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So, „Drohung“ wahr gemacht, hier ist mein Review zu:
Bruce Springsteen & The E-Street Band: The wild, the innocent, the E-Street-shuffle
Es gibt ein Photo von Bruce Springsteen, aufgenommen 1973 zur Zeit der Sessions von „The wild…“, da sieht man ihn in Long Branch, NJ auf dem Ocean-Boulervard stehen und alles um ihn herum scheint schräg oder schief sein: Alte Fahrräder vor einem Geschäft, die Straßenlaterne – alles hat irgendwie Schlagseite. Und genauso schief klingen die ersten Töne von Springsteen’s zweiter Platte innerhalb nur eines Jahres! Doch nach 10 Sekunden schrägstem Bläsergehupe macht sich die (nun auch offizielle) E-Street Band auf ihren musikalischen Weg durch die Bars und Strandboulevards der verfallenen Jersey-Küste Anfang der 70er – „The E-Street-Shuffle“ verwandelt sich nach diesem Auftakt schnell in eine Nummer reinsten Stax-Souls mit herrlich, vor Lebenslust überbordenden Zeilen wie:
„Sparks fly on E Street when the boy prophets walk it handsome and hot,
All the little girls' souls grow weak when the manchild gives them a double shot,
The schoolboy pops pull out all the stops on a Friday night,
The teenage tramps in skin-tight pants do the E Street dance and everything's alright“
Damit aber noch nicht genug – kurz vor Ende verwandelt sich der Song noch einmal und zwar in einen heißen Latino-Stomp, an dem auch Santana ihre helle Freude gehabt hätten. Überrascht? Kein Wunder, denn „The wild, the innocent…“ ist Bruce Springsteen musikalisch überraschendstes Album und zeigt noch einmal deutlich, daß Springsteens Frühwerk essentiell ist, um ihn in seiner Gesamtheit zu verstehen, wer ihn immer noch nur als muskelbepackten Blue-Collar-Rocker oder Rising-Gutmenschen sieht, hat nur die Hälfte verstanden! Springsteen ist einer der versiertesten Musiker überhaupt, kennt sich sehr wohl gut aus mit allen Musikstilen von Jazz, über Reggae (Auf der „Wild“-Tour 73 spielte er sogar 2 Konzerte im CBGB’s mit Bob Marley!) bis hin zu Folk, Country oder eben Rock’n’Roll. Diese Platte ist der frühe Beweis für seine Könnerschaft! Und wie er damals konnte!! Die ihn begleitete erste Ausgabe der E-Street-Band war sicherlich ein Hauptgrund dafür, warum diese Platte auch nach über 30 Jahren musikalisch noch so schillert. Mit Springsteen spielten damals Danny Frederici an Orgel und Akkordeon, David Sancoius, Piano, Vinnie „Mad Dog“ Lopez an den Drums, Garry W. Tallent, Bass und Clarence Clemmons, Sax. Vor allem die beiden Keyboarder prägen den Sound der Platte: Während Frederici mit seinem souligen Orgelspiel und seinem Akkordeon gerade in Songs wie „Sandy (4Th of July, Asbury Park)“ oder in „Wild Billy’s Circus Story“ (das auch noch mit Tuba von Gary Tallent) die Atmosphäre der Strandbars und Ocean-Boardwalks kongenial in Szene setzt, sorgt Sancious für absolute musikalische Höhepunkte (Springsteen, sagte selber später, daß Sancious der beste Musiker war, mit dem er je zusammenspielte), schon allein der Einstieg bei „New York City Serenade“ ist einfach wunderschön: Erst spielt Sancious eine kleine Mozart-Passage, wechselt dann in einen rauchigen Monk-Blues, bevor dann die eigentliche Einleitung beginnt…
Ein weiteres Unikum dieser Platte sind die Songs! Nie wieder hat Springsteen dermaßen komplex komponiert, arrangiert, gespielt und gesungen. Fast alle Songs sind über 5 Minuten lang und vollgepackt mit Querverweisen und Zitaten aus 20 Jahren Rock’n’Roll. Neben den beiden großen Balladen „Incident on 57th Street“ und „New York City Serenade“, (die klingen, wie Martin Scorcese-Filme aus dieser Zeit („Mean Street“) anzusehen sind: Intim, mit einer Leidenschaft, die manchmal weh tut und immer mit dem ganz großen Drama ausgestattet!) waren es doch vor allem die „Rocker“ der Platte, die Springsteen’s Ruf als unwiderstehlicher Live-Perfomer weiter manifestierten. Über „Rosalita (Come out tonight)“ wurden ja schon ganze Abhandlungen geschrieben, die 7 Minuten vollgepackt mit Changes, Wechseln, einer Dynamik, die ganz klar von den alten Soul-Revuen des Apollo Theaters inspiriert ist, waren bis zum Ende der „River“-Tour immer Springsteens letzte Nummer on stage (manche dachten, sie würde es für immer blieben!). Die zweite richtige Abgehnummer ist für mich Springsteens vergessenes Meisterwerk: „Kitty’s back“ – fast 8 Minuten hochoktaniger Rock’n’Soul mit raffinierten Jazz-Einsprengseln und einer unbändigen Spielfreude der ganzen Band! Diese Nummer war 73/74 ein absoluter Live-Höhepunkt, bei dem Springsteen und Clemmons jeden Abend auf der Bühne ein ganz besonderes Drama machten: Während Clemmons zu Beginn des Songs dem entsetzten Publikum ein blutverschmiertes Messer zeigte und sagte Kitty wäre zurück in der Stadt und würde Rache nehmen, sprang Springsteen ins Publikum, versteckte sich ängstlich zwischen den Leuten , nur um drei Minuten später auf die Bühne zurückzurasen und atemlos den Refrain „Kitty’s back in town“ herauszubellen! Rock’n’Roll pur!!!
Doch trotz aller Spielfreude, großer Songs, wie leider beim Debutalbum ließ die Proudktion doch wieder einiges übrig, die Platte wurde wieder im „Pappschachtelstudio“ (Springsteen) 911 in Beauvelt aufgenommen, Dort war das Dach kaputt, die Instrumente uralt (so hört man teilweise die Piano-Pedale knarzen) und das Recording-Equipment absolut schrott. Doch Springsteen, typisch loyal, war mit dem Engineer Louis Lakav befreundet und so wurde auch das 2. Album dort aufgenommen (mit der Ankunft Landaus Ende 74 wurde die ganze Szenerie sofort professioneller, man wechselte für „Born to run“ ins Record Plant nach NY) Noch ein Wort zu Louis Lakav. Dessen Frau Suki war teilweise auch Mitglied der E-Street Band, sie spielte Violine und Bootlegs aus dieser Zeit der legendären Live-Konzerte zeigen, daß sie bei Frühfassungen von „Jungleland“ und der atemberaubend schönen Cover-Version von Dylan’s „I want you“ sehr gut ins Soundbild der damaligen E-Street-Band passte.
Neben den aufgenommen Tracks waren zwei weitere „Epen“ für die Platte im Gespräch: „Thundercrack“ und „Zero and Blind Terry“ (beide später auf „Tracks“ veröffentlicht!
Abschließendes Fazit: Für mich ist „The wild, the innocent, the E-Street-Shuffle“ meine Lieblings-Springsteens-Platte, er spielte damals ohne Erwartungsdruck, nur seinem eigenen Urteil vertrauend und noch ohne ein großes Publikum, eine Musik, die in ihrer Essenz die Idee des Rock’n’Roll auf eine Art und Weise lebendig macht, wie es selbst Springsteen später kaum mehr (auf Platte) geschafft hat.
Soweit, so gut, next stop: „Born to run“ ;)
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