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Am Beispiel Ulrike Meinhof – wie Geschichte umgedeutet wird

von Jutta Ditfurth

In den sechs Jahren, in denen ich für die Biografie von Ulrike Meinhof recherchierte, fand ich die meisten Akten und Dokumente, die ihr Leben betrafen unberührt wie frisch gefallener Schnee. Keine der Autor*innen über die RAF und über Ulrike Meinhof, hatte sich je die Mühe gemacht, ihre vollständige Lebensgeschichte (1934-1976) zur erforschen. Stefan Aust beispielsweise musste sich später etwas ausdenken, weshalb er unerwähnt gelassen hatte, dass die Meinhofs und auch Ulrike Meinhofs Pflegemutter Renate Riemeck Nazis und keine antifaschistischen Christ*innen gewesen waren. In nicht einem einzigen Archiv habe ich eine Arbeitsspur von ihm oder seinen Zuträger*innen gefunden.

Nachdem meine Meinhof-Biografie 2007 erschienen war, musste Aust sein hundesmiserables, vor Fehler strotzendes aber sehr erfolgreiches Baader-Meinhof-Buch überarbeiten. Wie rechtfertigte er also, dass er „übersehen“ hatte, dass Ulrike Meinhofs Vater ein faschistischer Kunsthistoriker gewesen war? Aust: Das habe der Autorin Ditfurth die Schwester Ulrike Meinhofs erzählt. Wie Frauen eben so sind, die recherchieren nicht, die erzählen sich was beim Tee. Aber von der NS-Vergangenheit ihres Vaters hatte Wienke Zitzlaff, Ulrike Meinhofs Schwester, wie sie mir sagte, überhaupt erst durch meine Recherchen erfahren.

Je älter ich werde, desto aufmerksamer beobachte ich, wie Geschichte umgedeutet wird. Wie die interessengeleitete Hinzufügung kleiner Tatsachenfälschungen, die manipulative Vernachlässigung historischer Tatsachen, die Mystifikation von Motiven und Weltanschauung die Geschichte linker Opposition im Land verfälscht. Eines der Muster ist, wie Deutsche, die über die eigene NS-Geschichte logen, Ulrike Meinhof benutzten, um einen Scheinwerfer auf sich selbst zu richten. „Hätte Ulrike Meinhof mehr mit mir getanzt, hätte sie nie zu Bomben gegriffen“, behauptete Günter Grass.

Das Legenden-Konzentrat der üblichen biografische Texte über Ulrike Meinhof geht ungefähr so: Sie stammte aus einer antifaschistischen, christlichen Familie, sei von einer fortschrittlichen Pflegemutter erzogen worden, beruflich erfolgreich gewesen und habe, bloß weil ihr Ehemann sie betrog, zu Sprengstoff gegriffen. Verwirrt und planlos sei sie bei der Befreiung von Andreas Baader (Mai 1970) aus dem Fenster in den Untergrund gesprungen. Die Metapher ist zu suggestiv, um sie den Fakten zu opfern. Bedrängt und verführt von Andreas Baader zog sie dann in den bewaffneten Kampf, um am Ende nicht den inhumanen Haftbedingungen (vielleicht), sondern dem Streit mit Gudrun Ensslin zum Opfer zu fallen.

Grundlage des Mythos sind vier vergiftete Quellen. Erstens diente Meinhofs Pflegemutter Renate Riemeck (1920 bis 2003) einigen Autor*innen als bedeutende Quelle. Niemand fand heraus, – weil niemand suchte –, dass Riemeck schon bei der eigenen Biografie gelogen und z.B. ihre Entnazifizierungsfragebögen gefälscht hatte. Die Historikerin war Nazi gewesen und hatte als rechte Hand des faschistischen Historikers Prof. Johann von Leers Karriere an der „SS-Universität“ Jena gemacht. Sie leugnete ihre Nazi-Vergangenheit bis zu ihrem Tod und behauptete, Juden gerettet zu haben. Auch Alice Schwarzer glaubte ihr unbesehen alles.

Zweitens Klaus Rainer Röhl (geboren 1928), sechs Jahre lang Meinhofs Ehemann. Röhls Nazi-Familie kam aus Danzig, nach dem Krieg kam er – wie Stefan Aust – aus Stade nach Hamburg. Röhl dichtete seinem Nazi-Vater eine widerständige Lebensgeschichte an und wurde in den 1950ern „nationaler Kommunist“. 1993 promovierte er beim rechtskonservativen Historiker Ernst Nolte („Historikerstreit“) und schloss sich dann der „Stahlhelm-Fraktion“ der FDP an. Als Ulrike Meinhof auf der Flucht war (1970 bis 1972) schlug Röhl dem BKA vor, seiner Exfrau eine Falle zu stellen. Sobald sie in Isolationshaft saß, verkaufte Röhl ihre Texte und schrieb einen obszönen „Enthüllungsroman“. Mein Hinweis, dass Ulrike Meinhofs Sorge um ihre Zwillingstöchter begründet waren und ihr Versuch, sie vor dem pädophilen Ex-Ehemann in Sicherheit zu bringen, nur allzu berechtigt, hat sich inzwischen umfassend bestätigt. Stefan Aust, der gern die Heldengeschichte erzählte, wie er die beiden Mädchen der Mutter entzog und ausgerechnet diesem Vater zuführte, verlor darüber kein selbstkritisches Wort.

Stefan Aust, der ehemalige Chefredakteur des Spiegel (geboren 1946), ist die dritte vergiftete Quelle, aus der viele Abschreiber*innen so gern schöpfen. Er hat nicht umfänglich selbst recherchiert, sondern sich vor allem, was das Leben von Ulrike Meinhof angeht, auf eigene Vorurteile, fragwürdige Zeug*innen wie Röhl, Riemeck, Aussagen weniger Ex-RAF-Mitglieder sowie auf Akten des BKA verlassen. Als 20-jähriger Layouter von konkret hatte Aust die 12 Jahre ältere prominente Kolumnistin Ulrike Meinhof bewundert und konkret verlassen, als Meinhof mit der Zeitschrift brach. Austs Buch „Der Baader Meinhof Komplex“ (1985 ff.) wurde Grundlage des gleichnamigen Actionfilms (2008). Ständiger Zeitzeuge Austs war sein alter konkret-Chef Röhl, den Aust, wie er stolz erzählte, seit der Arbeit am Film duzt.

Die vierte giftige Quelle ist das Bundeskriminalamt (BKA). Die interessengeleiteten Legenden von Riemeck und Röhl über Biografie und Persönlichkeit Meinhofs flossen in das Zerrbild ein, das Staat und Justiz von ihr schufen und welches die Medien verbreiteten. Aust wiederum bediente sich auch der BKA-Akten. So wird herrschende Meinung konstruiert und verfestigt.

Während meiner sechsjährigen Arbeit an Ulrike Meinhofs Biografie fand ich keine Spuren anderer Autor*innen in Dutzenden von Archiven im In- und Ausland. Dennoch glorifizierten diese Autor*innen zum Beispiel die Meinhofsche Großfamilie als einen Hort christlichen NS-Widerstandes. Aber die Meinhofs waren Antisemit*innen, Vorkämpfer der NS-Bewegung, sie waren Bewunderer Hitlers und einige waren Kriegsverbrecher. Aber der Weg zum Beispiel ins Berlin Document Center, der Blick in NSDAP-, SS- und Reichschiedsgerichtsakten, die Reise zu den Stadt- und Landesarchiven an den Wohnorten der Meinhofs, waren nicht nur Alois Prinz und Stefan Aust offensichtlich zu weit.

Ulrike Meinhof wurde am 7. Oktober 1934 in Oldenburg geboren. Ihr Vater, der völkische Kunsthistoriker Dr. Werner Meinhof, NSDAP-Mitglied, beteiligt an der Kampagne „Entartete Kunst“, errichtete seine Karriere auf der Vertreibung seiner „jüdisch versippten“ Vorgängerin Dr. Johanna Hofmann-Stirnemann und der Vernichtung der Werke „entarteter“ Künstler*innen. Dass er verfolgten Künstler*innen geholfen habe, ist nachweislich frei erfunden. Auch Werner Meinhofs Personalakten und Briefe fand ich vollkommen unberührt.

Ulrike Meinhof, die angeblich bis ins Studium betende brave, Geige spielende Christin mit Sophie-Scholl-Frisur – so das beliebte Klischee –, war tatsächlich eine Art Beatnik, trug Hosen, rauchte auf der Straße, las existentialistische Philosophen und liebte moderne Kunst. Auch von autoritären alten Nazilehrern verlangte sie Respekt und flog deshalb beinahe vom Oldenburger Gymnasium. Ulrike las, tanzte, spielte Schlagzeug in einer Jazz-Combo und fühlte sich politisch in jungen Jahren dem linken Flügel der SPD nahe. Sie liebte den jungen Künstler Thomas Lenk und dann die gleichaltrige Maria. Renate Riemeck, der es gelang, sich eine neue politische Karriere aufzubauen, untersagte beide Liebesbeziehungen und drohte der mittellosen Vollwaise Ulrike, sie auf die Straße zu werfen (Weilburg 1952 bis 1955). Das hätte bedeutet, dass sie in eines der fürchterlichen deutschen Heime gekommen wäre, in dem über Jahrzehnte so viele Kinder und Jugendliche gequält, geprügelt, sexuell missbraucht und gebrochen worden sind.

Mitten im Kalten Krieg wurde die Studentin Ulrike Meinhof – inspiriert von Marx, vom Kampf gegen die Wiederbewaffnung und vom KPD-Verbot –, im Widerstand gegen Atomwaffen politisch aktiv (Marburg 1955). Sie gründete die erste Anti-Atom-Gruppe und organisierte eine über die Grenzen der Münsters hinaus wirkungsvolle Kundgebung (Münster 1958). Damit kam die 24-Jährige der SPD in die Quere. Die Partei war auf dem Weg nach Bad Godesberg, um endlich regierungsfähig zu werden und dafür Kapitalismus und Nato zuzustimmen. Bis in die „Baracke“ in Bonn (SPD-Bundesgeschäftsstelle) reichten die Intrigen gegen die junge Frau. Enttäuscht von der SPD und beeindruckt von den Lebensgeschichten deutscher Kommunist*innen, die KZs überlebt hatten und nun erneut verfolgt wurden, trat Ulrike Meinhof im Herbst 1958 in die illegale KPD ein.

Als Ulrike Meinhof und ihre Freunde den Studentischen Anti-Atom-Kongress in Westberlin aus der Bevormundung der SPD-Führung um Helmut Schmidt befreiten und die Forderung durchsetzten, Gespräche mit der DDR zu führen, ging eine Pressekampagne los, die der späteren Springerhetze gegen die APO von 1967/68 in nichts nachstand (Januar 1959). Die SPD jagte Ulrike Meinhof aus dem SDS (im Mai 1959 war der noch Studentenverband der SPD).

Die KPD überzeugte sie 1959, Redakteurin von konkret in Hamburg zu werden. 1961 wurde Meinhof Chefredakteurin. Sie schrieb ab 1961 über die Notwendigkeit einer „neuen Linken“. 1964 brach sie mit der gegenüber konkret dogmatisch gewordenen KPD.

Als sich Ulrike Meinhof 1967 der APO anschloss, mit Rudi Dutschke anfreundete und nach Westberlin zog, war sie 33 Jahre alt, eine prominente politische Publizistin, Dozentin, alleinerziehende Mutter von sechsjährigen Zwillingen. Sie war seit Anfang der 1960er bekannt für ihre großartigen Reportagen über NS-Prozesse, Heimkinder, Industriearbeiterinnen und „Gastarbeiter“. Sie war 1964 „die erste Person in der Bundesrepublik, die aufrichtig und ernsthaft wünschte, über meine Erlebnisse im Warschauer Ghetto informiert zu werden“, schreibt Marcel Reich-Ranicki in seiner Autobiografie.

Die Lage in Westberlin war so bedrohlich, dass Ulrike Meinhof die DDR um Bauhelme zum Schutz der Köpfe der Westberliner Linken bat. Eine von Angehörigen früherer SS-Divisionen durchtränkte Westberliner Polizei ging, unter dem Beifall eines Teils der Westberliner Öffentlichkeit und angefeuert von den Springermedien, brutal gegen die neue Linke vor, als sei der Krieg gegen „Partisanen“ und „Rote“ doch noch zu gewinnen. In Portugal, Spanien und Griechenland herrschten faschistische Diktaturen, mit denen Nato und Bundesrepublik paktierten. Ein Teil der neuen Linken befürchtete, dass sich der Faschismus von Südeuropa nach Deutschland ausbreiten könnte.

Meinhof verlor durch Röhl ihren Einfluss auf konkret. Ihre Arbeit als Journalistik-Dozentin an der FU wurde von der CDU attackiert und sie wurde als Linke öffentlich in Massenmedien angegriffen. Ihr Fernsehspiel „Bambule“ wurde ihr aus der Hand genommen. Ihr Freund Rudi Dutschke wurde Opfer eines Attentats. Die APO zerbrach, beschleunigt durch den Überfall der Warschauer Paktstaaten auf den Prager Frühling, mit dem Ulrike Meinhof sympathisierte. Der Krieg in Vietnam wütete immer noch (1968/69).

Ulrike Meinhof sah sich in einer Sackgasse, sie diskutierte mit Freunden über den bewaffneten Kampf. Die BRD schien ihr in einem vorrevolutionären Zustand, den eine militante „Avantgarde“, die RAF, zuzuspitzen hatte. Anfang 1970 beschaffte sie Geld für Waffen. Sie brachte ihre Kinder unter und steckte ihr gesamtes Vermögen, einen Pfandbrief über 40.000 Mark, in ihre Handtasche, als sie sich aufmachte, um Andreas Baader zu befreien. Das Trio Bernd Eichinger (Produzent und Drehbuch), Uli Edel (Regisseur) und Stefan Aust (Storylieferant) schuf den miserablen, antiaufklärerischen Film „Der Baader Meinhof Komplex“. Sie prahlen mit historischer Genauigkeit und behaupten, sie könnten jeden Einschusswinkel belegen.

Aber jede einzelne Filmszene über Ulrike Meinhof ist unwahr.

Zeitgenoss*innen erinnern sich an Meinhof, die selbstbewusst, mit Argumenten und Charme, auf Empfängen oder am Strand von Sylt gegen den Vietnamkrieg und die Nato agitierte. – Im Film sagt Röhl auf einer Party: „Alle mal herhören! Meine Starkolumnistin und kluges Eheweib, hat einen offenen Brief …“ – Martina Gedeck alias Ulrike Meinhof, seltsam geduckt, streicht sich verlegen eine Strähne aus dem Gesicht – „… an ihre kaiserliche Hoheit Farah Diba geschrieben …“. Ulrike/Martina, verdruckst und zugleich geschmeichelt, flüstert: „Mach doch nicht wieder so ne Show draus.“ Röhl lockt: „Komm schon, pretty Baby!“ Zu den Gästen lauter: „Das wird in der nächsten Ausgabe der konkret erscheinen.“ Dann beginnt Ulrike/Martina im Film allen Ernstes, ihren eigenen, Artikel vorzulesen, pathetisch und unsicher. In Wirklichkeit war der Text längst veröffentlicht.

Die hochpolitische, selbstbewusste und intelligente Frau mutiert im Film zur emotional instabilen bürgerlichen Ehefrau mit ewig zitternder Unterlippe. In demütiger Körperhaltung lässt sie sich vom Gatten auf Partys vorführen wie eine Tanzbärin. Der Zweck: Ulrike Meinhof soll zu einer Figur gemacht werden, einer defekten Frau, die Baader und Ensslin vom ersten Moment an emotional unterlegen ist, damit Eichinger-Edel-Aust-Röhl sie zum Opfer der RAF machen können. Das enthebt sie der Verpflichtung, sich mit dem Denken Meinhofs, ihrer radikalen Gesellschaftskritik und auch ihren wirklichen Fehlern intellektuell auseinandersetzen zu müssen.

Am 7. Oktober 2016 wäre Ulrike Meinhof 82 Jahre alt geworden. Es ist nie zu spät, sich mit dem Menschen politisch auseinanderzusetzen, der sie wirklich war.

P.S.: Kürzlich attackierten einige böswillige, hasserfüllte Leute die „Terroristin“ und „Antisemitin“ Ulrike Meinhof und warfen mir allen Ernstes vor, das Buch überhaupt geschrieben zu haben. Der Druck, den diese nach rechts driftende Gesellschaft auch auf Leute ausübt, die sich für links halten, ist enorm. Aufklärung und kritisch-historische Gesellschaftsanalyse ist das Gegenmittel.

Quelle: https://www.facebook.com/jutta.ditfurth.5/posts/1842485652649815

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