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dominick-birdsey
Birdcore

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Aimee Mann ∙ Whatever
Imago (1993)

Für das Gefühl, dass das Leben dort stattfindet, wo man selbst gerade nicht ist, benötigt man Trost. Die Einen finden ihn, indem sie ihre Gefühle vertexten und vertonen, die Anderen – so wie ich – darin, das Vertextete und Vertonte zu konsumieren. Und so sitzt man, nach der Frühschicht des Ferienjobs zu Hause vor seiner Stereoanlage und weiß nichts mit sich anzufangen, während andere (definiert als Freundin und Freunde) die Möglichkeit haben, sich auszuleben und in den Süden zu fahren.
Ja, Mann, so ist schon das Leben.
Und das beschreibt mit eindringlichen Texten über Liebe und Leben, verliebt sein und Verlust, über betrogen werden und betrübt sein und zumeist auch über Enttäuschung: Aimee Mann. Zynisch, auch sarkastisch, aber immer mit einem Funken Hoffnung – ja, tröstend – beseelt und mit Ironie auf den Lippen. Musikalisch segeln die Byrds vorbei, ein wenig Beatles-Harmonien vielleicht: sechziger Jahre Pop auf jeden Fall, Folk-Rock sicher auch. Aber das ist unangemessenes Schubladendenken.
„Whatever“ ist das Solodebut der „’til tuesday“-Sängerin und ein sehr persönliches.
Songs wie „Put me on Top“ oder „I’ve Had it“ setzen sich mit dem Thema Songwriting auseinander. Das Bemerkenswerteste aber ist, dass die Texte auch vom anderen Geschlecht mitgelitten werden können. Und man leidet mit, wenn man das Ende einer Beziehung (nämlich just, wenn die oben Definierten wieder aus dem Süden zurückkommen) hätte kommen sehen müssen („I Should’ve known“). Gern blickt man mit ihr auf längst vergangene Zeiten zurück („Fifty Years after the Fair“; „Way back then“). „4th of July“ kontrastiert die Feiertagsstimmung mit der Klage über eine verpasste Gelegenheit so traurig schön wie besonders.
Die Ungeheuerlichkeit auf dem Album aber ist „Stupid Thing“. Obwohl der Text genau das Gegenteil aussagt, behauptet sich in der Musik der Wunsch nach Romantik und Kuschelei. Und so sitzt man vor seiner Stereoanlage. Und beim wiederholten (vielleicht fünftem, vielleicht elftem) Hören des Stückes, beim wiederholten „oh, you stupid thing | speaking of course as your dear departed | oh, you stupid thing | it wasn’t me that you outsmarted“-der-Anlage-bzw.-der-Wand-entgegen-Singen, stellt man fest, dass das Leben gar nicht woanders stattfindet, sondern genau in diesem Zimmer, mit Aimee Mann.*
In „Whatever“ habe ich mich verliebt. Die nachfolgenden Alben haben diese Liebe bestätigt, jedoch niemals verstärken können.
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*(außer bei dem audiosupersensiblen Wohnheimnachbarn, der einem am nächsten Tag finster anschaut und greint: „Und beim nächsten Mal, machst du die Anlage auch aus, wenn du die Kopfhörer aufhast“!)

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