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Die Toten Hosen – Opium fürs Volk
JKP 1996
Wer mit spirituellen Rocksongs nichts anfangen kann und dem „Eigentlich-weiß-ich-ja-dass-es-kein-Punk-ist-aber-man-kann-herrlich-drauf-rumreiten“ noch immer etwas abgewinnen kann, sollte seine Zeit nicht hier verschwenden, denn genau darum geht es die nächsten ca. zehn Minuten.
Wo anfangen, wenn alle Songs fast gleichzeitig auf einen zukommen? Vorne? Donner, ein Chor beginnt das Vaterunser und es ist kein Stoßgebet, sondern der Trichter, um einen auf die kommende Stunde einzustimmen. Die Kirche, das Alter, das Gegenteil von Leben und Tod. Hier reicht ein Song der „Mensch“ heißt, für den H. Grönemeyer ein ganzes Album brauchte und HRK dichtet: „Nichts reimt sich auf Mensch.“
Die Fliege als sinnbildliche Droge bzw. deren Folgen ist eine Erinnerung an glorreiche Zeiten, als es im Kreuzzug ins Glück ging. Opium fürs Volk ist die Bequemlichkeit des Unbequemen. Die Auseinandersetzung mit schwierigen Themen und das Hinterfragen unumstößlicher Gebote machen den Hörer unsicher. Wie wäre denn der Rollentausch zwischen Gott und den Menschen? Bei aller Toleranz, es ist nur eine Denksportaufgabe, aber eine interessante. Etwas ungenau wird es in „Böser Wolf“, doch das Thema ist zu komplex, um es von allen Seiten zu beleuchten. Auch hier wird auf jeden Fall ein (Ge)-Denkstein ins Rollen gebracht. Nahtlos geht es über in die vernichtende Erkenntnis „Nichts bleibt für die Ewigkeit.“ Das Ziel ist der Weg und im zweiten Teil hört man die Verzweiflung des Unbegreiflichen. Kommen wir kurz zu einem Füller. „Und so weiter“ wird vor allem durch die Bluesharp gerettet, dann allerdings sehr kurzweilig. Die Geschichte von „Bonnie & Clyde“ singen heute die Toten Hosen. Vor 20 Jahren hätte es Lindenberg gemacht und es hätte die gleichen Diskussionen um den Text gegeben. Beruhigende Beständigkeit die irgendwie nervt. (vgl. „Das ist kein Punk“) Und so, wie es DTH nicht gelingt, es allen recht zu machen, so hört sich Campino auch im „Froschkönig“ an. Wenn alle Meys, Hoffmanns, Grönemeyers und Van Veens ruhig werden, kommt der Schreihals um die Ecke und es tut gut. Nebenbei gibt es eine Beschreibung der Wirkung von XTC. Danke, dann brauche ich es nicht selbst probieren. Bis jetzt ist das Album homogen und die Assoziationskette reicht von Gott-Paradies-Ewigkeit zu Mensch-Erkenntnis-Verzweiflung. Nun kommt in „Lügen“ noch Schmerz und Verblendung hinzu. Flucht vor Einsamkeit. Campino scheint im Benediktinerkloster viel nachgedacht zu haben und ich wünschte, solche Therapien gäbe es für alle auf Rezept. Vieles wird durch Ehrlichkeit leichter. In „Paradies“ wird die “alte Kirche“ mit ihrem strengen Reglement angeprangert. Ein Faustschlag ins Gesicht der Oberflächlichkeit, während eine Hand unter den Wams wandert. Christ sein und Punk ist eine Lebenseinstellung; und keine Zurschaustellung von Äußerlichkeiten legitimiert die Zugehörigkeit oder Ablehnung. Hallo? Sind Sie noch da? Nein, dies ist nicht der Fun-Punk der Opel-Gang. Es handelt sich um Vergangenheitsbewältigung einer Rockband. Nun kommt der „Wir-gegen-den-Rest-der-Welt“-Song. Das Selbstbewusstsein wird nun noch mal explizit plakativ rausposaunt. Überflüssig, bei aller Liebe. Überhaupt wird Liebe hier in mehreren Darreichungsformen präsentiert. „Er denkt, sie denkt“ zeugt von der Erfahrung und der Unmöglichkeit zwischen Mann und Frau. Fein beobachtet und eigentlich – deprimierend, doch keine Angst, denn die „Seelentherapie“ zeigt, wie es gehen könnte. Danach wird es sentimental, denn die Revolution lebt schon lang nicht mehr. Widerstand ist nicht nötig, denn man kann sich alles passend argumentieren. Ist nicht so? Na dann revoluzzen Sie mal drauflos. Gibt es noch irgendwas, von dem man nicht auch abhängig ist? Und bitte schön: Um die Regelmäßigkeit aufrecht zu erhalten braucht es heute oft mehr Kraft, als eine Gegenbewegung zu starten und am Laufen zu halten.
Am Ende kommt es dann doch noch zum offensichtlich unvermeidbaren typischen „Hosen-Song“. Genau genommen ist es die Zusammenfassung von allem vorher Gehörten. Bierzelttaugliche Sozialkritik unter ethnischen und moralischen Gesichtspunkten. Ein Song – den Hosen-Kritikern zum Fraß vorgeworfen – mit Berechnung. Andererseits ein komisches Lied, das immer funktioniert, sogar wenn „Einer geht noch…“ intoniert wird. Eins fehlt auf diesem Album, dessen Songs immer wie der erste Stein einer Dominokette (hochkant aufgestellt, nicht klassisch) zu sein scheinen. Hoffnung, die stirbt zuletzt.
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Das fiel mir ein als ich ausstieg.