Re: Wiederhören im Forum…

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friedrich

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Ich wollte noch was zum historischen Genre Synthie Pop beitragen.

Pet Shop Boys – INTROSPECTIVE (1988)

Pet Shop Boys – BEHAVIOUR (1990)

Schon wieder zwei Alben? Ja, schon wieder!

Jahreswechsel 90/91: Auf einer etwas lahmen Sylvesterparty durchwühle ich die Plattensammlung des Gastgebers nach Tanzbarem. Dabei stoße ich auf das Ende 1990 erschienene BEHAVIOUR von den Pet Shop Boys. Tolle Sache, denke ich. Ich kannte BEHAVIOUR zwar noch nicht, aber das vorhergehende Album INTROSPECTIVE von 1988 war ein party animal gewesen. Die House Welle überrollte zu dieser Zeit gerade Europa und die PSB sprangen schamlos auf diesen Zug auf. Das war ihnen nicht vorzuwerfen, denn eine ausgesprochene Affinität zu elektronischer Tanzmusik hatten sie schon immer und mit DISCO hatten sie 1986 ein ganzes Album mit Extended Dance Remixes älterer Stücke veröffentlicht. Also konnte ich mit BEHAVIOUR eigentlich nichts falsch machen, oder?

Auf INTROSPECTIVE wird das Prinzip des Remix-Albums umgekehrt: Hier werden zuerst die Remixe als Album herausgebracht, abgespeckte Versionen der Songs werden dann als Singles veröffentlicht. Nur 6 Tracks, keiner unter 6 Minuten, zwei überspringen sogar die 9 Minutenmarke. Produktionstechnisch wird alles aufgeboten, was man für Geld kaufen kann, darunter Trevor Horn als einer von fünf Produzenten, der das Stück LEFT TO MY OWN DEVICES nicht nur mit einem treibenden Beat sondern auch einem Orchester und einer Opernsängerin aufbläst. Der Grundsatz scheint ganz einfach zu sein: Von allem das Meiste! Die anderen Stücke ziehen da mit: das monoton tuckernde I WANT A DOG, in dem sich ein einsamer Single einen Chihuahua als Gesellschaft wünscht, das latin-gefärbte DOMINO DANCING, das in die Länge gezogene Elvis-Cover ALWAYS ON MY MIND und abschließend das Sterling Void-Cover IT’S ALRIGHT, das mit house-typischen Piano-Akkorden direkt auf den Dancefloor zielt. Einzig bei I’M NOT SCARED kommen die Beine mal etwas zur Ruhe. Eine Partyplatte, deren Texte aber teilweise in eigenartigem Widerspruch zur extrovertierten Musik stehen, daher der Titel INTROSPECTIVE. Die Zeilen „I was faced with a choice at a difficult age / Would I write a book? Or should I take to the stage / but in the back of my head I heard distant feet / Che Guevara and Debussy to a disco beat“ von LEFT TO … werden ewig als Aphorismus eines rebellischen und romantischen Hedonismus‘ gültig bleiben.

Nun aber BEHAVIOUR: Ich lege also diese Platte auf einer Sylvesterparty auf. Was geschieht? Nichts! Den Titel des ersten Stückes BEING BORING meine ich zwar ironisch verstehen zu müssen, aber die erste Minute davon geht im Partylärm unter und erst langsam schält sich überhaupt ein Rhythmus heraus. Um dazu zu tanzen muss man aber schon sehr viel Willen aufbringen. Die Platte übersteht nur das erste Stück auf dem Plattenteller, dann bemächtigt sich jemand anderes der Stereoanlage. Aus der weiteren musikalischen Gestaltung des Abends halte ich mich von da an lieber raus.

Einige Zeit später höre ich SO HARD, die erste Single von BEHAVIOUR, im Radio. Ein uptempo Popsong mit eigenartig quäkenden Synthesizer-Sounds, irgendwie billig klingend, irgendwie retro und um die Ecke gedacht. Das amüsiert mich und als ich BEHAVIOUR wenig später billig im 2nd-Shop finde, kann ich nicht widerstehen.

Auf dem heimischen Sofa funktioniert BEHAVIOUR dann viel besser als auf dem dancefloor. BEING BORING ist ein sich langsam und raffiniert aufbauendes Stück. Anfangs hört man nicht nur ein eigenartiges Heulen oder Pfeifen, das mit einem Plastikschlauch erzeugt wurde, sondern auch – absolutes Novum bei den PSB – eine E-Gitarre mit Wah-Wah. Erst nach und nach setzt der drum computer ein und Neil Tennant sinniert beinahe flüsternd über verflossene Jugendtage als noch alles neu und aufregend war: „’Cause we were never being boring / We had too much time to find for ourselves / And we were never being boring / We dressed up and fought, then thought: „Make amends“ / And we were never holding back or worried that / Time would come to an end“. Das Video zu BEING BORING ist dann auch eine wunderschön romantisch idealisierende Ode an das Jungsein. Neil Tennants Kindheit in einer katholischen Schule, auf die er in THIS MUST BE THE PLACE I WAITED YEARS TO LEAVE zurückblickt, dürfte hingegen weniger lustig gewesen sein. Erst das vierte Stück, HOW CAN YOU EXPECT TO BE TAKEN SERIOUSLY? ist dann ein schneller Song, der über das eitle Gutmenschentum mancher Popstars spottet. Auf BEHAVIOUR geht es um Erinnerungen, geplatzte Hoffnungen, Eifersucht, Misstrauen und Untreue, und auch wenn hier und da der Humor der PSB aufblitzt, scheint die Party vorbei zu sein. Eine nachdenkliche Platte, die manchmal fast verträumt und still wirkt: „It’s only the wind blowing cans along the street / Someone’s dustbin lid playing havoc with the peace / There’s nobody hiding behind a locked door / And no one’s been lying, ‚cause we don’t lie any more“ (IT’S ONLY THE WIND)

Für den manchmal demonstrativ synthetischen Sound von BEHAVIOUR mit blubbernden analogen Synthies und Hi Hat-Achteln wie aus einer billigen rhythm box ist der Münchener Produzent Harold Faltermeyer verantwortlich, ein früherer Mitarbeiter Giorgio Moroders, der in den 70ern und 80ern mit Euro Disco erfolgreich war. Dennoch klingt BEHAVIOUR keineswegs aufdringlich sondern mit seinem breit gefächerten Klangspektrum und leisen Tönen sogar außergewöhnlich raffiniert. Außer der bei den PSB programmatischen Elektronik gibt es hier auch eine Gitarre (gespielt vom Ex-Smith Johnny Marr) und auf drei Stücken sogar Streicher zu hören.

BEHAVIOUR klingt wie ein Gegenentwurf zu INTROSPECTIVE, ja, eigentlich würde der Titel INTROSPECTIVE hier sogar besser passen. Aber die PSB wären nicht die PSB, wenn sie nicht irritierend ironische Titel wählen würden. Vielleicht war es ein absichtlicher Schachzug, mit BEHAVIOUR etwas ganz anderes zu machen als mit INTROSPECTIVE und damit die Erwartungshaltung des Publikums zu unterlaufen um sich nicht festlegen zu lassen. Gleichzeitig ist BEHAVIOUR auch ein großer Schritt für das Genre Synthpop, das damals noch manchmal als etwas leichtgewichtig belächelt wurde. Vielleicht wurde Synthie Pop mit BEHAVIOUR sogar ein Stück weit erwachsen.

Auf BEHAVIOUR folgte dann VERY mit dem Mitgröhl-Hit GO WEST. Aber das ist eine andere Geschichte.

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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)