Antwort auf: Geri Allen (1957-2017)

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Geri Allen Ephemera, Folge 6: Reggie Workman – Cerebral Caverns (1995) | Ein seltsames Album, dieses zweite von Reggie Workman für das Label Postcards eingespielte. Der Vorgänger aus dem Vorjahr hiess „Summit Conference“ und allein das Line-Up verspricht schon viel: Julian Priester, Sam Rivers, Andrew Hill, Workman, Pheeroan akLaff. Das Album ist düster und toll, Rivers wirkt fokussiert, der späte Priester ist eh super … und Workman war offensichtlich nie darauf aus, aus seinen Credentials (Blakeys Jazz Messengers, Coltrane) Kasse zu machen sondern ist offensichtlich in erster Linie an neuer Musik interessiert, die niemals in neoklassizistische fallen wird. Auf „Cerebral Caverns“ sind Priester und Rivers (an Flöte, Tenor und Sopran) erneut dabei, Geri Allen stösst auf der Hälfte der acht Stücke am Klavier dazu, Gerry Hemingway und Al Foster teilen sich die Schlagzeugarbeit, dazu kommt auf ein paar Stücken (auch auf dem Opener, wo er nicht angegeben wird) noch Tapan Modak (tabla). Die im Opener sofort hörbare besondere Stimme kommt aber von Elizabeth Panzer an der Harfe. Mit Flöte, Bass und Drums als Begleitung prägt sie den Einstieg ins Album, „Cerebral Caverns I“.

Weiter geht es im Trio mit Geri Allen, Workman und Hemingway. Eine etwas unruhige freie Improvisation (vermute ich, finde im Booklet keine Composer-Credits), die den Eindruck des Openers bestärkt: im Vergleich zum düster-getragenen Vorgänger ist „Cerebral Caverns“ viel offener und freier angelegt. Allen bricht bald in wild umherspringende Läufe aus, die sie aber mit clusterähnlichen Verdichtungen zurückbindet, während Hemingway sich auf die nervöse Reise einlässt, Workman eher etwas im Hintergrund bleibt, bis er dann nach knapp drei Minuten in walkende Linien fällt, die Hemingway ungewöhnlich punktiert, während Allen weitersoliert, ohne zu solieren. Der stete Gang kommt dann ins Stottern, zunächst von Allen angedeutet, von Workman sofort aufgegriffen, dann fährt die Performance über eine Dreiviertelminute herunter ohne auszufasern.

Das dritte Stück, „Fast Forward“, wird im Quartett gespielt: Priester, Rivers (ts), Workman, Foster. Eine dichte, dunkle, rasante Nummer, in der sich Workman/Foster aneinander zu reiben scheinen, während Rivers sofort am Tenor loslegt. Ein Schlagzeugsolo ändert völlig die Stimmung und hinter Julian Priesters sprechender Posaune fällt Workman in einen repetitiven Groove, der mit wenigen Tönen auskommt. Allmählich verdichtet sich das Geschehen wieder, Workman walkt bzw. rennt, aber ohne dass je Hektik aufkäme. Priester glänzt mit seinem grossartigen Ton. Rivers stösst am Ende dazu, Workman spielt Orgeltöne und steigt von da aus in sein Solo, das Foster nur sehr sparsam begleitet. In „Ballad Explorations I“ stösst Tapan Modak dazu und Gerry Hemingway übernimmt wieder am Schlagzeug. Los geht es mit einem Dialog von Priester und Modak, Rivers stösst dann mit gehaltenen Tönen und langen Linien dazu, Workman punktiert ein wenig am Bass, auch von Hemingway hört man da und dort ein paar Schläge auf die Becken – das ganze klingt für westliche Ohren ungewohnt, weil die Tabla-Rhythmen ziemlich rasch sind und nicht so recht zum Thema „Ballade“ passen wollen, aber das mit fast neun Minuten längste Stück des Albums ist doch sehr schön, auch als eine Art Ruhepunkt in der Mitte.

„Half My Soul (Tristan’s Love Theme)“ heisst das nächste Stück, in dem alle beteiligten Musiker ausser Hemingway zu hören sind. Es öffnet mit Allen solo am Klavier. Sie spielt ein schönes Intro mit leisen Dissonanzen. Dann steigt Rivers an der Flöte ein, Foster und Workman kommen dazu, aber das Stück bleibt im Rubato. Erst mit der Übergabe an Priester fällt die Rhythmusgruppe in einen swingenden Dreiertakt – und die Harfe stösst zur Begleitung dazu. Rivers‘ Flöte, wieder im Rubato, beendet das Stück dann, das sich an das vorangegangene sehr schön anfügt. Weiter geht es mit „Eastern Persuasion“ und Workmans Bass, gespielt auf eine Weise, die an nahöstliche Instrumente erinnert. Die Harfe fällt dazu ein, Hemingway spielt seine elektronischen Pads wie im Opener und dazu auch Percussion/Drums, allmählich schält sich ein Groove aus der Klangkulisse heraus.

Auch das nächste Stück fügt sich nahtlos an, Rivers am Sopran in frei schwebenden Linien über Workmans Bass, Piano-Akzenten von Allen und getupften Schlägen von Hemingways Schlagzeug. Plötzlich etabliert sich ein Beat, Rivers setzt aus, Allen übernimmt und stapelt dichte Läufe und Akkorde übereinander, das wirkt zugleich etwas beliebig und völlig konsequent, offen aber mit einer klaren Richtung, einem Plan, der sich aber nicht so einfach entschlüsseln lässt. Das Tempo zerfällt wieder, Rivers bläst leise Töne, Workmans Bass übernimmt, dann wieder Rivers am Sopran, über eine freie Begleitung ohne festes Metrum. Das planlose, das aber nicht absichtslos ist, zieht sich überhaupt durch das Stück, das den sinnigen Titel „Evolution“ trägt und vermutlich auch wieder frei improvisiert ist – und wo ich das Album zum ersten Mal so aufmerksam höre, merke ich wohl erst, wie gut es wirklich ist. Ein Lieblingsalbum wird es wohl nicht mehr, einfach weil mich das Klangbild und das etwas patchwork-artige nicht völlig überzeugt, aber das hat dann mit der Qualität der gebotenen Musik nichts zu tun, nur mit meinen Vorlieben, mit Geschmack.

Der Closer heisst „Seasonal Elements (Spring-Summer-Fall-Winter) und präsentiert einmal mehr Allen, diesmal im Trio mit Workman und der Harfe von Elizabeth Panzer. Gestrichener Bass zum Einstieg, dazu dann Glöckchen, Geschepper (von Allen wohl, oder Hemingway ist doch auch mit dabei?), ein paar Töne von der Harfe, dann Arpeggi. Allen greift wohl ins Innere des Flügels, ja – das Geschepper gehört wohl mit zu ihren Präparierungen. Workman fällt dann in ein Bass-Lick, Allen lässt einzelne Saiten schnurren, Planzer zupft an der Harfe einzelne spitze Töne. Konventionelle Klaviertöne hört man hier nicht, höchstes mal einen gedämpften einzelnen Anschlag, ansonsten spielt Allen das Instrument sparsam als drittes Saiteninstrument und es ist Workman am Bass, der die Richtung vorgibt, während Harfe und Klavierinneres begleiten, ausschmücken, kommentieren. Ein schöner, nachdenklicher Ausklang, am Ende wieder mit gestrichenem, sehr tiefem Bass.

Von Allen hört man hier am Ende nach dem tollen freien Trio-Track und dem Intro auf halbem Weg recht wenig, aber das macht das Album nicht weniger hörenswert.

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