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dominick-birdsey
Birdcore

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Slut · Lookbook
Virgin (2001)

Wir kennen das, haben diesen Satz schon häufig gehört, „Schatz, sie spielen unser Lied“. Musik kann einen individuellen Moment des Lebens und der Liebe vor das geistige Auge projizieren, eine abgelegte Erinnerung wieder aufleben lassen. Ein einzelner Song vermag uns Emotionen und Ereignisse, die wir mit einer geliebten Person verbinden, vor das geistige Auge zu führen. Sluts „Lookbook“ ist retrospektiv für mich angewandte Melancholie: poppiger und opulent arrangierter als alle Slut Alben vorher und hinterher, ist es das „Sgt. Pepper“ der Band – ein Konzeptablum, „die Vertonung eines imaginären Tagebuchs“. Die Songs „Welcome“ und „Welcome 2“ spannen einen Rahmen, aus dem das letzte Lied „Hope“ ausbricht. Eine Stunde lang bedienen sich Slut im Musikfeinkostladen: da schimmert The Cures Düsternis von Disintegration durch („Minerals“, „Hope“), da treffen Synthie-Pop auf Punk-Elemente („No Time“), wunderbar weilheimig. Zyklisch scheinen Themen angerissen und wieder aufgenommen zu werden, so dass trotz aller klangmalerischen Homogenität der Eindruck von Zerrissenheit in der Dramaturgie spürbar wird. Musik, die sich über deine Seelenlandschaft legt. Aber eigentlich geht es ja um Andy, den Protagonisten, der keine Selbstachtung hat, ständig glaubt Fehler zu machen und ein Versager ist: „Andy wasn’t mean and he was no love-machine, never said a word, never told us, that he was hurt“. Aber große Fehler, die einen an den Rand der eigenen Welt drängen, begeht jeder („Big Mistake“), und meistens ist es zu spät, wenn man sie erkannt hat. Wenn es in „It Was Easier“ heißt:“It was easier, when he ran away, almost everyday“, oder in „Welcome 2“: „Now I’m standing at the edge of my world“ (sie sang diese Stelle immer laut mit, was ich hinreißend fand), dann schafft es die dazugehörige Musik Gefühlsregungen, Personen, Dinge und Ereignisse wieder aufzuwühlen: vom Kloß im Hals bis zu Gefühlen in der Magengrube. Das richtige Gefühl hatte einen Namen und saß nicht weit von mir entfernt. „Lookbook“ ist eine Reise ins Reich meiner Gefühle, befreit Traurigkeit, die sonst unterdrückt würde, hilft mir zu erkennen, was ich eigentlich gefühlt habe. Und natürlich wirkt es wie eine numinose Verstärkung ereignisbezogener und handlungsbezogener Emotionen, wenn es in „Global Cut“ heißt, „would you please stop missing me.“ Bild des Verlusts, Bild der verlorenen Augenblicke. Insbesondere wenn man weiß, dass es wenigstens noch eine Person gibt, die möglicherweise beim Hören genau das gleich empfinden muss. Hoffnung auf das Berühren und berührt werden, schürt das letzte Lied, mit dem die emotionale Sturmflut endet: „Hope to show my face again and get in touch with you again. Hope, that I wil make it everyday“. „Hope“ sagt: dich zu leben, dafür ist alles. „Hope“ sagt, Freundschaft ist oft nur eine Form von Feigheit, eine Flucht vor den größeren Verantwortlichkeiten und Herausforderungen der Liebe. Aber natürlich sind Gefühlsreaktionen auf Musik individuell. Und wenn sie gar nichts mehr schildern vermag, dann ist es nur noch Lärm. „Lookbook“ ist das Gegenteil. Für mich.

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