Antwort auf: blindfoldtest #23 – gypsy tail wind

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gypsy-tail-wind
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1. ARAXI KARNUSIAN STRANGE SOUNDS–BEAUTIFUL MUSIC – Interrupted Part II (Mvt. 1) (Araxi Karnusian)

Ein minimalistischer Einstieg, entnommen einem Album der schweizerischen Saxophonistin Araxi Karnusian, das Erfahrungen verschiedener – örtlicher bzw. durch Ortswechsel bedingter – „Interrputionen“ musikalisch verarbeitet, wie sie in ihrem kurzen Text zur CD schreibt. Das Ergebnis sind drei Suiten, aus deren zweiter, einem Aufenthalt in Paris gewidmeten, ich #1 und #13 entnommen habe.

Karnusian ist für mich auch nicht viel mehr als ein Name, sie scheint nicht mehr sehr aktiv zu sein. Ich hörte sie 2011 mit ihrem Miniatur Orchester am Jazzfestival Schaffhausen, demjenigen unter den grossen Jazzfestivals des Landes, das sehr stark auf die CH-Szene ausgerichtet ist (an dem Abend gab es zudem Irène Schweizer/Pierre Favre und Malcolm Braffs Voltage). Die CD des Miniatur Orchesters, „Pro specie rara“, liegt hier auch, sie ist von 2010, aber da Karnusian die Miniaturen gemeinsam mit den beiden Schlagzeugern Dominic Egli Simon Fankhauser eingerichtet hat, wählte ich Auszüge aus dem Ablum „Interrupted“, bei dem auch Colin Vallon zu hören ist, neben Egli und Daniel Schläppi, alles recht wichtige Figuren des aktuellen Schweizer Jazz.

2. KAJA DRAKSLER – The Lives of Many Others (Kaja Draksler)

Und noch ein Anfang … der Übergang schien mir sehr gelungen, er steht obendrein für das Zwiebelprinzip des ganzen BFTs, denn jede Schicht ist auch ein Neubeginn. Wie ich schon schrieb höre ich in Kaja Draksler eine eigenwillige neue Stimme am Piano, die das Instrument als Ganzes spielt – was für mich, um das nochmal aufzugreifen, gerade das Gegenteil von „Musikinstrumente gegen die Betriebsanleitung gespielt“ ist. Im Gegenteil, bei vielen Konzerten, die ich besuche, gehört es dazu, dass ein Instrument als Ganzes benützt wird, dass seine klanglichen Möglichkeiten über das Herkömmliche hinaus erforscht werden. Gerade in der freien Improvisation ist das natürlich längst nichts Neues mehr, aber es wird sich auch kaum jemals irgendwo einbürgern. Unbehaustheit ist aber wohl eines der zentralen Merkmale dieser Musik, so gesehen passt das schon auf. Was ich aber gerade in dem Track hier so toll finde ist, wie Draksler aus dem Geschabe und Gekratze plötzlich in diese leicht einfältige Melodie fällt, sich daraus ein Groove entwickelt, wie sie das freie Spiel mit dem konventionellen verbindet, Eigenes an verschiedene Traditionen zurückbindet, die natürlich nicht nur aus dem afro-amerikanischen Hauptstrang des Jazz kommen. Live hörte ich sie neulich mit ihrem Oktett, ein etwas schwieriges aber äusserst anregendes Konzert (Klick).

3. GÉRALDINE LAURENT TIME OUT TRIO – A Quiet (Géraldine Laurent)

Das Time Out Trio um Géraldine Laurent am Altsax ist für mich eine Art Fortschreibung der grossen Monk/Mingus/Ornette-Linie – die es gar nicht in der Form gibt, aber es gehört ja auch zu der postmodernen Freiheit, dass man sich da was zusammenstellen kann, was passt, und sich daraus dann zu dem inspirieren lässt, was man selbst machen will. Sehr erdig alles, das Saxophon nicht gerade virtuos, vielleicht auch nicht auratisch, aber doch ziemlich gut. Erstbegegnung mit Laurent und diesem Trio war ein Konzertmitschnitt im Radio, zweite dann ein Konzert in Zürich (mit hämmernden Kopfschmerzen, aber ich blieb dort), danach leise Enttäuschung über das endlich gekaufte Album, von dem der Track stammt … die hat sich nie ganz gelegt, aber rein musste halt doch was daraus. Neue Konzertgelegenheiten ergaben sich leider bisher auch nicht wieder und das spätere Album, das ich von Laurent noch kenne, ist eher etwas schwächer. Als ziemlich schön habe ich auch das Aldo Romano-Album „Just Jazz“ in Erinnerung, mit Mauro Negri (cl), Laurent und Henri Texier. Muss ich bald wieder einmal anhören.

4. RHODA SCOTT LADY QUARTET – Nizza (Rhoda Scott)

Hätte @redbeansandrice an diesem BFT teilgenommen, hätte er Rhoda Scott natürlich identifizieren müssen – wohl eher nach Ausschlussverfahren, hätte ich erwartet … und das hätte dann den Ball (alles französischer Jazz? alles Frauen) ins Rollen bringen können … beim nächsten Mal vielleicht wieder, es geht ja v.a. ums Hören oder gerade ums Hören, ohne zu wissen, was man genau hört. Rhoda Scott war die zweite Hammond-Legende, die ich im Konzert hören durfte, ein paar Jahre davor hatte ich Dr. Lonnie Smith schon live hören können:
https://ubu-space.blogspot.ch/2008/02/dr-lonnie-smith-zurich-2007.html?m=0
Für Scott fuhr ich nach St. Moritz, der Mann hinter dem dortigen Festival da Jazz war damals mit einer guten Freundin meiner Schwester liiert und wusste, dass Scott mit interessieren dürfte … daraus wurde ein unvergesslicher Abend, über den ich ebenfalls ausgiebig berichtet hatte:
http://ubus-notizen.blogspot.ch/2010/11/rhoda-scott-hotel-schweizerhof-st.html
Photos vom Konzert:
http://www.fotoswiss.com/-/galleries/events/events-music-concerts/archive-concerts-engadin/rhoda-scott-jazz-lady-at-hotel-schweizerhof-stmo?search=Rhoda+Scott&search_in_gallery=1
Als ich direkt nach dem Konzert mit Scott sprach, ein paar mir liebe Aufnahmen erwähnte etc. (ich hatte am selben Tag ihre damals neuste CD erhalten, „Beyond the Sea“ auf Doodlin, und erwähnte das natürlich, eine weitere liess ich mir ausnahmsweise signieren), fragte sie mich, ob ich denn Lisa Cat-Berro kennen würde, was ich verneinen musste. Daraufhin schickte Scott ihre Tochter hoch ins Zimmer, sie solle doch ein Exemplar der CD für mich bringen – und das war dann eben „Lady Quartet: Live at the Sunset–Paris“. Ich kenne Cat-Berro bis heute nur mit dieser Gruppe, die gerade ein zweites Album veröffentlicht hat, „We Free Queens“. Mir gefällt dieses etwas ältere Album allerdings besser, und ich wählte daraus die Scott-Ballade „Nizza“, in der Cat-Berro im Zentrum steht, gefolgt von einem in der Tat etwas grenzwertigen Solo von Scott an der Orgel. Doch Scott, das wurde mir beim zweiten Konzerterlebnis (und dritten, zwei aufeinanderfolgende Abende in Brüssel mit @redbeansandrice) klar, ist eben wenigstens so sehr Entertainerin der alten Schule als Jazzmusikerin – und dies, obwohl sie ins Reden kommt, wenn man sie auf die mangelnde Wertschätzung des Orgeljazz in den USA, den Chitlin Circuit etc. anspricht.

Weil ich die andere Saxophonistin des Lady Quartet, Sophie Alour, sehr schätze, sie in diesem Track aber nicht zu hören ist, folgt von ihr später noch ein Track – gemäss dem Zwiebelprinzip muss es natürlich #10 sein, s.u.

5. ANGELICA SANCHEZ TRIO – Substance of We Feeling (Angelica Sanchez)

Über jeden Zwiefel erhaben ist dann aber die nächste Nummer, vom brandneuen, exakt vor einem Jahr eingespielten Trio-Album der Pianistin Angelica Sanchez. Sie lernte ich zunächst über ein paar Audience-Tapes auf Dime kennen, die schon lange wieder verschollen sind … sie hat u.a. mit Wadada Leo Smith aufgenommen, aus der jüngeren Generation auch mit Rob Mazurek, Matt Bauder, Harris Eisenstadt, und natürlich mit Tony Malaby, ihrem Ehemann. Der freie Groove, den sie im Trio mit Michael Formanek und Tyshawn Sorey herausspielt, gefällt mir enorm gut – und auch sie ist wohl eine der Pianist_innen, denen Geri Allen sehr viel bedeutet hat. Aber das schreibe ich jetzt so dahin, es ist ja bekannt, dass ich Geri Allen gerade erst halbwegs begriffen habe (bzw. mir das einbilde, weiss man ja am Ende nie so genau).

6. KRIS DAVIS – Good Citizen (Kris Davis)

Mit Kris Davis folgt gleich die nächste Pianistin – der BFT war trotz einer Gegenmeinung nun wirklich nicht saxophonlastig … Davis gehört wie Draksler zu den von einem Bekannten, der permanent an Konzerte in Deutschland, den Niederlanden, Polen etc. reist, sehr bewunderten jungen Musikerinnen. Ich hatte erst letzten Sommer die Gelegenheit, sie endlich einmal live zu hören – sie spielte ein beeindruckendes Solo-Set (und ein für mein Empfinden missglücktes Duo mit einem Saxophonisten aus Zürich) – ich hatte auch darüber berichtet:
http://forum.rollingstone.de/foren/reply/2016-jazzgigs-konzerte-festivals-reply-id-3622777/
Einiges von dem, was mich im Konzert schwer beeindruckte, ist auch hier zu hören. Für mein Empfinden wird die Virtuosität bei Davis jedenfalls nicht zum Selbstzweck, aber es mag sein, dass ein herausgelöster Track nicht so gut funktioniert. Dass ihr Spiel durchaus überfordernd sein kann, will ich aber überhaupt nicht in Abrede stellen.

Die Trio-Alben unter Leitung von Eric Revis wären vielleicht der bessere Einstieg in ihr Werk, aber da sie von einem Mann geleitet werden, schieden sie leider aus. @vorgarten ist aber gewiss der beste Tipp-Geber im Forum, was Kris Davis betrifft.

7. EVE RISSER WHITE DESERT ORCHESTRA – Earth Skin Cut (Eve Risser)

Und hiermit sind wir im Mittelpunkt der Erde, äh, des BFT angelangt … es fiel mir nicht gerade leicht, aus dem tollen Album des White Desert Orchestra und seiner Leaderin Eve Risser ein Stück auszuwählen, am Ende hatte ich noch immer vier in er letzten Runde, doch schien mir dieses hier recht gut geeignet, um auf ein paar Dinge hinzuweisen, die mir bei Risser (und anderen jüngeren Gruppen) sehr gut gefallen: das Zusammenspiel in der Gruppe, aber zugleich die Freiheit, die der/dem Einzelnen dabei gelassen wird, das Ineinandergreifen von Komponiertem und Arrangiertem und freien Elementen, das Ausbrechen in wilde Improvisationen mitten aus dem Ensemble, in das nach dem Solo auch wieder zurückgefunden wird.

Den Link zu meiner Konzertbesprechung sei hier der Vollständigkeit halber auch nochmal plaziert:
http://forum.rollingstone.de/foren/reply/9997189/

8. RIDD QUARTET – The Eye and the Telescope (RIDD Quartet)

Dass dieses Album nicht sonderlich beliebt ist, wenigstens bei @vorgarten, habe ich so abgespeichert (ich mag irren). Ich erwähnte schon einige Male, dass es in der letzten Phase der Vorbereitung hier erneut lief, eben wegen Kris Davis, die auch hier wieder am Klavier sitzt – und es gefiel mir sehr gut. Tut es weiterhin, ich hörte es vorhin auszugsweise noch einmal, bevor ich mit dem Wiederhören des ganzen BFT anfing. Jon Irabagon spielt auch in der unsäglichen Hipster-Jazz-Combo „Mostly Other People Do the Killing“ (die mir auch mal 1,5 Tage lang gefiel, bevor sie abgelutscht war), Jeff Davis (any relation?) kenne ich sonst nicht. Reuben Radding ist ein phantastischer Bassist, der sich womöglich aus der Musik zurückgezogen hat, um sich ganz der Photographie zu widmen – ich weiss es nicht, siehe Links im vorherigen Post. Er fiel mir vor wohl fünfzehn Jahren einst auf, als es auf Org eine lebendige Diskussion über Free Jazz, freie Improvisation etc. gab (lebendig, aber in einem einzigen Thread, die legendäre „funny rat“). 2007 gab es von Radding jeden Monat eine Aufnahme aber seiner Website zu holen, 2006 hatte er auf Alben mit Matt Bauder und Mary Halvorson/Radding/Nate Wooley mitgewirkt, 2008 auf einem sehr schönen Album mit Denman Maroney … aber danach verlieren sich leider die Spuren.

Dass dieser Track in der Diskussion über neue Ansätze im Jazz seit den Siebzigern oder Achtzigern aber nicht dienen kann, ist mir natürlich klar … dennoch höre ich hier sehr schöne Stimmungen, gutes Zusammenspiel und charaktervolle (wenngleich nicht eigenwillige oder gar einzigartige) Stimmen.

9. MARIE KRÜTTLI TRIO – Bout de lumière (Marie Krüttli)

Weiter mit Klavier, wieder ohne Saxophon … einer der konventionellsten Tracks aus dem BFT, gespielt vom Trio der jungen Schweizerin Marie Krüttli, die ihren Bill Evans gehört hat, aber auch ein paar weitere Dinge … sie gewann im Vorjahr den ZKB-Jazzpreis, einen jährlich verliehenen Preis, in dessen Vorfeld die nominierten Bands im wichtigsten Club der Stadt, dem Moods, auftreten. Ich hörte damals nur das Jury-Konzert, das jeweils zum Abschluss stattfindet – und bei der Gelegenheit schaffte ich es endlich einmal, David Murray live zu sehen:
http://forum.rollingstone.de/foren/reply/2016-jazzgigs-konzerte-festivals-reply-id-3611815/
In der zweiten Combo des Abends, dem Trio des Pianisten Jean-Paul Brodbeck, auf das ich mich im Vorfeld nicht sonderlich freute, das dann aber sehr gut war, spielte der junge Lukas Traxel den Bass. Er ist auch Mitglied von Marie Krüttlis Klaviertrio, mit Martin Perret am Schlagzeug. Ich komme dem Album nicht so wirklich auf die Schliche, aber es lief schon öfter, und auch weil ich Traxel im Konzert mit Jean-Paul Brodbeck damals wirklich gut fand, wählte ich einen Track, in dem sein Bassspiel auch wirklich zu hören ist.

(Als Gegenpol zu Angelica Sanchez ist das hier natürlich viel zu konventionell, aber egal …)

10. SOPHIE ALOUR – Ode à Arthur Cravan (Sophie Alour)

Und nun kommen wir zu Sophie Alour, der zweiten Saxophonistin aus Rhoda Scotts Lady Quartet und einer weiteren Stimme aus Frankreich, die mich erstmals im Radio mit Live-Mitschnitten aus Clubs in Paris und aus dem Radiostudio beeindruckt hat. Ich suchte dann bald nach ihren CDs, die leider oft etwas konventionell und vielleicht auch kommerziell geraten sind. Aber dieser Blues aus Alours Feder, dem Proto-Dadaisten Arthur Cravan gewidmet, ist eine schnörkellose Angelegenheit, in der ihr tolles Spiel am Tenorsaxophon wie ich finde wunderbar zur Geltung kommt. Am Bass ist übrigens derselbe Mann wie im Time Out Trio um Géraldine Laurent zu hören, Yoni Leznik. In Alours Ton finden sich Spuren von Joe Henderson, mich dünkt aber, dass die daraus einen eigenen Stil geformt hat, der mich in einem solchen Rahmen (eher als auf dem jüngsten Album, das in die Fun-Orgeljazz-Kiste gehört) sehr anspricht.

11. GÉRALDINE LAURENT TIME OUT TRIO – Love Letters (Heyman–Young)

Schrieb ich gerade Géraldine Laurent? Hier ist sie noch einmal, ganz allein mit ihrem Altsaxophon und einer schönen Version des Filmsongs „Love Letters“ (der gleichnamige Film stammt aus dem Jahr 1945).

Und verdammt nochmal, nein! Hier wird nicht geübt! ;-)

12. KAJA DRAKSLER & SUSANA SANTOS SILVA – This Love (Kaja Draksler)

Die Trompeterin Susana Santos Silva, hier im Duo mit Kaja Draksler zu hören, kenne ich von diesem Album abgesehen überhaupt nicht. Als ich nach dem oben erwähnten Konzert des Draksler Oktetts auch ihre beiden anderen Clean Feed-CDs bestellte (diese hier, und jene aus dem #2 stammt), verliebte ich mich sofort in diesen Ton. Als ich neulich mal wieder die Gelegenheit hatte, mit Alexander Hawkins zu Quatschen unterhielten wir uns auch darüber, dass in der gegenwärtigen Szene sehr viele tolle Musikerinnen unterwegs sind (Ingrid Laubröck und Mary Halvorson liess ich weg, weil ich dachte, da käme eh jeder gleich drauf). Hawkins meinte sogar, wenn er es sich’s recht überlege, kämen derzeit doch fast alle interessanten Impulse von Frauen. So weit würde ich wohl nicht gehen bzw. die Frage, die sich dann stellt ist: was ist interessant … zu Santos Silva meinte er, er liebe dieses Duo-Album auch sehr, aber leider sei sie sonst nirgends so frei, so toll zu hören. Wäre schade, denn ich möchte in der Tat noch mehr hiervon!

13. ARAXI KARNUSIAN STRANGE SOUNDS–BEAUTIFUL MUSIC – Interrupted Part II (Mvt. 4) (Araxi Karnusian)

Den Ausklang macht dann nochmal ein Segment aus der Paris-Suite von Araxi Karnusian.

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