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Tocotronic – Es ist egal, aber
LADO 1997
Als Tocotronic 1997 dieses Album veröffentlichen, weiß der Hörer schon vorher, dass es anders klingen soll. Die alten Maschen ziehen nicht mehr und die Band möchte zu neuen Ufern aufbrechen. Dazu werden bei den Songs zum ersten Mal auch Streichinstrumente zu hören sein. Die Erwartungen werden nicht enttäuscht. Als letztes bestes Album aus der Anfangszeit schließt es selbige mit einem Paukenschlag ab.
Gehen die Leute auf der Straße eigentlich absichtlich so langsam? Diese erste Frage klingt bereits wie eine Anklage, alles was gut war einfach weiter zu machen. Ohne Entwicklung, ohne Fortschritt. Fast entschuldigend singt Dirk von Lotzow vom Verdacht, das blöde Schlendern wäre Absicht. Diese Diktion wird beibehalten und ist die Schnur, an der sich die Songs wie Perlen aufreihen. Von Lotzow reflektiert die einprasselnden Eindrücke und klagt immer wieder an und ohne dass er es laut sagt, soll Schluss sein mit dem Gerede und der Besserwisserei von außen. Das Album beginnt furios, aber nach einem Drittel der Songs (bis dahin ist der erste und einzige Ich-bezogene Song „Ich bin viel zu lange mit Euch mitgegangen“ schon vorbei) wird es ruhig und nachdenklich, unterbrochen von zwei Reminiszenzen („Du und Deine Welt“, „Mein neues Hobby“) an verlorene Zeiten. Der Titelsong läutet dann die personenbezogenen Songs ein. Auch das ist anders. Durch den geänderten Blickwinkel der Texte wirkt das Album nicht so zerstörerisch, klingt aber distanzierter, denn freundliche Worte findet von Lotzow selten. Doch wie immer können die Songs mühelos am Lagerfeuer oder noch besser, allein, im Zimmer des Selbstmitleids auf der Gitarre sofort mitgespielt werden. Am Ende muss man aber feststellen, das von Lotzow nie so larmoyant klingt, wie die Musik und die Texte vermitteln wollen. Dieser Hoffnungsschimmer lässt einen weiter hören. Im letzten Drittel beziehen Tocotronic dann Stellung. Arne Zank singt: „So schnell wirst Du mich nicht mehr los“, in „Dieses Jahr“ werden vier berühmte Worte eines noch berühmteren Neil Young Songs zitiert. Ich wünschte, dieser Quatsch wär längst vorbei. Dieser Song nimmt dann eine überraschende Wendung und fast kindlich naiv werden die Monate aufgezählt. Aber genau das ist die Freiheit, der sich andere verschließen, die Tocotronic ausmachen. Und selbst in „Für immer Dein Feind“ ist von Lotzow auf der Suche nach gepflegtem Ausdruck. So, als wolle er es nicht, aber könne es auch nicht verhindern. Arne Zank singt dann aus seinem Tagebuch und auch hier lässt er einen den Kopf schütteln, als er den Verlauf der Zeit aufzählt. Das sind magische Momente, Kreativübungen und Independent zugleich. Nachdem alles gesagt ist, wird es geradezu volkstaumelnd. Ein Abschied, ein Bier, ein Sitzplatz in einem Bus, dessen Scheiben beschlagen (den gleichen Bus nahmen später auch Erdmöbel). Stille vor dem Orkan und Disharmonie lassen den Hörer allein. Sollte man jemals wieder an einer Haltestelle aussteigen, wundert man sich womöglich über die Leute auf der Straße.
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Das fiel mir ein als ich ausstieg.