Startseite › Foren › Das Radio-Forum › StoneFM › 08.10.2016: Last Minute Special 6 | Damaged Goods › Antwort auf: 08.10.2016: Last Minute Special 6 | Damaged Goods
Die Ärzte
Wenn es Abend wird
Die Bestie in Menschengestalt
1993

Michael Peter Hehl: Der Deutschrock tendiert ja stark dazu, sich selbst unfassbar ernst zu nehmen, und zwar tragischer Weise insbesondere hinsichtlich des vermeintlichen politischen Auftrags von Rock. Dabei war schon das erste Frankfurter Rock gegen Rechts-Festival im Jahr 1979, das die Politisierung von Rock in der BRD markiert, ganz klar eine durch und durch sozialdemokratische Veranstaltung, der eine grüne Umweltplakette und ein Gewerkschafterschnauzbart angeklebt wurden. Anders als Künstler wie Udo Lindenberg oder Die Toten Hosen haben Die Ärzte da auch nie mitgemacht.
Jan-Niklas Jäger: Was sicherlich auch ästhetische Gründe hat.
MPH: Auf jeden Fall. Die Ärzte stehen viel eher für Camouflage und Ironie. In einen Popkulturbetrieb, in dem Leute wie Dieter Gorny oder Heinz Rudolf Kunze das Sagen haben, passen sie ästhetisch eigentlich nicht rein. Oder kannst du dir Farin Urlaub auf einer Bühne mit Pe Werner und Klaus Lage vorstellen, wie er irgendeine Kerze anzündet oder eine Friedensbotschaft vorliest?
JNJ: Nein, und das zeigt auch ganz schön auf, warum Die Ärzte von allen kommerziell erfolgreichen deutschen Bands dem Punk am nächsten stehen: Sie kümmern sich einen Scheiß um derartige Gepflogenheiten der hiesigen Kulturlandschaft. Dieser mangelnde Respekt ermöglicht es ihnen dann auch, mit sowas ihre Späße zu treiben.
MPH: Bei „Schrei nach Liebe“ hat damals übrigens kaum einer der Punks aus meinem Umfeld gesagt, das sei jetzt aber Bravo-Punk, dazu tanze man keinen Pogo, obwohl der Song natürlich auch gut kalkulierte Formatradio-Kompatibilität besitzt.
JNJ: Er braucht diese Kompatibilität ja sogar. Das ist ein Song, der den jungen Naziskin unter denselben Vorzeichen betrachtet wie jeden anderen Bravo-lesenden Jugendlichen auch, und ihn von seiner rechten Gesinnung trennt, um ihn davon losgelöst als Versagertypen zu entlarven. Ideologiekritik ist das nicht. Mit „Schrei nach Liebe“ Rechtsradikalismus erklären zu wollen, wäre daher zu kurz gedacht, aber der Song nähert sich dem Thema sehr effektiv aus einer popkulturellen Perspektive. Die Zeile „Zwischen Störkraft und den Onkelz steht ’ne Kuschelrock-LP“ illustriert das sehr schön. […] „Wenn es Abend wird“ […] ist [dann] sowas wie ein Komplementärstück zu »Schrei nach Liebe«, weil es den Blick von den Naziskins auf die gesellschaftliche Mitte lenkt. Schauort dafür ist ein Dorf im tiefsten Süddeutschland. Zunächst wird es romantisiert, aber dann erfahren wir mehr über die Menschen dort: Der Polizist „fährt auch, wenn er besoffen ist“, die Lehrerin fährt in den Ferien „nach Schwerin und da zündet sie Asylantenheime an“ und was der Pfarrer mit den „braven Buam“ vor der Kommunion macht, kann man sich jetzt denken. Der Song ist eine beißende Satire über das provinzielle Kleinbürgertum, die mit jeder Strophe krasser wird. Die Ärzte wählen hierfür aber nicht die Form eines anklagenden Rocksongs, sondern legen den Finger viel tiefer in die Wunde, indem sie ein Volksmusikstück daraus machen, dessen Erzähler den Figuren wohlgesonnen ist.
--