Antwort auf: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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Ich Seh Ich Seh
(Regie: Veronika Franz/Severin Fiala – Österreich, 2014)

Für die Zwillingsbrüder Lukas und Elias (Lukas und Elias Schwarz) ist es eine tolle Ferienzeit: Sie spielen in Feldern Fangen, erkunden die Umgebung des Hauses, welches außerhalb eines Dörfchens liegt, entdecken einen Friedhof, entspannen auf der Luftmatratze auf dem See – was Jungs eben so machen.
Dann jedoch kommt die Mutter (Susanne Wuest) nach Hause. Ihr Gesicht ist unter einem Verband kaum zu erkennen, die Schmerzen in Folge der Operation machen ihr zu schaffen, weswegen sie neue Regeln im Haus einführt. Dabei ist sie gar nicht mehr so liebevoll zu ihren beiden Kindern, sondern wird ausfallend und verhält sich teils aufbrausend. Für Lukas und Elias ist schnell klar: Das ist nicht ihre Mutter! Die beiden Brüder suchen Mittel und Wege, um aus der Frau herauszubekommen, wo ihre echte Mama ist…

Der familiäre Bezugsrahmen von „Ich Seh Ich Seh“ bleibt auch außerhalb der verstörenden Geschichte gewahrt, produziert Ulrich Seidl hier doch das Spielfilmdebüt seiner Ehefrau Veronika Franz, die Regie und Drehbuch zusammen mit dem ehemaligen Babysitter des Paares Severin Fiala erarbeitete.
Wie viele andere Größen des Regiefachs (etwa Michelangelo Antonioni oder Dario Argento) schrieb Franz zuerst Filmkritiken, bevor sie Seidl kennenlernte und seit Mitte der 90er Jahre an den Drehbüchern seiner Produktionen mitwirkte. In einem kleinen Land wie Österreich kann es schon mal vorkommen, dass man im Zuge der Finanzierung seiner Filmidee auf Menschen trifft, deren Werke man weniger günstig rezensierte. In den Gremien scheint es jedoch „zivilisierter“ als in den Filmen Seidls zuzugehen, man legte Franz keine Steine in den Weg und unterstützte das gemeinsame Vorhaben mit Fiala.
Im Verlauf des Drehbuchschreibens zeichnete sich ab, dass die Hauptrolle wie für Susanne Wuest erdacht schien und auch im Zwillingscasting fand man in Lukas und Elias Schwarz schnell passende Darsteller. Sie erhielten die Rollen unter anderem deshalb, weil sie weniger Hemmungen zeigten, die Mutterfigur physisch zu traktieren. Wo andere Kinder ihre Grenze in wütendem Schreien fanden, versuchten sie, die „Wahrheit“ mit dem Pieksen eines Bleistifts herauszukitzeln. (Eigentlich ein typischer Moment im Kino Ulrich Seidls, der eine diebische Freude an den Tag legen kann, wenn es um sadistische Konstellationen geht, noch dazu, wenn sie in der spielerischen Pseudorealität eines Castings auftreten.)
Auch auf der gestalterischen Ebene kann man Einflüsse des filmischen Stils von Seidl finden: Franz und Fiala arbeiten mit kalten, distanzierten Einstellungen und harten Schnitten, die geometrisch genau austariert sind, allerdings auch durch kräftige Farben akzentuiert und vitalisiert werden. Die Lebensräume der Familie sind sehr aufgeräumt und durchgestaltet, die hohe Künstlichkeit kollidiert im Laufe des Geschehens mit den aufwühlenden Gefühlsausbrüchen und schafft so einen der Reize von „Ich Seh Ich Seh“.
Die Körperlichkeiten des Genrekinos führt man in einem Versuchsaufbau mit der strengen Optik und dem beunruhigenden Gedankenspiel der Rebellion der Kinder zusammen. Kein Wunder, dass Franz, nach Vorbildern befragt, sowohl Stanley Kubrick („2001“, „A Clockwork Orange“) und Nicolas Roeg („Performance“ „Don’t Look Now“) als auch Brian Yuzna („Society“, „Re-Animator“) und Dario Argento („The Bird with the Crystal Plumage“, „Tenebre“) nennt. Formale Schärfe und visuelle Disziplin (manchmal bis zur Symmetrie) treffen in Kameramann Martin Gschlachts Feinjustierungen auf Blut, Chaos und Tod. Die Leinwand fällt ins Bodenlose, färbt sich pechschwarz, wenn Gefühle artikuliert werden.
Die letztendliche Erklärung für das Verhalten der Kinder ist irrelevant, versucht aber einen rationalen Schluss zu etablieren, der auf einem Trauma fußt, das im Thriller schon ausgereizt wurde. Manche Zuschauer wollen sogar eine Verbindung zum Capgras-Syndrom (Erkrankte glauben, ihnen nahestehende Personen wurden durch einen Doppelgänger ersetzt) ausgemacht haben. Zugegeben: Die Anzeichen sind vorhanden, ich lasse mich aber lieber von den Bildern des Maisfelds und den heidnisch wirkenden Masken der Zwillinge betören, die unterbewußt Stephen Kings „Children of the Corn“ evozieren. Er, der hinter den Reihen geht, statt der klinischen Lösung. Dies ist vielleicht sogar im Sinne von Fiala und Franz, die nicht nur eine Vorliebe für das Horrorgenre bestätigen, sondern auch einer Stephen-King-Verfilmung wie „Pet Sematary“ ob ihres emotionalen Gehaltes positive Seiten abgewinnen können, ungeachtet der sonstigen filmischen und künstlerischen Qualität.
„Ich Seh Ich Seh“ stellt Abhängigkeits- und Machtverhältnisse auf den Kopf, zeigt im Grunde also eine Revolution, die ihren Schrecken durch Methoden der Gewaltanwendung gewinnt, die als völlig legitime Mittel im Zusammenleben erschienen, bis sie von den Schwächeren gegen die Stärkeren angewandt werden. Bezeichnenderweise versuchen die Zwillinge das Geständnis der Mutter mit den Mitteln zu erzwingen, die bisher zur ihrer Erziehung bzw. Disziplinierung genutzt wurden.
Alle Figuren sind ambivalent und handeln ihrem Antrieb entsprechend rücksichtslos, die Umkehrung des Eltern-Kind-Verhältnisses entpuppt sich aber als stärkstes Motiv des Films, wenn auch die Hilflosigkeit der Eltern gegenüber ihren Kindern im makaberen Ende der Haustiere einen flammenden Ausdruck findet. (Ein weiteres, recht simples Bild der Beziehung zwischen Mutter und Kind entsteht durch die Küchenschaben, welche unter den freundlichen Oberflächen des blitzsauberen Häuschens im Grünen hervorkriechen. Sie weisen schon früh auf das Finale hin, auf das die verfahrene Situation konstituierende Trauma.)
Mit „Ich Seh Ich Seh“ erschüttern Veronika Franz und Severin Fiala das Ur-Vertrauen zwischen Mutter und Kind; ihr heißkaltes Horrordrama fixiert den tiefen Graben zwischen dem Kosmos der Kinder und dem Universum der Erwachsenen. Es gibt keine verbindenden Brücken, nur Schluchten und Finsternis. Das Wiegenlied aus der heilen Welt von vorgestern, durch endlose Wiederholung als Lippenbekenntnis erkannt und exorziert, spendet keinen Trost mehr: „Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.“ Und wenn er nicht will, Mama?

Trailer

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