste Session vom Juni umfasst. Los geht es mit zwei Stücken aus John Lewis‘ Feder, „The Queen’s Fancy“ und „Delauny’s Dilemma“. Ersteres ist ein Update von „Rouge“, das Lewis für Miles Davis‘ „Birth of the Cool“-Band geschrieben hatte. Es entstand ein paar Jahre vor Duke Ellingtons „The Queen Suite“ (1959) und ist Lewis‘ Hommage an Queen Elizabeth II. Aus dem Anlass hat Lewis anscheinend ein paar Referenzen an die englischen Komponisten Giles Farnaby und Thomas Morley eingestreut. Die Performance ist höchst charmant, bietet zwar nicht die verschachtelte Form von „Vendome“, dafür aber mehr Spontanität und Spiellust. „Delaunay’s Dilemma“ ist natürlich eine Hommage an den französischen Kritiker Charles Delaunay (Sohn des Malerpaares Sonia und Robert Delaunay, Mitgründer des Hot Club de France und der Combo von Django Reinhardt/Stéphane Grappelli, 1937 Gründer von Disques Swing und 1948 von Disques Vogue, dazwischen tätig in der résistance). Hier ist das MJQ „in the pocket“, Heaths Bass gibt den Tarif vor, Jackson ist verspielt, geradezu tänzerisch leicht, Lewis und Clarke halten sich zurück, Lewis spielt aber gegen Ende ein kurzes, ebenso leichtfüssiges Solo. Die zweite Hälfte der Session gehört den Standards „Autumn in New York“ und „But Not for Me“. Ersteres ist ein klassisches Balladen-Feature für Jackson, während Lewis letzteres wieder gehörig umgebaut und seinem eigenen Approach angepasst hat – mit ziemlich überzeugendem Ergebnis. Die Session erschien zunächst wohl auf Singles und auf dieser EP:
https://www.discogs.com/de/Milt-Jackson-And-The-Modern-Jazz-Quartet-Volume-2/release/10265247
1953-10-07 – New York
Prestige
Sonny Rollins (ts) + MJQ
Hie und da spielte das MJQ gerne mit Bläsern zusammen. Im Oktober 1953 traf die Gruppe bei ihrer nächsten Session auf den jungen, ebenfalls bei Prestige unter Vertrag stehenden, unter anderem von Thelonious Monk und Miles Davis geschätzten Tenorsaxophonisten Sonny Rollins. Ich hole mal rüber, was ich vor ein paar Jahren im Rollins-Thread zu dieser Session schrieb:
Die vier Stücke sind kurz, das MJQ klingt wenig nach dem MJQ, wie man es von später kannte, Kenny Clarke spielt viel intensiver, als man sich das sonst vom MJQ gewohnt ist. Rollins Spiel und auch die Begleitung ist von allergrösster Klarheit. Rollins nutzt die kurze Zeit, um auf kleinem Raum schöne Soli zu konstruieren.
„In a Sentimental Mood“ ist eine schöne Balladen-Interpretation, die zeigt, „The Stopper“ ist ein schnelles Stück, das vom Wechsel zwischen einer Art Stoptime und raschem 4/4 lebt. Wunderbar relaxte Soli von Rollins, Jackson und Lewis gibt’s auf „Almost Like Being in Love“ (ein weiterer Standard, der in Sonnys Repertoire Eingang finden sollte) und zum Ende bleibt sogar noch Zeit für eine Runde Fours mit Klook. „No Moe“ ist eine leicht düsteres Thema, das sich mysteriös schlängelt, im Unisono von Rollins und Jackson präsentiert, derweil Heath und Clarke die Begleitung stark rhythmisiert gestalten. Jackson soliert über der Bridge, Rollins bläst das erste und längste Solo, gefolgt von halben Chorussen von Lewis, Jackson und der letzten Bridge von Clarke, bevor am Ende die letzten acht Takte des Themas repetiert werden.
Auch hiervon gab es zunächst wohl Singles und erneut eine EP (ich will das hier nicht zu sehr mit Bildern überladen, aber die Links anzuklicken lohnt):
https://www.discogs.com/de/Sonny-Rollins-With-Modern-Jazz-Quartet-Sonny-Rollins-With-Modern-Jazz-Quartet/release/10282991
1954-06-16 – Hackensack, NJ
Prestige
Milt Jackson Quintet: Henry Boozier (t), Milt Jackson (vib), Horace Silver (p), Percy Heath (b), Kenny Clarke (d)
Im Juni 1954 ging Milt Jackson mit einem Quintett ins Studio: Horace Silver übernahm am Klavier und Henry Boozier stiess an der Trompete dazu. Die vier Stücke der Session landeten später zusammen mit der ersten Prestige-Session vom Dezember 1952 auf dem 12″-Album MJQ vom Modern Jazz Quartet bzw. dem Milt Jackson Quintet. Los geht es mit Silvers „Opus de Funk“ und Clarke schätze es gewiss, wieder einmal etwas mehr zupacken zu können. Silver und Jackson waren in Sachen Blues ähnlich beschlagen, Silvers „comping“ ist auf seine Weise so strukturiert und klar wie jenes von Lewis – aber im Charakter und im Flow doch sehr anders. Auch das Solo Silvers in seinem ersten Original wirkt sehr strukturiert, fügt sich aber bestens an die Beiträge von Jackson und Boozier an. Es folgt die Ballade „I’ve Lost Your Love“, eröffnet von Silver mit einem feinen Intro (auch das eine gemeinsame Stärke von Lewis und Silver – und sie spielten ja übrigens auch beide mit Lester Young). Der Sound, den Jackson hier an seinem Instrument hat, ist unglaublich schön und seine Balladenkünste sind ja in der Tat nicht zu unterschätzen. Es folgt das mittelschnelle Silver-Original „Buhaina“, Art Blakey gewidmet und schliesslich ein langsamer Blues aus Jacksons Feder „Soma“ (mit tollen Soli, versteht sich – auch der sozusagen unbekannte Boozier ist stark). Viel Worte muss man über diese Musik nicht verlieren, sie ist erdig, funky, verführerisch, zupackend und obendrein sehr elegant – genau für diesen Spagat stehen sowohl Silver als auch Jackson ja sowieso.
1954-12-23 – Hackensack, NJ
1954-12-24 – Hackensack, NJ
1955-01-09 – Hackensack, NJ
Prestige
Im Dezember 1954 und Januar 1955 ging das MJQ zum letzten Mal mit Kenny Clarke ins Studio – und bei der ersten Session ist gleich als Opener das unsterbliche „Django“ zu hören, John Lewis‘ Hommage an den 1953 verstorbenen belgischen Gitarristen Django Reinhardt. Der erste Teil mit Pedaltönen vom Bass hat etwas von einem Klagelied, Lewis Klavierspiel erinnert zugleich an das oft melancholische Spiel Reinhardts. Das Stück baut danach grosse Spannung auf mit Lewis‘ comping hinter Jacksons Melodie, gipfelt dann im dritten Teil, in dem Lewis wieder den Lead übernimmt. Auch die Soli werden über die ungewöhnliche Form gespielt, inklusive der Passage, in der Heath am Bass über mehrere Takte auf jeden Schlag denselben Ton repetiert. Die Wirkung ist verblüffend und einzigartig, das Thema wurde neben Jackson eingängigem „Bags‘ Groove“ zur beliebtesten Nummer des MJQ. Die Form kann man wohl als eine Art Pyramide betrachten (später hiess so auch ein MJQ-Album). Lewis‘ Solo ist grossartig, ebensowie das von Jackson davor. Doch es ist Lewis mit seinem unbedingten Formwillen, der hier die meisten Punkte abholt. Egal, wie genau man versucht, das Stück zu beschreiben und zu analysieren: es bleibt mysteriös und packt auch nach Jahren noch mit jedem Hören. Weiter geht es mit dem „One Bass Hit“ (von Dizzy Gillespie, Ray Brown und Walter „Gil“ Fuller), in dem Percy Heath für einmal die Chance kriegt, zu glänzen. Seine Phrasierung ist perfekt, dass er nicht allzu lange davor Probleme mit der Intonation gehabt haben soll, ist kaum zu glauben. Er streut auch noch ein paar Zitate ein (u.a. „Surrey with a Fringe on Top“ und „Let’s Fall in Love“). Weiter geht es danach mit „Milano“, einer Ballade, in der Lewis seine Erinnerung an die Stadt in der Lombardei verarbeitet hat – das hat durchaus etwas von einem Ton-Poem, aber die Linie selbst, vorgestellt von Jackson am Vibraphon, ist auch hier wieder von bezwingender Schönheit. Wie Lewis und Heath um Jackson herumtänzeln ist einmal mehr sehr schön arrangiert. Jackson gelingt danach auch ein ordentlich virtuoses Solo, das nie die getragene Stimmung durchbricht.
Die pièce de résistance ist dann aber die „La Ronde Suite“ mit über neun Minuten Dauer und in vier Teilen, bei der Session im Januar eingespielt. Los geht es mit einer Variante des Themas („Two Bass Hit“), in dem Lewis eine irre Begleitung hinlegt, die quasi zur Hauptattraktion wird – das ist schon irre, wie still und leise hier enorme Spannung aufgebaut wird, die sich dann in rasenden Läufen auflöst, in denen Heath und Clarke in einen swingenden 4/4 fallen. Kurze Zäsur und dasselbe wieder von vorne, aber im entspannten Tempo und als Bass-Feature. Im dritten Teil ist das Tempo wieder hoch und diesmal ist Jackson an der Reihe, der aus der Stoptime-Form das Maximum herausholt. Der abschliessende Teil gehört dann Kenny Clarke,
Neben der ganz oben abgebildeten EP mit „Django“ und „Milano“ erschien auch die Ronde-Suite in dem Format:
https://www.discogs.com/de/The-Modern-Jazz-Quartet-In-The-La-Ronde-Suite/release/9630391
Diese Session und jene vom 25. Juni erschienen dann auch zusammen auf der 12″-LP „Django“ in der 7000er-Serie von Prestige.
Im August 1954 trat das MJQ erfolgreich als Headliner im Village Vanguard auf und spielte auch im Birdland, das Monte Kay damals leitete. Er wurde zum Manager der Gruppe und zu ihrem inofiziellen fünften Mitglied. Connie Kaye war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, als er mit Kaye über einen bald beginnenden Gig im Birdland mit Sonny Stitt sprach. Am nächsten Tag klingelte sein Telephon, ob er einen Gig in Washington machen wolle, wo das MJQ mit Dave Brubeck und Carmen McRae gebucht war. Doch dazu mehr im nächsten Post …
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PS: am 24. Dezember 1954 standen Heath und Clarke mit Miles Davis, Milt Jackson und mit Thelonious Monk erneut im Studio – die legendäre Heilig-Abend-Session … die beiden grössten Highlights der Session habe ich einst für eine StoneFM-Sendung über Monk ausgiebig kommentiert (bzw. ausgiebig Analysen abgeschrieben und zu verstehen gesucht) – ich hole das mal hier rüber:
Miles Davis (t), Milt Jackson (vib), Thelonious Monk (p), Percy Heath (b), Kenny Clarke (d)
Van Gelder Studio, Hackensack, NJ, 24. Dezember 1954
von: Bags’ Groove (Prestige; CD: Thelonious Monk – The Complete Prestige Recordings; Fantasy, 3 CD, 2000)
Bags’ Groove (Take 1) (Milt Jackson)
Den Höhepunkt der Prestige-Phase bildet zweifellos die am Heiligabend 1954 eingespielte All-Star-Session mit Miles Davis und Milt Jackson. Begleitet werden die drei Ms von Percy Heath und Kenny Clarke, die mit Miles Davis (und Horace Silver am Klavier) damals zu einer fabelhaften Rhythmusgruppe zusammenwuchsen. Gemäss Produzent Bob Weinstock kam es aus ganz und gar profanen Gründen zu dieser überragenden Session, nämlich weil – Weihnachten stand ja vor der Tür – die Musiker mehr denn sonst Geld benötigten. Es ranken sich Gerüchte um die Session, die wohl überzogen sind (Monk: „Miles’d got killed if he hit me.“). Es gab allerdings Spannungen, weil Miles mit Monks Begleitungen nicht klarkommen wollte oder weil Monk Miles’ Wunsch nach einem Chorus ohne Piano als beleidigend empfand, wie Percy Heath berichtete. So setzt Monk hinter den Trompetensoli meist aus, was zu einem noch klareren Klangbild führt. Miles sagte später allerdings auch: „I love the way Monk plays and writes, but I can’t stand him behind me. He doesn’t give you any support.“
Doch zur Musik, denn die hat es in sich! Monks Solo in diesem ersten Take von „Bags’ Groove“ gilt als „Moment reinster Schönheit“, wie André Hodeir es formuliert hat, das Stück gilt überhaupt als eine der vollkommensten Jazzeinspielungen. Miles und Jackson gehörten in ihren Anfängen beide zum Kreis, der sich regelmässig bei Monk einfand, um vom Meister zu lernen (Henri Renaud berichtete einst, dass er sich am Klavier abmühte, schwierige Passagen aus Monks Prestige-Aufnahmen zu spielen – Monk sass dabei auf dem Sofa und habe ihm Note für Note diktiert, ohne einen einzigen Fehler). Kenny Clarke schliesslich war der Schlagzeuger, der einst neben Monk den Grundstock des rhythmischen Vokabulars des modernen Jazz gelegt hatte.
Milt Jacksons eingängiges Blues-Thema ist ein wiederholtes, viertaktiges Riff. Es klingt zugleich erdig und bluesig aber auch ganz modern und offen. Miles Davis betont in einem seinem Solo den Aspekt des Offenen. Er bläst ein schnörkelloses Solo von abstrakter Schönheit, in dem auf logische Weise aus einer Phrase die nächste wächst. Milt Jackson bringt danach den Blues-Aspekt an die Oberfläche, doch durch den Klang seines Instruments knüpft er zugleich direkt an die kühle Eleganz von Miles’ Trompete an. Monk folgt mit einem grandiosen Solo, in dem er die Akkorde von Jacksons Stück zu zerschiessen droht, es scheint, als wolle er die Tonalitätsgrenzen übertreten. Über den flexiblen Beat von Heath/Clarke spielt er ein Motiv aus zwei Tönen (C und F – ein Kritiker fragte damals, ob es sich um einen Witz handeln solle) und entwickelt es über zwei Chorusse. Dann erweitert er im dritten Chorus diese Entwicklung (aus dem C-F-Motiv bricht er mit einem Fis aus, klar) in rhythmischer wie melodischer Hinsicht, fügt im vierten eine Reihe rhythmisch kapriziöser Block-Akkorde hinzu und bohrt weiter bis an den Rand der Tonalität. Einmal mehr gibt es einen suggerierten Dreier über dem walkenden Vierer des Basses. Clarke entgeht anders als Blakey der Versuchung, auf die Klavierakzente stets zu reagieren, setzt sparsam eigene Akzente und kommentiert die Schnittpunkte zwischen dem Klavier und dem Bass, dessen four-to-the-bar quasi zum Kontrapunkt von Monks Solo werden. Dann setzt Monk einen Kontrast, lässt die linke Hand fast ganz weg und setzt weitere Akzente durch Triolen, die teils nur angedeutet werden aber klar zu fühlen sind – die Perfektion der Reduktion. Miles Davis spielt dann drei weitere Chorusse vor der Reprise, wieder ohne Piano. Sie fangen gewissermassen den Kontrast zwischen dem bluesig-sprudelnden Vibraphon und dem spröden, sperrigen Klavier wieder auf und leiten konsequent zum Abschluss über.
The Man I Love (Take 2) (George & Ira Gershwin)
Die andere Grosstat der Session – wie „Bags’ Groove“ auch in zwei Takes überliefert – ist die Einspielung des Gershwin-Klassikers „The Man I Love“. Wenn diese Session heute übermässigen Platz zu bekommen scheint, während anderes fehlt, so möge auch hier die Schilderung von Monks Spiel erklären, weshalb dem so sein muss. Doch von vorne. Nach einem missglückten ersten Start des ersten Takes wird klar, dass es bei der Session, wenigstens bei diesem letzten Stück, im Studio einige Spannungen gab: Monk weiss nicht, wann er einsteigen soll, Miles fährt ihn an und sagt: „Rudy, put this on the record, all of it!“ – was wenigstens auf den mir vorliegenden Ausgaben auch der Fall ist. Doch wir hören hier den zweiten Take, in dem es eine musikalische Zurechtweisung absetzt. Miles präsentiert nach einem feinen Vibraphon-Intro das Thema im langsamen Balladentempo, von Jackson und Monk eingebettet. Dann spielt er zwei Solo-Chorusse, in denen Monk zurückhaltend begleitet, eng am Thema verharrend, dieses als eine Art Cantus Firmus unter das Solo legend – eine Praxis, die so ähnlich aber nicht derart ausgeprägt schon zu Blue Note-Zeiten zu hören ist. Für Jacksons Solo wird dann das Tempo verdoppelt, dieser spielt ein weiteres tolles Solo, sprudelnd vor Einfällen, aber doch mit einer eleganten Ökonomie. Monk halbiert dann das Tempo in seinem Solo, während die Rhythmusgruppe im doppelten Tempo weiterspielt. Er spielt in seinem Klaviersolo in den A-Teilen das Thema – über doppelt so viele Takte, wie es an sich gespielt werden sollte, was zu Reibungen führt, die Heath/Clarke geschickt aufgreifen und auffangen – nur in der Bridge soliert Monk eigentlich, aus dem Rest wird quasi ein impliziertes, ein stummes Solo. Doch er fällt raus, pausiert mehrere Takte lang ganz, worauf Miles an der Trompete eine Art spöttischen „wake up call“ bläst (ein Motiv aus „Four“, dem Stück von Eddie Vinson, das Miles sich unter den Nagel riss). Monk spielt dann thematisches Material im schnellen Tempo, schliesslich folgt, wie schon im ersten Take, noch ein Chorus von Miles (in der Mitte setzt er in diesem zweiten Take den Dämpfer ein), worauf das Stück mit einer längeren Coda ausklingt.
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 - 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba