Antwort auf: 2016: Jazzgigs, -konzerte & -festivals

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gypsy-tail-wind
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Danke für die Ergänzungen – ich wurde gegen Ende etwas nachlässig und Du bringst ein paar Dinge, die tatsächlich unbedingt erwähnenswert sind: das Sopranino-Solo von Ravi Coltrane, der abstrakte Blues im letzten Drittel oder so von Smith/Hawkins, das feine Kornett von Ron Miles.

Und klar floss da vieles rein, was wir schon besprachen, ich habe wohl auch den einen oder anderen Gedanken von Dir übernommen, aber da war soviel Musik, so viele Eindrücke, dass sich das nach einer Woche schon schwer auseinanderhalten lässt. Das soll keine Kritik daran sein, im Gegenteil, wir waren uns ja auch darin einig, dass es eine tolle Erfahrung war, eine solche „Leistungsschau“, ein Schaulaufen des aktuellen Jazz in fast seiner ganzen Breite zu erleben (es fehlte am Avantgarde-Rand doch das eine oder andere, finde ich, aber im Vergleich mit dem, was das Jazzfest in den letzten 15 Jahren oder so bot, war das schon schwer in Ordnung, aber es ist ja recht klar, welche Acts ich weggelassen hätte, u.a. die Publikumslieblinge Redman/Mehldau, bzw. ich hätte Mehldau halt einfach solo gebucht … übrigens habe ich wegen meiner klaren Worte zu Niescier ja schon Haue einstecken müssen, ich werde mir den Mitschnitt noch einmal anhören, irgendwann, aber mit den Bildern im Kopf, dem in der Tat fast kommandierten Zusammenstehen am Schluss, wird es mir schwerfallen, da offen für eine andere Meinung zu sein – Weber hat übrigens in meiner Erinnerung kein einziges Solo gespielt. Dem war gewiss nicht so, aber da kam halt einfach wirklich gar nichts, als Gedankenexperiment würd ich die vier ohne Weber mal ein Programm mit Dolphy-, Ornette-, Ken McIntyre-, Cherry-, Mingus-Stücken spielen lassen und schauen, ob das nicht besser käme … fände es auch interessant, Alessi mal in einem solchen, wie soll ich sagen, etwas weniger polierten Rahmen zu hören – im besten Fall wäre das Material natürlich eigenes, aber das scheint ja nicht so gut zu klappen).

Bei DeJohnette hatten wir ja überhaupt das Gefühl, dass da so ziemlich planlos drauflosgespielt wurde, in der Erwartung dessen, was halt kommen würde, bzw. im Wissen darauf, dass etwas kommen würde. Das war ja auch immer wieder der Fall, und tatsächlich hat mir dieses Konzert dann doch besser gefallen als Dir, und dabei war es das, wo Du mich danach etwas überrascht gefragt hattest, ob es mir denn gefallen habe – you bet!

Bei Risser fand ich ordentlich viel Improvisation dabei, vielleicht nicht im üblichen Jazz-Sinn („Solo“, obwohl die gab es ja durchaus auch, von allen Musikern wenigstens eines, zu Beginn z.B. der tolle Trompeter, danach die Fagottistin und die Flötistin), aber es passierte, so dünkte mich, im vorgegebenen Rahmen doch einiges Spontanes, z.B. in der langen freien Passage von Desprez an der elektrischen Gitarre mit Effekten, aber auch vom Bass oder vom höchst unkonventionelle Schlagzeug kamen immer wieder überraschende Impulse. Es war aber stark Gruppenmusik, doch als solche finde ich deutlich agiler und aktiver als jene von Mette Henriette, die ja teils schon sehr statisch war und manchmal doch an Filmmusik denken liess.

Was Lehman betrifft, ja, das war definitiv deutlich druckvoller als auf CD. Auf CD rechne ich das, wegen der obigen Bemerkung, zu den „etwas polierten“ Sachen – geht wohl irgendwie im Studio bei dieser Musik gar nicht anders, da sind alle permanent auf heissen Kohlen und mit den Zehenspitzen am Boden. Live müssen sie dann halt mal loslassen und das ging auch hervorragend, auch die Bühnenpräsenz (oder -absenz) der Musiker gefiel mir gut, wie sie irgendwann verschwanden, Coleman Lehman am Ende unbegleitet spielte, während Dingman sein Vibraphon umbaute (um auch noch für 10 Sekunden zu verschwinden, bevor alle wieder ihre Plätze einnahmen). Das hatte in echt etwas sehr viel Organischeres als auf CD, man sieht halt, dass diese unfassbare Musik tatsächlich direkt vor der eigenen Nase Form annimmt. Drummer Cody Brown vergass ich auch noch zu erwähnen, denn für Tyshawn Sorey einzuspringen ist ja an sich nichts, was einem Drummer gut bekommen kann. Das klappte aber hervorragend, Brown spielte präzise, unglaublich differenziert, oft fast etwas leise, aber dennoch äusserst druckvoll. Das Wechselspiel zwischen Ensemble und Solo fand ich übrigens ganz besonders reizvoll, auch wenn es schon stimmt, die Soli sind eigentlich auch nur eine Facette mehr im Ganzen, nicht wichtiger als die Verzahnungen und Verschiebungen zwischen Tuba, Bass und Drums oder die schwebenden Sphärenklänge vom Vibraphon. (Wird es mal ein Line-Up mit Ondes martenot geben? Kaum vorstellbar, aber geil wär’s schon.) Dennoch fand ich gerade die Soli grossteils hervorragend, nicht nur jene von Lehman selbst sondern auch die von Finlayson, Shim, Albright … die gingen auch jeden Moment aufs Ganze, aber es hatte im Rahmen dieser ohnehin enorm verdichteten Musik nie den verheerenden Effekt wie es bei Redman oder Niescier der Fall war.

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