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dominick-birdsey
Birdcore

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Natalie Merchant ∙ Tigerlily
Elektra (1995)

Mit fortschreitendem Herbst nimmt der Himmel eine tiefblaue Farbe an und er wirkt irgendwie höher. Die entstehende Entfernung gibt einem das Gefühl von größerer Einsamkeit, das man spürt: Ich bin nicht dabei. Wer Musik von Natalie Merchant hört, ist meist allein. Es ist nicht die Musik, die Aufmerksamkeit auf sich zieht, es ist diese Stimme. Ihre Stimme. Ihre Stimme wärmt in der neuen Jahreszeit und zunehmenden Kälte wie ein Pullover oder ein Kaminfeuer. Großes Gefühl.
„Tigerlily“ ist melancholisch. Musikalisch wie textlich. Klavier, Gitarre, Schlagzeug reichen als Begleitung. Über das Weiterleben nach einem großen Verlust einer geliebten Person in Beloved Wife („I can’t believe | I’ve lost the very best of me“) und River, eine Ode an den verstorbenen Hollywoodschauspieler River Phoenix („you were gone | it was such a nightmare raving | how could we save him from himself?“).
Im Zentrum des Albums stehen zwei längere Songs. Zum einen das achtminütige I may know the word. Ein warmes zärtliches Stück, das mein Herz einen Augenblick lang stillstehen lässt, „but it’s all gray here | but it’s all grey to me“. Hier dringt kein Herbstlicht mehr durch die Zweige. Eingemauert: „I recognized the walls inside | i recognozie them all“. Manche Menschen mögen bei der Musik eine Form von Verlorenheit finden.
Zum anderen Carnival. Eines der beiden fröhlicheren und beschwingteren Songs, das mit Percussions versucht die Stimmung eines lateinamerikanischen Karnevals einzufangen. Hypnotisiert von den Darbietungen der Schausteller wird zugleich die Fassadenhaftigkeit und Fragwürdigkeit („I walked these streets | in a spectacle of wealth & poverty“) des Straßenkarnevals dargestellt.
Songs über Eifersucht, über das Verarbeiten von Erfahrungen, Balladen über romantische Beziehungen und über das Ende einer Liebe und die damit verbundenen Emotionen. Der von Schönheit Gelangweilte ist hier falsch.
Und später, wenn es Winter geworden ist, und auf wunderbare Weise alles weiß wurde und das Herz glänzt, wärm dieses Album immer noch. Und es soll Menschen geben, die der Einsamkeit entsagen, weil sie wissen: Sonntags kuschelt man gemeinsam.

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