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lathoUnd fein dass es hier weitergeht! Prima, Nick!
Danke – ich hoffe ich habe bald Zeit, die Schlagzahl noch mal etwas zu erhöhen!
10. The Angel of Terror (1922)
dt. Ausgabe „Der Engel des Schreckens“ erstmals 1931 bei Goldmann, Leipzig
Einen schwer aus der Zeit gefallenen Schurken hatten wir schon beim grünen Bogenschützen – Abel Bellamys archaische Maskulinität schien direkt aus dem finstersten Mittelalter zu stammen – hier ist der titelgebende Schreckensengel allerdings eine Frau und was für eine.
So sehr die Person Jean Briggerland als unübertroffene machiavellische Manipulatorin aus der Renaissance zu stammen scheint, so hochmodern ist wirkt sie heute als Frauenfigur in einem Roman aus dem frühen 20. Jahrhundert. Während sie mit ihrem selbstgefälligen, standesbewussten Vater dem Vermögen eines jungen Mädchens nachjagt, wird sie zunehmend zur alles einnehmenden Hauptfigur. Ein Plan ist niederträchtiger als der andere – da wird auch schon mal ein hochansteckendes, todkrankes Kind zum Nickerchen ins Bett des designierten Opfers verfrachtet – und dennoch kann man sich ,wie ihre Opfer, die nie hinter die freundliche, anziehende Oberfläche blicken wollen, ihrem Charme nicht entziehen.
Irgendwann geben ihre unzähligen wahnwitzigen Ideen sie gar als notorische Underachieverin zu erkennen, die anfängt einen ganzen Roman zu schreiben, nur um der treuherzigen Heroine einen Abschiedsbrief, ihren eigenen Abschiedsbrief, diktieren zu können. Danach verbrennt sie den Rest des Buches einfach und setzt den schönen Plan völlig in den Sand – was man mit dieser Energie und Schaffenskraft alles anfangen könnte… Nach der böswilligen Ausbeutung des Kindes äußert quasi sofort ungespielte Anteilnahme am Schicksal desselben; Gewalt ist ihr kein Genuss, sondern schlichtes Mittel zum Zweck, eine simple Notwendigkeit um nie wieder die Armut ihrer entbehrungsreichen Jugend erleben zu müssen.
Auch vom Standesdenken ihrer Freunde ist sie weit entfernt; auf den Rat ihres Vaters, das gemeinsame Einkommen durch die Ehe mit einem jungen Lord zu sichern, kann sie gut verzichten („He has his regimental pay and £500 a year, two estates, mortgaged, no brains and a title[…]“) und die schönste zwischenmenschliche Interaktion der gesamten Geschichte hat sie, zum Unmut fast aller Mitmenschen, mit einem schwarzen Mann, den sie beim Pläneschmieden am Strand aufliest. Dieser, ein afrikanischer Revolutionär, versteht als einziger ihre Weltsicht, weckt gar kurz romantische Gefühle in der zutiefst Beherrschten. Schön wie Wallace hier eine gänzlich ungewöhnliche Beziehung in Aussicht stellt, inklusive romantischen Strandspaziergängen und Malereien im Sand, noch schöner aber, dass er Jean und ihren einzigen wirklichen Freund tatsächlich wieder zusammenführt – gescheitert und auf der ganzen Welt steckbrieflich gesucht, strandet sie am Ende in Afrika und trifft dort wieder mit ihm zusammen; da steht sie dann, ohne Kohle, ohne Vater, aber endlich befreit vom Standesdenken der alten Heimat und mit einem Happy End, das die Dimensionen des wohlbewährten Wallaceschen Hochzeitsendes deutlich sprengt.
Hochinteressant ist im Übrigen auch, dass die weiblichen Charaktere, wie schon in „The Man Who was Nobody“, mit Eigenschaften versehen, die gerne als exklusiv männlich und ungemein nerdy aufgefasst werden: Jean studiert akribisch riesige Schwarten über die cleversten Verbrecher, katalogisiert die Schwächen ihrer Vorhaben und setzt das Gelernte für die eigenen um – ihr gutes Gegenstück zeichnet für Pulp-Magazine und träumt heimlich von den feschen Helden aus ihren Geschichten.
Und dann ist da noch diese wunderbare, vollkommen aus dem Blauen kommende Stelle:
„A few minutes later she was fast asleep. Not so Miss Briggerland, who was sitting up in bed, a cigarette between her lips, a heavy volume on her knees, reading: “Such malignant cases are almost without exception rapidly fatal, sometimes so early that no sign of the characteristic symptoms appear at all,” she read and, dropping the book on the floor, extinguished her cigarette on an alabaster tray, and settled herself to sleep. She was dozing when she remembered that she had forgotten to say her prayers. “Oh, damn!” said Jean, getting out reluctantly to kneel on the cold floor by the side of the bed.“
Mit dieser Farbenprächtigkeit können die Männer bei Wallace, dem heimlichen Feministen des britischen Kriminalromans, nie ganz mithalten. Riesig.
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We are all failures, at least the best of us are.