Antwort auf: Ich höre gerade … Jazz!

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vorgarten

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redbeansandriceich hab ja neulich tatsächlich erstmals in das Original 50er Jazzbuch reingeschaut, und da hat man noch alles drin, Fortschrittsglaube, diese heiss-kalt-heiss-kalt Abfolgen (die ja eigentlich nirgends so richtig passen, ausser vor und nach dem Cool Jazz… dass „Chicago“ etwas kühler ist, als Dixieland und New Orleans meinetwegen – aber irgendwie ist es auch einfach das gleiche Getröte nur von anderen Leuten, ähnlich wie Lee Morgan vs Art Farmer oder so), vermutlich auch den Gedanken, dass Jazz, Klassik und alle andere Musik sich demnächst zur Einheitsstilrichtung Third Stream vereinigt (aber da bin ich mir nicht sicher…).
die eine Theorie, die in den 80er Ausgaben relativ spurlos verschwunden war, war dieser Gedanken mit den schwarz oder weiß dominierten Hauptlinien … Also: man hat für jedes Instrument diese Entwicklungslinien, von Coleman Hawkins zu Ben Webster, von Lester Young zu Paul Quinichette, von Bud Freeman zu dem Typ, der bei Glenn Miller Tenor spielt… etc. Der Großteil findet jeweils intern unter schwarzen bzw weissen Musikern statt. Diese Entwicklungen sind links bzw rechts der Hauptlinie dargestellt. Die Hauptlinie beinhaltet Musiker, die soo einflussreich sind, dass ihr Einfluss auf beiden Seiten spürbar ist… Ich weiß nicht, ob es irgendwo so explizit drinsteht, aber die Vorstellung war scheinbar, dass auf dieser Hauptlinie bis zu einem gewissen Zeitpunkt schwarze Musiker stehen, die dann irgendwann auf der Hauptlinie durch weiße abgelöst werden (da gibt es dann immer so eine Fußnote im Diagramm), Benny Goodman bei der Klarinette, Stan Getz beim Tenorsaxophon, alles parallel zu dem Prozess, der den Third Stream endgültig ins Zentrum rückt, nehm ich an… bei einigen Instrumenten war dieser schwarzweiß Wechsel auch zu der Zeit, als das Buch verfasst wurde, noch gar nicht passiert… (Und bei den meisten war die Theorie so ca 1959 endgültig reif für die Insel…)
Diese Gruppierung der Musiker nach Hautfarben haben aber auch die späteren Jazzbücher noch recht deutlich (und spätestens irgendwo in den 60er Jahren hört das endgültig auf, Sinn zu machen)

ich weiß nicht genau, ob ich das richtig verstehe – dir geht es um die historischen kategorisierungsversuche heiß/kalt, schwarz/weiß usw. als dialektisches wechselprogramm – und das sowas irgendwann als quatsch begriffen wird? ich meinte mit heiß/kalt in bezug auf mangelsdorff natürlich keine stilkategorie, eher offene konzepte, was spielweise, ton, energie angeht – das ist natürlich auf andere weise quatsch; außerdem wurde das auch bestimmt so verstanden.
mein frühestes „jazzbuch“ ist das von 1959 (danach habe ich noch die ausgabe aus den 70ern), da finde ich behrendts differenzierung, bei allen schwarzweiß-verhaftungen und n-worten ziemlich interessant. das war ja eher geschrieben gegen die auffassung, jazz sei an sich weniger wert als europäische klassik, um gleichzeitig eine jazzdefinition zu versuchen, die sich von kriterien löst, die auf europäische klassik angewendet werden. behrendt war ja immer ein anwalt des hybriden – das aus dem zusammentreffen von schwarz und weiß etwas entstanden ist, dass weder in afrika noch in europa hätte entstehen können, das aber im wesentlichen eine kulturleistung der afroamerikanischen szenen ist. dabei interessiert ihn natürlich weniger die sozialgeschichte, d.h. wann etwas musikalisches nur in einzelnen szenen zirkuliert und wann es darüber hinaus aufgegriffen wird. schwarz und weiß wären hier weniger ein hautfarbensystem, eher eins der tatsächlichen segregierungen (ich wundere mich ja immer wieder, wenn ich höre, dass selbst leute wie coleman oder osby erst im musikstudium mit über 20 die ersten „weißen“ musiker kennen gelernt haben; david murray hat sich unter seinen peers immer als außenseiter verstanden, weil er als einziger auf eine ethnisch diversifizierte schule gegangen ist).

interessant fand ich, dass behrendt 1959 einen ausblick auf „jazz um 1970“ wagt und prognostiziert: auflösung der phrase (motiv ist nicht mehr an den grundrhythmus gebunden) und auflösung der harmonik – und da kannte er ornette coleman noch nicht…

und: er schreibt vom „vorwurf einer gewissen ‚feminität'“ dem geschmeidigen spiel chet bakers gegenüber, wo ich die einfachen anführungsstriche einen ziemlich billigen trick finde…

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