Antwort auf: Wiederhören im Forum…

#1024147  | PERMALINK

daniel_belsazar

Registriert seit: 19.04.2006

Beiträge: 1,253

WIPERS – IS THIS REAL? (1980)

Die westliche Welt um die Jahrzehntwende 1979/80. Von der US-Westcoast drangen neue Punk-Klänge auch an kontinentaleuropäische Ohren. Das war kein New Yorker Meta-Konzept Pop’n‘roll oder der oft ettikettenschwindelnde Pop, Rock, Prog oder was auch immer im Zuge der US-New Wave als Punk tituliert wurde. Nein, das war kurzer, trocken gespielter Rock’n’Roll, oft aus den zwielichtigen Dekadenz-Zonen rund um den Sunset Strip stammend, mit den geballten Gewalt- und Migrationshintergründen der Megacities Kaliforniens, allen voran natürlich dem Babylon LA. Und mittendrin in diesem wilden Wirbel tauchte ein Monolith von einem Debutalbum auf, eine neue eigene, bis dahin ungehörte absolut eigenständige Stimme und Gitarre – die von Greg Sage und seiner Band Wipers aus Portland im nördlich an Kalifornien angrenzenden US-Staat Oregon (bis heute übrigens eine Hochburg des alternativen Lebens in den USA). In klassischer Gitarren-Triobesetzung eingespielt, bietet „Is this real?“ elf Rock’n’Roll-Stücke, die von Verlorenheit und Entfremdung künden. Allein schon Titel wie „Tragedy“, „Potential Suicide“, „Don’t know what I am“ oder „Window shop for love“ sprechen Bände in einer Zeit des Yuppieaufbruchs in den USA, des „Enrichez vous!“ der beginnenden Reagan-Ära.

Die Platte beginnt mit einem wütenden Drei-Akkord-Powerchord-Drive auf der leicht deprimiert gestimmten Gitarre, den nach zweimaligen Lauf straighte Drumbeats und ein einfacher Autodidakt-Bass vorantreiben. Hausgemachter Punk. Sages Stimme setzt ein, mit dem Programm der folgenden 30 Minuten: “Well you better watch out, well you better beware, cause their comin‘ from all sizes of the country, now you better beware – return of the rat“. Sage sieht die Rückkehr der Ratten an die Macht, in seiner Seele und rund um ihn herum herrscht ein apokalyptisches Brausen und Wogen. Alles so weit so gut, und sicher thematisch durchaus schon mal gehört – im Punk wimmelt es ja geradezu von Abflüssen, Gossen und Ratten. Dann aber setzt bei 1:13 ein kleines Solo auf der Gitarre ein, das den zugrundeliegenden, treibenden Punk eigentlich konterkariert – überraschend mit Feedback arbeitend und fest im psychedelischen Tonraum verwurzelt, zu verorten vielleicht noch bei den Stooges, aber mehr noch bei Hendrix (ohne dessen manchmal überbordende Virtuosität freilich). Und damit ist auch schon die musikalische Thematik und Einzigartigkeit der Wipers benannt, der Grund wohl für ihre wirklich stilprägende Kraft, die ein gutes Jahrzehnt eine nächste Generation von Bands im Grunge stark beeinflusst: Die Wipers stehen für die Versöhnung von Punk und Psychedelic. Weit mehr als nur eine Koexistenz, es ist vielmehr eine wahre Verschmelzung zweier zu der damaligen Zeit als sehr antagonistisch empfundenen Stile, die beide jeweils einer Ära ihren Stempel aufprägten.

Dabei bleibt „Is this real“ klar von der Punk- und Rock’n’Roll-Kultur kurzer Stücke geprägt. Dem Ratten-Opener folgt mit „Mystery“ ein balladenartiges Stück mit schönen Refrain („you don’t care about it, but can’t you see it’s a mystery“). „Up front“ („Geradeaus“) ist dagegen ein kleiner Wut-Punkknaller, jedoch wieder mit erstaunlich psychedelischen Gitarrentönen in der Mitte. „Let’s go away“ ist ein klassischer Rock’n’Roll basierter Popsong – mit Blueslyrik allerdings: “Gotta find a new world before I start going insane, there’s gotta be a better place So lets get on the move, Lets go lets go lets go lets go away …”. Das Titelstück “Is this real?” ist eine Ballade über Liebeswirrungen und Entfremdung (“sometimes I wish that you could break down to me – is this real?”). Selbstzweifel, Verletzung und wieder Entfremdung sind die Themen des trotzigen „Tragedy“ (but don’t ever let go).

Die zweite Seite beginnt schleichend bedrohlich mit „D-7“ (Dimension 7) – towards antisocial … langsam kriecht das Stück am Boden entlang, … gonna leave this region they‘re taking me with them …. nach 1:35 wechselt das Stück in den wütenden, aufgedrehten Punkdrive … past astral borders … they’re taking me with them … und wieder folgt die Psyche-Gitarre – straight as an arrow .. defect defect. Danach wird es hart … getting so depressed… „Potential Suicide“ ist die klare Depressionsansage – such a long way down. Es bleibt im Schleichmodus. Auch der folgende Titel „Don’t know what I am“ spricht für sich – ausgestoßen, zurückgestoßen, verlacht, mit dem Rücken zur Wand. Keine Frage, das macht wütend. Was zu hören ist. Das Album steuert auf den Höhepunkt zu: „Window shop for love“ beginnt mit einem hin und her taumelnden Gitarrenriff, das von einem treibenden Hendrix-off beat-Rock’n’Roll-Thema abgelöst wird. Es geht um die Liebe, die als Faszination anzieht, von der man aber zugleich ausgeschlossen bleibt. I can’t believe my eyes, can‘t so clearly, a thick dark cloud is hanging all above me … du siehst es schemenhaft, du spürst es, aber du kannst es nicht berühren, die Erfüllung bleibt dir verwehrt. Stattdessen stehst du vor dem Schaufenster und drückst dir die Nase platt: Window shop for love, want it so much, look but don’t touch …. eins meiner Lieblingstücke über alle Zeiten hinweg. Den Ausklang bildet die Americana-Ballade „Wait a minute“. Deprimiert, aber letztlich mit genug Hoffnung zum Überleben:

Thought you said I would never get hurt
Then what am I doing crawling in the dirt
Wait a minute wait a minute wait a minute
So just give me a little smile
Nothing’s ever gonna change our style

Für mich eines der besten Debutalbum in der Geschichte des Rock’n’Roll. Und der Nachfolger ist ebenso gut, nur anders – mit ellenlangen, ausufernden Gitarrenorgien in einem Genre, das zu der Zeit aber derartig von kurzen Stücken definiert wurde, dass es eine Pracht ist. Völlig außerhalb des Zeitgeistes, aber gerade deshalb komplett im Innern des Geschehens: „Youth of America“ – ein anderes Kracherkapitel vor dem nächsten großen Album „Over the Edge“: Drei Scheiben für länger. Große Band, großer Künstler Greg Sage.

Tracklist:

RETURN OF THE RAT 2:38
MYSTERY 1:47
UP RONT 3:05
LET’S GO AWAY 1:49
IS THIS REAL? 2:39
TRAGEDY 2:01

D-7 4:05
POTENTIAL SUICIDE 3:35
DON’T KNOW WHAT I AM 2:57
WINDOW SHOP FOR LOVE 3:00
WAIT A MINUTE 3:05

zuletzt geändert von daniel_belsazar

--

The only truth is music.