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Liner Notes zu Play Bach No. 3 von Jacques Loussier (1961)
A: Freust du dich auch so, daß jetzt die dritte Play Bach-Platte herausgekommen ist?
B: Warum sollte ich mich darüber freuen? Ich fand die ersten beiden schon entsetzlich genug und kann gar nicht verstehen, warum man nun diese Geschmacklosigkeit ein drittes Mal begeht. Genaugenommen kann ich es allerdings doch verstehen, denn so etwas scheint sich heutzutage ja gut zu verkaufen.
A: Du bist ein alberner Spießer! Ich frage mich, wie jemand so kleinlich sein kann und ein solches Experiment ablehnen. Hast du wirklich das Gefühl, daß die erhabenen Meisterwerke des Thomas-Kantors durch diese Verjazzung in den Schmutz gezogen werden? Altmodischer als du kann man nicht sein! Hier geht es doch nicht darum, etwas zu kopieren oder zu verunglimpfen. Hier wird uns doch vorgeführt, wie nah verwandt der Jazz und die Alte Musik sind.
B: Das hat Berendt auch schon vor fünf Jahren gesagt.
A: Dadurch wird es aber keineswegs unwahr!
Im Jazz wie in der Alten Musik hat der ausübende Musiker die Freiheit, zu improvisieren. Die einem Jazzstück zugrunde liegenden Harmonieabfolgen ähneln den General-Baßlinien der Barockmusik. Ein Stilideal klanglicher Transparenz ist beiden gemeinsam. Hier berühren sich Welten und man kann Jacques Loussier nicht dankbar genug dafür sein, daß er diese Verbindungen mit soviel Geschmack und technischer Brillanz vergegenwärtigt.
B: Du machst es dir zu leicht! Ich verliere keineswegs die Nerven, weil hier jemand aus erhabenen Meisterwerken schofle Jazzmusik macht. Mich ärgert das Wie. Mir ist das alles zu fad. Es klingt wie das Modern Jazz Quartet ohne Milt Jackson, und jeder weiß, wie das Modern Jazz Quartet ohne Milt Jackson klingt. Die Integration wird hier bis zur Blutarmut getrieben. Außerdem sollte man die Verbindung zwischen Jazz und Alter Musik nicht überschätzen. Das Trennende ist genauso deutlich wie das Gemeinsame; Joachim Ernst Berendt hat selbst im Gespräch darauf hingewiesen. Er meinte, es gäbe in der Alten Musik wie im Jazz Improvisation, aber die beiden anderen wichtigen Elemente des Jazz, der Swing und die Tonbildung, fehlten.
A: Dieses Argument ist ein Schlag ins Wasser. Bei einem Klavier-Trio kann von Tonbildung nicht die Rede sein. Und du willst leugnen, daß die Musik von Loussier swingt?
B: Zugegeben, die Musiker tun ihr bestes, um ihre Werke zum Swingen zu bringen. Meistens bleibt es aber dabei, und das, was guter Jazzmusik immer das künstlerische Gewicht gegeben hat, die Verwirklichung einer Individualität durch Improvisation, kommt zu kurz.
A: Aber die drei improvisieren doch.
B: Natürlich, aber die Bachschen Themen sind so scharf umrissen und vorgeprägt, daß die improvisierten Chorusse sich nie recht von der Substanz des thematischen Materials lösen. Sieh mal, auch in der Alten Musik haben die freieren Partien nie den Grad der Verwandlung erreicht, den man beim Spiel bedeutender Jazzmusiker so bewundert. Es blieb meist bei einer Kolorierung. Eine entscheidende Rolle spielte der Wunsch, Wiederholungen abwechslungsreicher zu gestalten. Die Eingriffe in die Struktur des Themas, wie ich dir gerade sagte, waren nie so tief wie beim Jazz. Und das kopiert nun Loussier. Er beläßt es auf weite Strecken dabei, die Thematik Bachs in die Umgangssprache des Jazz umzumünzen. Synkopierungen, trocken unterlegte Akkorde, Verteilung des Themas auf Klavier und Bass, das sind die Hauptmerkmale dieser Neuformungen.
A: Was willst du eigentlich? Das ist doch gerade das Faszinierende an dieser Musik, daß die Urgestalt Bachs und die jazzigen Partien so hervorragend aufeinander bezogen sind. Hier wird nicht nur witzig der Kontrast zwischen beiden Welten herausgearbeitet, hier geht es nicht nur darum, einen interessanten Gag zu servieren; arrangierte und improvisierte Partien entwachsen demselben musikalischen Zentrum. Du wirst nicht leugnen wollen, daß Loussier in seinen Chorussen wie ein richtiger Jazzmusiker spielt. Wenn immer noch die ursprünglichen Spielfiguren Bachs in Umrissen erkennbar bleiben, bin ich eher geneigt, das den Künstlern als diszipliniert und zuchtvoll, als Absicht ihrer Gestaltungsweise positiv anzurechnen.
B: Na ja, das eine steht jedenfalls fest! Bei dieser, ihrer dritten Platte haben sich die drei Musiker noch mehr vorgenommen als bei den ersten beiden. Diesmal unterziehen sie nicht nur kleinere Stücke mit Tanzcharakter ihrer Spezialbehandlung, sondern sie stürzen sich auf umfangreichere Werke wie das Italienische Konzert. Sicher, das alles ist sehr sorgfältig überlegt, denn gerade die konzertanten Möglichkeiten eines solchen Solostückes müssen dazu verleiten, hier mit einer Neugestaltung einzusetzen. Die Tempi sind sorgfältig gewählt. Immer wechselt sehr wirkungsvoll der alte klassische Aufbau ohne markant herausgestelltes Schlagzeug mit Ausbrüchen in den Swing ab.
Schön und gut, aber was soll das alles?
Für mich ist der Jazz als Kunst so bedeutsam, daß er solche Anleihen bei der klassischen Musik nicht nötig hat. Solche Musik ist etwas für Jazzfreunde mit schlechtem Gewissen, die sich dadurch ein Alibi verschaffen wollen, daß sie Jazz und Bach auf einmal lieben können. Dazu gibt ihnen Loussier die Möglichkeit. Play Bach hat Snobappeal.
A: Sei nicht so entsetzlich theoretisch und grundsätzlich. Hör‘ dir gefälligst die Platte erst einmal an.
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=