Antwort auf: bft#20

#10130229  | PERMALINK

brandstand3000

Registriert seit: 29.12.2016

Beiträge: 222

@vorgarten

nun zur kritik der kritik:
meinen geschmack hast du schon mal gut charakterisiert, der ist nämlich: MEHR IST MEHR.
ich mag gut produzierte musik, unter dem wort „überproduziert“ kann ich mir nichts vorstellen.
ich mag auch lo-fi, neofolk, minimal + spärlich-brüchig instrumentierte torchsongs, aber wenn ich auf die einsame insel müsste, bitte mit 80-köpfigem symphonie orchester, 30-köpfigem chor und einem dutzend mit allen wassern gewaschenen studiomusikern. und einer handvoll top-arrangeur*innen. ich wäre natürlich noch punk genug nicht mit ihnen zu reden, aber zu meinem coconut-sundowner müssten sie sich schon was ausgefuchstes einfallen lassen. (ups, habe gerade unbewusst meine perfekte vorstellung des afterlife entwickelt…)

und JAZZ ist hier sehr, sehr wenig. aber so wie ich das höre ist alles jazz-informiert, oder vieles jazz-farben.

ich hatte eigentlich erwartet, dass du das meiste kennst. um so mehr freut es mich, dich zum teil aufs glatteis geführt zu haben. ich habe zwar nur tracks zusammengehauen, die mir grade oder schon länger spaß machen, aber es haben sich einige themenblöcke und querverweise ergeben. (super-nerdy.)

#1

du hast alles perfekt beschrieben, aber dass das keine „aura“ habe ist vielleicht ansichtssache. ich liebe den song, den sänger und das arrangement. ich habe aus purer begeisterung sogar ein simples youtube video dazu gezimmert und darunter geschrieben „this song makes me happy. (don’t mind the video.)“
ich habe mich sehr gefreut, dass dir die macke mit dem ridebecken aufgefallen ist. es steigt ja nicht mal zum 2. refrain aus, sondern wirklich mitten in der strophe! völliger schwachsinn. ich erkläre mir das so, dass das schlagzeug zwar gespielt ist, aber danach zusammen gesamplet. jede menge overdubs. und das ride-sample war halt zufällig nicht länger. und die produzenten fanden das aber irgendwie interessant und haben es so gelassen. man kann das vielleicht „indie-informiert“ nennen. ein rest punk in der überproduziertheit. es ist ja auch irre aufwendeig arrangiert, aber nicht so doll eingespielt. da fehlen eben mein dutzend mit allen wassern gewaschene studiomusiker*innen. vielleicht ist die fehlende „aura“ auch dieser indie-unzulänglichkeit geschuldet, die ja auch den gesang definiert. hier wollen leute sehr viel mehr, als sie vermögen. mich rührt das. und ich kenne das. ist auch ’ne art aura.
dass man größere arbeiten über diesen song schreiben könnte, unterstreiche ich. ich hab ihn eben beim schreiben wieder 4 mal gehört und werde nicht satt. klar, kann man den effekt auch im trio erzielen. der sänger selbst hat hauptsächlich platten gemacht, auf denen er sich nur mit wurlitzer und halb-kaputtem drumcomputer begleitet. aber oft ist mehr eben mehr.
über den sänger haben wir uns auch schon unterhalten und ich weiß, dass du ihn nicht magst. er ist großer gary mcfarland fan, fährt ab und zu mit dem linienbus jeremy greenspan besuchen, und das bläserarrangement hat ein queer canadian geschrieben, bei dem ich mich gerade nicht erinnern kann, ob du ihn magst oder nicht. vielleicht so wie ich teils-teils.

#2

das ist meine absolute lieblings-big-band-nummer. die macht mir derartig gute laune. ich wäre sehr dankbar für hinweise auf ähnlich positive knallerdinger!
klar sind das angebersoli. dazu direkt was grundsätzliches: ich bin kein großer fan von soli. (ich weiß, damit bin ich hier absolut falsch.) improvisation finde ich ok und spannend, manchmal auch irre, neue dimensionen erschließend und den ganzen kram. aber was mich wirklich kriegt ist: KOMPOSITION! ARRANGEMENT! DISZIPLIN! die kriegt mich zum tanzen. wenn bei 1:20 die bläser-stabs ins sax-solo knallen, könnte ich schreien vor glück. das ist so die erinnerung, alter, du bist hier nicht alleine. und wenn du keine kohlen mehr hast für den zug, dann steig lieber aus. oder leg noch ne schippe drauf! oder komm zurück ins arrangement, was er dann ja auch bei 1:34 ansatzlos tut. aber mit eigenem sound. das macht nochmal zusätzlich druck im kessel. (er hätte sicher auch so noch ein paar kohlen gehabt, aber das arrangement geht vor. und 3:30 ist eine gute länge.)
also wenn soli, dann auch gerne angebersoli. und zwar im tighten korsett des arrangements. sowohl alt-sax als auch trump steigen derartig knackig ein! die trompete sagt sogar erst mal, hey, jetzt ich, und dann legt sie los. aber so was von. so muss das sein! oder darf zumindest!
außerdem mag ich die beiden soli, weil ich sie als melodisch einfach, aber wahnsinnig rhythmisch empfinde. alle arbeiten am schub. hier fliegt die lok!
und dass die klarinette so vorn im bläsersatz ist, war mir noch nicht aufgefallen. das macht den sound so sophisticated. stimmt.
geschrieben ist das arrangement übrigens für den schlagzeuger und seine spezielle art fill-ins zu spielen.

du erwähnst phil woods: den beginne ich gerade zu hören. wer weist mir den weg zu ein paar essentiellen aufnahmen?

#3

tatsächlich ist das nicht vom besagten arrangeur. mit allem anderen hast du recht. die version von roland kirk ist mir nicht präsent, muss ich mir gleich mal anhören. (oh ja, die ist super. das ein-mann-bläser-arrangement. und „domino“ korrekt. )
der vorteil des ironischen vortrags liegt im textverständnis. man könnte diese lobhudelei an einen super typen ja auch 1:1 verstehen. tatsächlich singt sie aber ein kleiner aufsteiger vor der entscheidenden konfrontation mit dem board of directors zu seinem spiegelbild! tolle szene. und ich mag den griechischen chor der übrigen aufsteiger. showgeschäft & kapitalismus. insofern war die rolle bei „mad men“ folgerichtig und abschließend.
und deine frage ist auch richtig: ist das jazz?

#4

das kleine frank loesser thema hast du erkannt. toller songschreiber. und die versionen von wilson und merrill sind natürlich cooler und besser. aber habe ich erwähnt, dass ich gute arrangements mag? das hier ist auf platz 2 meiner arrangementliste of all time. (viele tolle arrangements kenne ich wahrscheinlich nicht, bzw. sie sind auf der liste anderer absolut berechtigt, aber eben nicht auf meiner. gil evans fehlt z.b. in diesem bft.) wie lässig verhalten es anfängt und sich dann DERARTIG hochschraubt! (mehr ist mehr.)
die sängerin lässt in sachen authentizität etc. wahrscheinlich einiges vermissen, aber ihr absoluter wille zur stimmakrobatischen perfektion hat mich schon oft zu tränen gerührt. (ein freund hat mir autogrammkarten von ihr aus den 60ern mitgebracht, die seine mutter sich damals hatte schicken lassen. sehr schön.)
platz 1 meiner liste ist übrigens: nelson riddle’s arrangement für „i’ve got you under my skin“.

hab ich noch auf einer LP von meiner mutter. (und ein foto von ihr aus ihrer aupair-zeit in london, auf dem sie vor dem jaguar e-type von anthony perkins steht. random detail.)

#5

toll beschrieben. wirklich extrem hüftsteif. aber der rickenbacker-bass-sound ist einfach killer. und irgendwie wird’s dann doch tänzerisch. aber natürlich ziemlich verkniffen. wie der sänger, bassist + mastermind halt so ist. aber toll, so eine breitwandproduktion mit dem bass in der hauptrolle aufzuziehen. über seine top-uncoole band gibt es auf youtube eine 3 stündige doku, die ist das soapigste und unterhaltsamste, was ich je an band-doku gesehen habe. (die über die eagles und genesis sind in der beziehung auch ziemlich gut.)
den schlagzeuger würde ich schon dem jazz zurechnen. ein könner, der auch nochmal im bft auftaucht. irgendwie ist er schon locker. aber er bevorzugt es gerade. (krumme takte, gerade gespielt, meine ich.) und er ist sehr ehrgeizig entnehme ich der oben genannten doku. die uncoole band des basschefs hatte er für eine coolere verlassen, durfte beim soloprojekt aber trotzdem mitspielen.
über den/die saxophonisten müsste ich jetzt selbst erst mal was rauskriegen. ich gebe dir recht, die sax-geschichten sind eigenartig unerwartet in dem kontext und deshalb toll. (wie z.b. auch das saxophon solo in „breaking formation“ von VON SPAR.

übrigens auch ein super sänger bei dem stück. die einzige platte, auf der er nicht schief singt.)
was du nicht erwähnst, ist das e-piano, das das ganze stück stoisch zusammenhält. DISZIPLIN!

#6

das einzige MODERNE JAZZ stück in dem ganzen mix. natürlich über dich kennengelernt. und super beschrieben.
die computergenerierten schattenklänge waren mir im ganzen tohuwabohu noch nie aufgefallen. hab sie einfach als hall des spektralen ganzen akzeptiert (was sie, nachträglich generiert und dazugemischt, vielleicht auch sind). das ist das tolle für mich an den bft’s: das unbekannte im geliebten entdecken! danke!
aber so richtig steige ich erst bei 4:30 ein, wenn die coverversion los geht. und wenn dann noch die tuba den bass doppelt und das saxophon so richtig loslegt (voll angeberisch), dann, ja dann bin ich wirklich dabei. und dann die bläser-stabs. genau so! eben „adventures in the land of music“. „adventure“ wie in „action-adventure“.
außerdem ist das stück hier dabei, weil ich es mit dir und gypsy beim jazz fest berlin live gehört habe, wo es nochmal einen zacken besser gekickt hat. die version hätte ich gerne auf platte. (mit extra geräusch, wenn der vibraphonist die stäbe austauscht.)

#7

genau. die pseudo-swing hi-hat war meine jazz-ansatzpunkt. und die pseudo-gene-krupa-snare. aber auch der bass am anfang (303 oder was auch immer) swingt schon wie hölle. der rest bestätigt nur noch. die bassdrum ist dann techno pur. und dann geht’s mit den synth-strings – zack – auf die stadtautobahn. 180. jaguar e-type. (naja, vielleicht auch golf gti. aber mit breiten schlappen.) die aussage soll sein: techno swingt. aber leider detroit mehr als berlin.
und klar geht’s um die details. arrangement ist das organisieren von details. überschüssig ist hier sowieso nichts! :)
und das ist nicht eine maschine, sondern ein maschinen-orchester organisiert vom midi-arranger!

#8

bisschen mathe-rock darf auch mal sein.
die posaune ist nix für dich? vielleicht wegen der rockband dahinter?
das e-piano spielt ein bekannter mann, dessen gesang mich immer an thundercat erinnert. und sein solo kriegt mich in seiner abgeschmackten lounge-igkeit. so richtig zufrieden werde ich dann bei 6:16 wenn die bläserbegleitung einsetzt, die posaune immer auf dem gleichen ton, die trompete aufsteigend, bis dann die posaune mitwechselt. tolles arrangement. das ist übrigens live eingespielt und, ich denke mal, als crowdpleaser gedacht. dann die mini-soli der percussionisten im neue-musik-kontext. „notenblätter“ ist korrekt. die bandleader verlangen absolute disziplin!
den schlagzeuger am anfang kennen wir schon, ein anderer taucht noch mal auf.

#9

blaxploitation passt fast. krimi-musik! der bass könnte von meinem freund ralph sein, der macht auch so sachen. der hier ist nur knapp 50 jahre früher dran. hammer arrangement von einem großen seines fachs.
außerdem nichts gegen krumme takte: dieser 7/4 geht ab. und was die musik will? die will rocken. betrachte mich als gerockt.

#10

große arrangements haben immer große geste! das geht so ab, mehr abgehen wäre nur noch weißes rauschen. alle spielen und singen am rande ihrer körperlichen fähigkeiten. wobei bei dieser live-aufnahme die ladies auch noch eine strenge choreographie erfüllen müssen. absolute dynamite, wohl wahr.
und wie du richtig merkst, ist das nicht motown. das ist PHILADELPHIA! (aber live in london.)
der song ist von einem meiner lieblings songwriter anlässlich einer mondmission geschrieben, im original für thelma houston.

und meine unauthentische lieblingssängerin von oben hat auch eine tolle live aufnahme davon gemacht, etwas abgehangener, etwas eleganter. auch in london.

#11
genau. hier kommt das große ausatmen, wie du immer so schön sagst. war für mich auch anstrengend das ganze. jetzt braucht man puren luxus und ewig zeit im sündhaften teuren studio. und den text finde ich super, obwohl ich wenig verstehe. ich fühle mich nämlich auch auf „gospel-time“, habe aber keine ahnung was das meint.
hauptanziehung hier ist für mich ebenfalls der sound, bei dem alles so herrlich weich ineinander schwummert. zur zeit erfreue mich immer an der dezent gurgelnden orgel im hintergrund.
erlaubnis zum jazz bekam die nummer für mich auch durch den trompeter. was muss ich über den wissen?

#12

so war es auch gemeint: kurz vor dem auseinander gehen noch ein bisschen CLASSIC JAZZ. natürlich mit verbindungen zu meinen hauptthemen. ihre bearbeitung des materials finde ich fantastisch (genau, die verzahnung ist geil! fast fugen-haft. dabei klezmer.), die soli langweilen mich zu tode. ich bin jedes mal froh, wenn das thema wieder kommt. 3:30 wären besser gewesen. oder vielleicht ein 2. take. wollte mir schon zum angenehmeren hören eine gekürzte version erstellen, aber bei dieser improvisiererei kommt man so schwer mit der schere dazwischen.
ich tippe auf eine schnell rausgehauene platte, um am erfolg des musicals dranzubleiben. trotzdem: ich liebe die aufnahme und höre sie oft.
und das piano klingt wirklich scheußlich. gottseidank ist das schlagzeug vorn und hält den laden in schwung. ich höre einiges genöhle im hintergrund und dachte es sei der bandleader. wo stöhnt der drummer? jetzt weiß ich, was du meinst, und du hast recht, es kann keiner der bläser sein. aber ich hör das ständig im hintergrund. vielleicht der drummer, vielleicht singt auch der pianist mit. neigte der zum mitsingen? wir werden sehen.

#13
für den harmonischen abschluss noch ein kontroverses stück, dass wahrscheinlich alle kennen. so zum ärgern. was du schreibst ist alles richtig. ich denke elvin + art stehen hier zu gleichen teilen pate. an dem saxophon ist so was von gar nichts neu. ich höre es trotzdem gerne. schlag mich. bitte hart.
die islam-pointe finde ich die richtige zur richtigen zeit. und mit meiner wahnsinnig cleveren interpretation des gesamtkonzepts langweile ich euch ein anderes mal.

zuletzt geändert von brandstand3000

--