Antwort auf: Jahresrückblick 2016

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vorgarten

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@nail75

ich habe ein bisschen das gefühl, dass du diesmal zur abwechslung einen stein in mein ruhiges gewässer werfen wolltest, aber so ruhig ist dieses gewässer gar nicht. ich weiß auch, dass der einzige effiziente weg, den ich persönlich habe (sofern ich nicht in gremien sitze, die stipendien verteilen), heutige jazzmusiker_innen zu unterstützen, ist, ihre livekonzerte zu besuchen. (und vielleicht noch, sich darüber auszutauschen, insofern würde ich gerne mehr über deine live-erlebnisse lesen.) bei einigen leuten, die mich interessieren, müsste ich aufgrund merkwürdiger besteuerungspraxen in nachbarländer fahren, um sie sehen zu können – oder große festivals besuchen, was ich dieses jahr zumindest in einem fall gemacht habe. ich kritisiere mich aber ja selbst dafür, das angebot in meiner stadt nicht genug wahrzunehmen, in der es ein historisches zusammenwachsen von zwei szenen gegeben hat, in die internationale musiker ziehen, weil sie sich hier noch die mieten leisten können, und ebenfalls junge deutsche musiker, wenn sie eine relevante szene mit austausch und auftrittsorten suchen.

ansonsten unterscheide ich (heute) natürlich nicht zwischen jazz mit marktwirtschaftlicher relevanz und solchem ohne. mich interessieren musikalische aussagen, die angesichts der marktwirtschaftlichen irrelevanz gemacht und dokumentiert werden. deine logik von kanon, qualitätspyramide und materiellem reichtum finde ich reichlich naiv, wünsche aber viel spaß mit den klassikeralben von kenny g. und david sanborn, die mit jazz reich geworden sind, deshalb wohl zu den ganz außergewöhnlichen jazzern gehören und sich durch die qualität ihrer musik im oberen pyramidenstockwerk einrichten konnten. und sicherlich war auch lou donaldson der sehr viel bessere altsaxophonist als eric kloss, männliche musiker grundsätzlich besser als musikerinnen und weiße besser als nicht ganz so weiße.

natürlich sind sun ra und alice coltrane 2017 halbwegs kanonisiert. aber als sie ihre musik produzierten, waren sie es nicht. impulse hat coltrane zwar aufgenommen, das aber von liner notes begleiten lassen, die nahegelgt haben, sie als musikerin nicht ernst zu nehmen. sun ra wurde zwar in den 70ern auf impulse wiederveröffentlicht, aber 1965 fehlten ausgerechnet seine aufnahmen auf NEW WAVE IN JAZZ, war slug’s der erste jazzclub, der das arkestra (unter ausnahmenbedingungen) buchte. das finde ich nicht per se spannend, aber als kontext schon wichtig mitzuhören, wenn man eine heute auf pitchfork abgefeierte singles-collection mit arkestramaterial hört, das im wesentlichen vor den 1970ern entstanden ist.

solltest du wirklich mich gemeint haben mit der warnung, keinen grundfehler zu begehen und die nische in der nische zu suchen, bevor mann die klassiker kennt, kann ich dich beruhigen: zumindest aus den 1960ern kenne ich wohl alle klassiker ziemlich gut (nur darüber schreiben fände ich jetzt nicht so spannend). und letztlich ist das, was ich suche, ja meine sache.

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